In memoriam Philipp Harnoncourt (1931–2020)
Von Philipp Harnoncourt wird ein dreiseitiges Gebäude bleiben, das sich mitten von modernen Straßenbrücken beim Verkehrsknotenpunkt Bruck an der Mur befindet: Die „Heiligen Geist Kapelle“, aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, ursprünglich der Heiligen Dreifaltigkeit geweiht. Ein einzigartiges Kulturdenkmal aus dieser Zeit in Europa. Er hat es gerettet. Sie wird am Dreifaltigkeitssonntag, den 7. Juni 2020, im kleinen Kreis (und gleichzeitig online) eröffnet. Ihr hat er die letzten 9 Jahre seines Lebens gewidmet – mit der ganzen Hingabe, die ihm eigen war, mit unzähligen Vorträgen, Power-Points, wissenschaftlichen Artikeln, nervigen Geldgeschichten. Er ließ nicht locker. Er begann dieses Projekt als „Geschwister Harnoncourt“-Projekt. Sie haben es alle unterstützt. Sie, das waren Nikolaus, Philipp, Karl, Franz und die Schwestern Alice und Lily.
Es ist hier nicht der Ort, deren Geschichte zu erzählen. Wohl aber den Satz in Erinnerung zu rufen, mit dem er sein Rettungsprojekt begonnen hat: „Diese Kapelle hat keinen Nutzen, aber sie ist voller Sinn.“ Sie sollte als Ort der „Bewahrung der Schöpfung“ eine neue Sinnbestimmung bekommen, mitten im hastigen Bewegungsdrang einer globalisierten beschleunigten, gehetzten Welt.
Begonnen hat dieses unbeschreiblich zu nennende „Sanierungsprojekt“ der Heiligen Geist Kapelle in Bruck vor neun Jahren mit einem riesigen Kunstprojekt, das Philipp Harnoncourt Anlässlich seines 80. Geburtstages im Kulturzentrum bei den Minoriten durchgeführt hat. Ein Kunst- und Literaturwettbewerb, Aufträge in Neuer Musik und in Tanz zum Thema „1+1+1=1 Trinität“, begleitet von einem wissenschaftlichen Symposium, das mit einer Exkursion zu ausgewählten Dreifaltigkeitsbildern endete, darunter dieses vollkommen heruntergekommene Gebäude, das Mitte der 1970er Jahre selbst von Obdachlosen verlassen wurde. Nun, 10 Tage nach seinem Tod, wird es offiziell eröffnet – schon seit einem Jahr leuchtet dieses Gebäude am Abend geheimnisvoll für alle vorbeiziehenden Autofahrer.
Philipp Harnoncourt war auf seine Weise souverän. Und rebellisch. Das ist freilich nicht so einfach zu erzählen, war er doch in eine Familien-Kultur hineingewachsen, wo einem als Kind der Kreisky-Generation, die mit dem Bewusstsein aufgewachsen war, dass alle Menschen gleich seien, nach und nach der Mund offenblieb.
Nennen wir die entscheidenden Kindheitsstufen: 1931 Geboren in Berlin. Sein hochmusikalischer Vater wurde ein Opfer der Weltwirtschaftskrise, die Familie verarmt. Dabei hatte dieser noch vor dem 1. Weltkrieg bei der k.u.k. Kriegsmarine begonnen, weil er glaubte, in der dortigen Militär-Kapelle einen Ort für seine musikalischen Neigungen zu finden. Doch dann kam der Krieg und die Zeit danach. „Flucht“ nach Graz ins Palais Meran, wo die Familie beim Großvater Aufnahme fand. Dazwischen immer wieder die Sommeraufenthalte im Brandhof des Erzherzogs Johann, wo die teilweise kaum schulpflichtigen Cousinen und Cousins (40 sollen es gewesen sein) bereits Mozart-Opern aufgeführt haben. Engste Beziehung, auch in musikalischer Hinsicht, zu seinem um ein Jahr älteren Bruder Nikolaus. Philipp war der Violonist. Als die Nationalsozialisten kamen: Rauswurf aus dem Palais. Übersiedelung in eine kleine Wohnung in Geidorf. Zu Kriegsende Übersiedelung nach Grundlsee. Ausgerechnet Grundlsee. Dort wird Philipp Harnoncourt auch die letzten Tage seines Lebens zugebracht haben. Und ausgerechnet dort machte Philipp entscheidende Erfahrungen des Widerstands gegenüber den Nationalsozialisten. Seine Geschichten darüber sind unvergesslich, etwa wie sich der Sturmbandführer im Grundlsee ertränkte – und seine Frau ihm nahegelegt hatte, wenigstens das alte Boot dafür zu nehmen...
