Der doppelte Gast: Ulrich Koch und Thomas Kunst
EINE WOLKE TRAT AUF MICH!
Zum Gedichtband „Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“ von Ulrich Koch
Zwischen Nacht und Tag, odi et amo, heißt es an einer Stelle in diesem neuen Gedichtband von Ulrich Koch. Und an einer anderen (aus demselben Gedicht, das den Titel SELFIE trägt): Seit je gegen das Nichtschreiben angeschrieben (…) und ich will fragen: Ist es denn gelungen? Aber die Frage findet kaum Platz zwischen Tag und Nacht und seit je! Also hake ich sprichwörtlich im 85. Catull-Gedicht ein, dem so bekannten Liebesgedicht aus der Antike, das aus der geringsten Anzahl von Versen besteht, die überhaupt möglich ist (damit ein Gedicht ein Gedicht und nicht doch ein Epigramm ist): aus einem einzigen Distichon. Es lautet: Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris./nescio, sed fieri/sentio et excrucior. (Ich hasse und liebe. Wieso ich das tue, fragst du vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich spüre bloß, es ist da – und es quält mich furchtbar.) Auf dieses Wort also, auf excrucior, läuft das ganze Gedicht zu, und zwar, wie mir scheint, weil es das Ende vom Anfang, wie wohl auch der Anfang vom Ende ist: Der Anfang aber lautet hier: Odi et amo! Und dieses Bekenntnis ist so rätselhaft, so erstaunlich, dass es nach einer Erwiderung bedarf. Und diese Erwiderung lautet excrucior. Der Schleier aber, der auf diesem Catull-Gedicht liegt, ist aus einem rhythmischen, fein durchwirkten Stoff gewebt: odi et amo und excrucior stimmen metrisch überein.
Wenn einmal DAS SO und NICHT ANDERS entdeckt erscheint, ergibt sich nach diesem Ich weiß es nicht. Ich spüre bloß, es ist da (…) unweigerlich die Konsequenz der PEIN. Dieses unglaubliche Catull-Gedicht ist also nicht nur Analyse, es enthält ein Geschehen, ja es IST dieses Geschehen selbst und auch die GLAUBWÜRDIGKEIT dieses Geschehens, welche bei jedem neuen Lesen wieder frisch dasteht, beruhend auf der unausweichlichen Architektonik seines Aufbaus. Unter dieser ARCHITEKTONIK, dieser „Mutter aller Künste“, meine ich auch Ulrich Koch hocken zu sehen. Alle diese Gedichte im Band „Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“ beantworten in immer neuen Anläufen diese Fragen: Wieso ich das tue? Warum und Wo und Wie, aber auch Wann, aber auch WIESO NICHT? Dass Ulrich Kochs lyrisches Ich ein Ich ist, das „Ich hasse und liebe“, bekennt und ebenso erkennt, wie einsam es ist. Eine Notiz lautet: Einsamkeit: Die erste Person Singular ist in der Mehrzahl. Kochs Gedichte überzeugen vor allem kraft ihrer Sprachbilder, die hier die SAITEN der Metrik zum Leuchten bringen – ja, Klang ist Licht, Rhythmus ist Kraft. Die Sprache ist eine Möglichkeit zu existieren. Die Möglichkeit aber ist ein Bild. Und es gelingt Ulrich Koch, die Sprache selbst zu bebildern; ich meine, nicht die Sprache spricht hier in Bildern, sondern hier ist einer, der die Sprache bildet. Etwas also geschieht, was auf unglaublich schöne Art und Weise den Alltag, das Hinterland mit den Eisenbahnübergängen, die Fahrradständer, so auch uns – also wir die Ermüdungsbrüche der Gegenwart „mustert“. Man müsste Ulrich Koch also nicht fragen, was zuerst DA war: die Henne oder das Ei. Man sollte ihn fragen: Was war zuerst DA: Das Ei oder die Zeit? Schreib ein Wort, so was wie schade./Schreib es, niemand liest es./Schließ die Augen. Atme./Hier ist es! Endlich! Genieß es!/Die Null. Dein Ei, in dem du brütest (…). Diese Gedichte beflügeln auf eigentümliche Weise und sie beflügeln außergewöhnlich. Immer wieder fallen Bilder wie: Das Innere einer Amsel,/die das Lied zu Ende raucht/bis zum Filter ihres Schnabels. Es ist, als würde er den einfachen, den allereinfachsten Dingen ein Licht an den Kopf werfen, ihnen gar einen Narren in die Arme legen, sie preisen, als könne er ihnen mit ganzem Herzen etwas vergelten. In Kurzform (Titel eines Gedichts) vielleicht: Kahlgeschoren auf die Welt/gekommen, Wasser in den Ohren,/als hätte ich schon vorher Bach gehört (…). Nicht auszumalen, wie ich aussehen würde, wenn ich schon vorher Schubert oder Mozart gehört hätte … Wie dankbar ich Ulrich Koch für DIESE, SEINE GEDICHTE bin!
