Die Lebenden sind weg,/selbst die Bussarde./
Nur ich bin da und die Weinstöcke/und du und Heinrich von Kleist.
(Olga Martynova)
Auch Olga Martynovas Gedichtband „Such nach dem Namen des Windes“ (S. Fischer, 2024) tastet sich über den Rand des Lebendigen hinaus und eröffnet mit der literarischen Tradition einen orphischen Raum für Trauer und Verlust, Krieg und Befragung, Wut und Bewunderung. Sie legt ein zutiefst berührendes dichterisches Zeugnis ab, nicht zuletzt, weil es ihr erster Gedichtband ist, den sie nach dem Tod ihres Mannes Oleg Jurjew, nicht mehr in russischer Sprache schrieb.
Herzzerreißend sind diese Begegnungen und reichen von nacktem rohem Schmerz bis zu sublimierter Verarbeitung von Trauerbewältigung und Trost. „Wir waren einander Mond und Sterne, Wein und Brot, Erde und Feuer, Wasser und Luft, Glatteis und Rad, Minuten und Zifferblatt, Regen und Wurm, Fliegen und Frösche, Bau-, Gold- und Jauchegruben, Funktürme und Turmfalken, Ekzem und Balsam, Krähe und Aug, Durst und Suff, U-Bahnen und Eselsbrücken. Es gebe all das nicht mehr, wollte ich sagen, aber alles ist komischerweise noch da, voneinander getrennt, doch ineinander verfangen (wie wir jetzt), todsicher beides.“
Unermüdlich klopfen ihre Gedichte die Welt ab auf der Suche nach Überbleibseln, Abbildern, Wiedergängern und Reinkarnationen, stellen existentielle Fragen nach dem, was bleibt. Wach, geduldig und ohne Erwartungen will dieser Band gelesen werden. Dann wird er zum großen Leseglück und zu einer wahren Erweiterung im Labyrinth des Lebens.