Mit 17 entschied der hochfromme, musikalisch begabte junge Philipp, Priester zu werden. Auch mehr als 60 Jahre später wusste er noch Tag und Uhrzeit seiner Entscheidung im Dom zu Graz zu erzählen. Doch einmal geweiht (1954!) war das sicher nicht ganz einfach, so einfach für den aus ganz anderen Erziehungskontexten stammende Jungpriester förmlich ins Land hineingeworfen zu werden, wo man den Dialekt erst einmal lernen musste, etwa beim Abhören der Beichte. Südsteirisch und slowenisch klangen ohnehin gleich für ihn. 60 Jahre später erzählte Philipp Harnoncourt solche Erfahrungen beim steirischen Maler Gerald Brettschuh im südsteirischen Arnfels, wo er auch Kaplan gewesen war.
Dann, durchaus logisch für derartig begabte priesterliche Jungmänner: Persönlicher Sekretär beim damals jungen Bischof Josef Schoiswohl. So wusste er um die Höhen und Tiefen jener Zeit, die später zum Rücktritt des Bischofs führten, durchaus im engsten Sinne Bescheid. Dabei hatte man ihm vor seiner Weihe von Seiten der damaligen Leitung des Priesterseminars zu viel Fortschrittsgeist bekundet, im Priesterseminar soll es schwierig gewesen sein für ihn. Seine Dissertation legte er schließlich beim Nestor der Liturgiewissenschaften in München, Josef Pascher, ab.
Schließlich ging es in jenen "Anfangsjahren" Schlag auf Schlag: Das, was man später „Karriere“ nennen sollte, wurde dabei grundgelegt. Das Institut für Kirchenmusik an der jetzigen Kunstuniversität Graz (dem Ort seiner Kindheit!) gründete Philipp Harnoncourt 1963. Das Institut für Liturgiewissenschaft, christliche Kunst und Hymnologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät gründete Philipp Harnoncourt 1972. Er hatte sich in Liturgiewissenschaft habilitiert. Dessen Institutionsleiter blieb er bis zu seiner Emeritierung 1999. Und die „Einführung in die Liturgiewissenschaft“ war jene Vorlesung, die junge Theologinnen und Theologen über Generationen unisono am meisten faszinierte. Das war eine Theologie, die verständlich war. Der man zuhören konnte. Die einleuchtend erschien. Die zu faszinieren vermochte. Philipp Harnoncourt zuzuhören war ein Genuss. Seine schöne, gewählte Sprache! Seine, aus dem Stand heraus formulierten Sätze vor großem Publikum! Unvergesslich. Angesichts dieser Leistung und seiner internationalen Reputation als Liturgiewissenschaftler war es freilich auch in einem gewissen Sinne kaum nachvollziehbar, dass Philipp Harnoncourt wissenschaftlich relativ wenig Bücher publizierte – (selbst wenn es insgesamt laut Wikipedia 550 Einzelartikel waren). Ausgerechnet als Kalenderspezialist sollte er eingehen. Später sollte Philipp Harnoncourt mir oft erzählen, wie sehr er für sein Vermitteln von Wissenschaft und Theologie das lebendige Publikum gebraucht hatte. (Dies – die Notwendigkeit von leiblichen ZuhörerInnen – teilte er auch mit Bischof Johann Weber als Prediger, der nur wenige Tage vor ihm gestorben ist.)