JA SO SPRACH ER UND SCHNITT EIN STÜCK VON DEN GITARREN WEG
Zum Gedichtband „Kolonien und Manschettenknöpfe“
von Thomas Kunst
Von einem Gedichtband geht in dem Moment ein Schimmer aus, wenn mich der Titel auf das Heftigste irritiert. Hier etwa hatte ich es mit Kolonien und Manschettenknöpfen zu tun: Als Kind hatte ich diese kleinen, meist goldenen Dinger in Verdacht, dass sie Überbleibsel eines fernen Schatzes waren. (Heute erinnern sie mich an Hörgeräte, an die Schwerhörigkeit weißer, steifer Hemden.) Beim Wort „Kolonie“ sitze ich bis heute einer akustischen Täuschung auf und halte es für einen Land im Bauchraum.
Dieser Gedichtbandtitel versprach also vom ersten Augenblick an nüchternes Metapherngeflimmer zwischen beruhigter Normalsprache und zärtlichen Obertönen. Um diesen Thomas Kunst, ich gebe zu, schlich ich seit Jahren, was ja an sich völlig unmöglich ist, denn es ist schwer, in der Nähe eines Wirbels Fuß zu fassen und wenn es denn doch gelänge, dann wohl nur in großer Entfernung zu diesem. Aber ich hatte zumindest einen Blick geworfen auf diesen Babelbold, diesen Rumpelprinzen, diesen Karussellheiligen, diesen Fährmann, der noch Handtücher verteilt an die Toten, ich meine, der willig erscheint, die Milchmädchenrechnung zu übernehmen, etwa wenn er schreibt: Die Dunkelheit unserer Sprache vor dem Milcheinschuß.
Thomas Kunst dichtet, dennoch dichtet einer wie er nicht ab und er kopiert nicht, ein bisschen von allem gibt es bei ihm nicht. Er ist in seinen Langgedichten und Sonetten eine Naturgewalt, ja eine Klasse für sich sind diese Sonette, die dem ganzen Gedichtband gleichsam einen Rhythmus geben. Wer sich mit Sonetten bei keinem Reim quält, sondern mit ihnen tanzt, der kann nicht nur improvisieren, der beherrscht auch die Form. „Kolonien und Manschettenknöpfe“ ist sein zehnter Gedichtband. Wie ein solcher Sprachberserker allerdings bis heute es schafft, unter den Schemeln des literarischen Salonbetriebs sein Ausgedinge zu finden, bleibt ein Betriebsgeheimnis. Es verwundert daher nicht, dass Thomas Kunst in diesem Band auch solche ironischen Verse schreibt:
WER JETZT NICHT STIRBT, BEHINDERT BESTENLISTEN./Familien, Türme, Tote, DDR./Verkürzt gesagt, ein Plot muß ungefähr/Performencetauglich sein für Visagisten. Bereits ein äußerst sparsames Blättern genügt und man begegnet einem Schmetterling im Wolfspelz, oder aber man ruht in Orpheus‘ Armen wie ein Stein. Ein Dichter, völlig offen für die Welt, hochsensibel, wie hochpolitisch: VÖLKERWANDERUNG BESCHÄMENDER REGIERUNGEN, (…) oder BEGLEITFAHRZEUGE, STAUB IN GANZEN SÄTZEN, (…) lässt die Reptilien singen. Oder aber er ruft zu einer Fingerwäsche: (…), ich bin für die Wiedererkennung von Rudimenten/Auf einem abgewaschenen Kontinent, das wechselseitige Baden der/Oberen Fingergelenke, die Konferenz der/Jahrhunderte, Starrsinn und/Bauchseite, Rest und/Geschichte. Gästelisten werden ebenso erstellt mit Namen von Lebewesen, die erst nachträglich auf diese Liste gekommen sind, wie unser kleiner Trompeter, komische Vögel, auffällig wenige Begleitpersonen, Jahrtausende Weggeschmolzenen Schnees ebenso wie Zypressen mit Würmern an den Füßen.
Es leben Tom Knopf, der Wundbrand und die Heilung, die Gitarre und die Kunst-Kolonie für Aussätzige, ich meine damit, sie steht wohl all jenen herzlich offen, die diesen Novalis-Satz unterschreiben würden: „Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem“. Wer jetzt nicht liest, den überfährt die Lok!
Barbara Rauchenberger