Seinen Studierenden war Philipp Harnoncourt ein unermüdlicher Kämpfer, Erklärer, Verfechter der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils. Aufgrund seiner Kompetenz hatte man in der Diözese Graz-Seckau auch den Eindruck, dass eine wirklich hochentwickelte Liturgie des II. Vatikanischen Konzils hier ihr Epizentrum hatte. Das ist ohne Zweifel Philipp Harnoncourt zu verdanken – und freilich auch Bischof Johann Weber, der derartige Auslagerungen von Kompetenzen seines Bischofsamtes überhaupt erst möglich machte. Auch die Gründung der Liturgie- und Kunstkommission geht auf Philipp Harnoncourt zurück. Und damit auch die Tatsache, dass in der Diözese Graz-Seckau besonders gelungene Altarraumneugestaltungen aufzufinden sind.
Philipp Harnoncourt war als Professor nicht nur geschätzt, sondern auch gefürchtet. Das Notenspektrum – auch bei Dissertationen! – lag bei ihm zwischen Eins und Fünf. Priesterseminaristen hatten grundsätzlich einen Startnachteil bei den ersten Prüfungen zu den doch so genossenen Vorlesungen zur Einführung in die Liturgiewissenschaft. Mehr als ein „Gut“ war nicht drinnen. Sie sollten erst einmal ordentlich Hochdeutsch sprechen lernen!
Doch Philipp Harnoncourt war nicht nur ein Liturgiewissenschaftler. Philipp Harnoncourt war ein im historischen Kulturkreis der ehemaligen Donaumonarchie denkender Wissenschaftler. Unvergesslich ist seine Vorlesung zu den ehemaligen Ostblockländern, die er im Jahr der Wende 1989 gehalten hat. Unvergesslich für so viele ehemalige Studierende auch die Exkursionen seines Instituts, wo er diesen erst einmal beibrachte, in den Städten nicht nach unten, sondern nach oben zu schauen – um den Horizont zu weiten. Er wollte Horizonte weiten, Grenzen öffnen und zwar aus innerstem Antrieb heraus. Mit Tränen in den Augen berichtete er von seinen Vorlesungen aus Rumänien mit Hunderten von Zuhörern, während sich die Vorlesungssäle in Graz mehr und mehr leerten.
Mit seinem Blick in den Osten verband sich auch sein unermüdliches Engagement in der Stiftung pro Oriente, wo er seit 1986 in der Grazer Sektion mitgearbeitet hat und deren Ehrenvorsitzender er bis zu seinem Tode war. Zahlreiche Reisen und Exkursionen, Vorträge und Symposien sind mit dieser Tätigkeit verbunden. Sein Blick auf die Ostkirche war ihm ein besonderes, vor allem aber ein ökumenisches Anliegen. Radikal war er inpuncto Ökumene am Abend seines Lebens: Er begann mit seinem "Eucharistiefasten", das er so lange weiter führen wollte, bis in dieser Hinsicht endlich etwas weiter gehen würde.
In einem dieser Aktivitäten ist mir Philipp Harnoncourt lange nach seiner Emeritierung besonders nahe geworden, die zu einer langen Freundschaft geführt hat. Der Berg Athos war für ihn ein besonderer Sehnsuchtsort orthodoxer Spiritualität. Als ein Großteil des Klostergebäudes abbrannte, begann er seine erste Benefizaktion, die er im Minoritensaal mit dem großartigen Arnold-Schönberg-Chor durchführte. Ich hatte ihn dabei unterstützt. Er war so dankbar dafür. Das Kloster konnte wieder aufgebaute werden – dank Philipp Harnoncourt.
(Gut, auf den Berg Athos dürfen nur die Männer. Später sollte der Prälat Philipp Harnoncourt vor einem Kunstwerk sich ablichten lassen, das genau den Männerverein kritisiert.)
- Der Prälat Philipp Harnoncourt mit dem Birett des Domherrn vor dem "Einwand" des "Männervereins" von Fritz Ganser beim Kunstprojekt zur Trinität im KULTUM 2011.
Wenige Jahre später sollte sein Geburtstagsprojekt zu seinem 80. Geburtstag folgen: „1+1+1=1 Trinität“. Wortreich erklärte er mir damals, die Theologie sei ihm zu langweilig geworden. Er erwarte sich nicht mehr viel von ihr. Das Neue erwarte er von der Kunst! Sein persönliches „Steckenpferd“ sei die Sammlung von Trinitätsbildern geworden. Doch wie sieht die Kunst sein zentrales Geheimnis seines Lebens, auf das er als 17-Jähriger noch einmal ganz gesetzt hatte, heute? Und so redete er mir den Mund voll, dass heutige Künstler etwas zum Gottesbild machen sollten. Doch ich winkte ab. „Das geht nicht mehr, Philipp!“ Aber seine Beharrlichkeit schien keine Grenzen zu haben. Ich lenkte ein. Und so haben wir es gemacht! Ausstellung, Literatur, Tanz, Neue Musik. Das ganze Geld, das ihm von seiner Familie und seinen Freunden zu seinem 80er geschenkt worden war, floss in dieses Projekt und in die Kunstpreise. Es war sozusagen das erste Mal in der Geschichte unseres Kulturzentrums, dass wir „professionell“ arbeiten konnten. Die Rezeption war enorm. Genüsslich erwähnte er beim Eintreten des großen Erfolges mein anfängliches Zögern. (Das freilich anfänglich nicht von Hand zu weisen war…) Ja, so müsste man es machen in puncto Kulturfähigkeit der Kirche! Etwas mehr Selbstbewusstsein! Etwas mehr Vertrauen in die Kraft des Geistes! Philipp Harnoncourt hat damals gezeigt, was man für die Zukunft tun könnte.
- Philipp Harnoncourt, mit dem Kölner Bildtheologen Alex Stock (1937-2016) bei der Eröffnung zu 1+1+1=1" im Minoritensaal.
- Philipp Harnoncourt beim Kunstprojekt zur Trinität mit dem Künstler Markus Wilfling und der Künstlerin Caroline Heider, den beiden PreisträgerInnen.
Das darauffolgende „Projekt“ war die Rettung der „Heiligen Geist Kapelle“.
Zu seinem 90. Geburtstag wollte Philipp Harnoncourt, als es ihm noch gesundheitlich besser ging, erneut ein Projekt beginnen: Statt einer Festschrift wollte er seinen zahlreichen Freunden und WegbegleiterInnen eine Frage mitgeben, die da hieß: "Habt Ihr verstanden, was ich euch mitteilen wollte?"
Philipp Harnoncourt hatte schon seit Jahren mit dem Atem zu kämpfen. Er ließ sich nicht ausgrenzen deswegen. Er nahm, so lang es ihm irgendwie möglich war, am öffentlichen Leben teil. Sein Sauerstoffgerät ging dabei mit. Das letzte Mal, als er im Kulturzentrum bei den Minoriten zu Gast war, war jene Stunde, als in Paris die Notre Dame brannte. Das war im Vorjahr, am Montag in der Karwoche. „Schonungslos zärtlich“– das Buch seines Freundes Hubert Gaisbauer, wurde dabei von ihm und dem Autor vorgestellt.
- Philipp Harnoncourt, schon mit Sauerstoffunterstützung bei der Buchvorstellung von Hubert Gaisbauer in der Karwoche 2019 im KULTUM.
Er wollte das unbedingt.
So war vermutlich auch sein Glaube an seinen dreifaltigen Gott.
Möge er sich ihm – in aeternam – so zeigen!
Wir werden Philipp Harnoncourt im Kulturzentrum bei den Minoriten ein bleibendes Gedenken bewahren. Für mich persönlich ist ein großer Freund verstummt. Er hat mir voriges Jahr sein Auto – einfach so – geschenkt. Mit diesem waren wir 2011 nach Mailand zu einem Kongress gefahren. Es waren unvergessliche Erzählungen. Und diese bleiben. Philipps Zutrauen in das Wort bleibt. Und das Bild des unterstützenden Atems: Er ist in einer Zeit gestorben, als die ganze Welt sich vor diesem zu fürchten scheint. Von seinem Namenspatron, dem Apostel Roms, wird erzählt, das sein übergroßes Herz von Weitem sichtbar war. Mögen Sie einander heute – und noch oft – treffen!
Graz, 26. Mai 2020 Johannes Rauchenberger