OBJECTS OF MEMORY: SIMON LEV
„Du hast die Shoah und eine traumatische Kindheit überlebt, habe ich ihm einmal gesagt. Du hast bei Null wieder angefangen, hast dir international einen Namen gemacht und eine wunderbare Familie gegründet, nachdem das alles baden gegangen ist. Du solltest stolz auf dich sein.“
Doch so einfach ist das nicht. Weder für den 2004 verstorbenen Vater noch für den Sohn, der mit diesem Schatten fertig werden muss: Der israelische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler Shimon Lev arbeitet mit Fotos, Interviews, Objekten, Videos. Seit den frühen 1990er Jahren arbeitet er kontinuierlich an einem Projekt, das sich mit seinem Familienhintergrund, gleichsam mit Familienerinnerungen, beschäftigt. Die Ausstellung im Kulturzentrum bei den Minoriten zeigt Fotos jener beiden Wohnungen aus Wien und Berlin, die sein Vater als Kind bewohnt hatte. Sie zeigt den alten jüdischen Friedhof in der Seehofgasse in Wien. Sie zeigt die Buchrücken der Sterbebücher von Wien aus den Jahren 1925-1935.
In einer Doppelprojektion im Cubus werden Bewohner des Berliner Hauses seiner Großeltern gezeigt. Die Bewohner lesen persönliche Briefe der Familie Löw vor, die in diesem Haus einst geschrieben worden waren.
Sie befinden sich dabei in dem Haus, das Levs Großeltern 1943 für immer verlassen mussten: Am 17. Mai des Jahres 1943 wurden sie nach Auschwitz deportiert. Im gegenüberliegenden Video folgen wir stummen Schritten auf diesem letzten Weg durch die Stadt. Sie führen uns vom Standort der Synagoge in der Berliner Levetzowstraße zum Bahnhof. Die Synagoge war 1941 von den Nazis zum Sammellager für Berliner Juden gemacht worden. Der Weg zum Bahnhof war der Weg zur Deportation in den Osten. Ein Weg, der verstummen lässt. Die Synagoge steht nicht mehr, sie wurde nach dem Krieg zerstört. An ihrer Stelle erinnert seit 1988 ein Mahnmal an das Unrecht, das hier verübt wurde.
In einem 4. Raum der Ausstellung zeigt ein Video mit Yariv Lapid, der im Kibbutz Ayelet HaShahar als Sohn von Cherut Lapid geboren wurde, der sich zeitlebens für die Resozialisierung von Häftlingen eingesetzt hat. Im Jahr 2006 wurde Yariv Lapid von der österreichischen Regierung gebeten, ein pädagogisches Konzept für das Konzentrationslager Mauthausen zu entwickeln. Sechs Jahre lang lebte er zusammen mit seiner Familie bis 2013 in Österreich. Dieses Gespräch wurde wenige Wochen vor Abschluß seines Bildungsauftrages in Mauthausen und seiner Rückkehr nach Israel geführt: Es trägt den Titel: „Was hat das mit mir zu tun?“
Diese Ausstellung ist keine übliche Ausstellung in der Kategorie „Gedächtniskunst“, vielmehr beginnt sie mit einem selbstkritischen Blick als Israeli: der erste Raum zeigt gleich ein Dorf in Israel, das einer palästinensischen Siedlung nachgebaut ist: Es ist aber nicht bewohnt, die Gebäude sind aus Pappe: Als Soldat, der er auch war, lernt man darauf zu schießen. Wie sich so zu seiner langen Vergangenheit verhalten?
Geniza 7, Mixed Technique, 2000 - 2007, KULTUMdepot Graz, from: Shimon Lev: OBJECTS OF MEMORY (2014)
Aber so einfach ist die Sache nicht. Auch Shimon Lev kann und will sich der Last der Geschichte nicht entledigen, einer Geschichte, die bei ihm sogar viel länger zurückgeht als in der Auslöschung der gesamten Stammbaum-Familie durch die Nazis. In Form von Gesprächen, Interviews, dokumentarischen Fotos nähert er sich dieser Spurensuche an. Und macht seine Geschichte zu einer allgemeinen Fragestellung. Er erinnert sich an ein Gespräch mit seiner Mutter mit den zunehmend kritisch gewordenen Kindern:
„Euer Vater trägt eine schwere Last auf dem Buckel. Das siehst du mit deiner billigen Psychologie viel zu platt. Dann begreifst du irgendwann, dass Vater aus einer elf Generationen alten Rabbinerfamilie stammt. Nachts hat er uns von seinem Onkel erzählt, der den gesamten Talmud auswendig konnte. Ganz gleich auf welche Gemarra-Stelle man zeigte, er konnte jeden Traktat, jede Seite, jede Zeile auswendig aufsagen. Die Shoah hat all das beendet und die gesamte Familie ausgelöscht. Er ist als Einziger am Leben geblieben und hat einen neuen Weg eingeschlagen – den der Wissenschaften.“
Elf Generationen lang waren die Väter seines Vaters Rabbiner! Man sagt es so leicht: die untergegangene Welt der Chassidim. Auch sein eigener Großvater war wie viele Ostjuden nach der Katastrophe des 1. Weltkrieges aus Ost-Polen nach Wien emigriert. Im Jüdischen Friedhof in Wien sind seine Großeltern begraben. Man sieht die heutige Ansicht in der Ausstellung.
Shimon Levs Vater durchbrach diese Folge. Und doch machte dieser sich jeden Tag Vorwürfe, dass seine eigenen Kinder nicht religiös seien:
„Für eure Mutter ist es nicht leicht gewesen, religiös zu werden. Ihre gesamte Familie, auch die Universität war dagegen. Der gesellschaftliche Druck war enorm. Hoffentlich hasst ihr die Religiösen wenigstens nicht, selbst da bin ich mir nicht mehr sicher. Wenn ich höre, wie ihr manchmal über euren Staat redet. Wir haben auf den Wohlstand in den USA verzichtet. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich wahrscheinlich einen Nobelpreis bekommen. Und nun sprechen meine Kinder über den Staat, als wäre er das Letzte. Das stört mich. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass Shimon und Nachum nicht irgendwann eine Nichtjüdin heiraten werden.“
Das ist ein Erinnerungsfragment an seinen Vater William Löw, 1922 in Wien geboren. Später wurde er in Amerika Physiker, er arbeitete mit einem Nobelpreisträger zusammen. Er wanderte nach Israel aus und nahm den Namen Ze’ev Lev an. Als 12-Jähriger übersiedelte seine Familie tragischer Weise nach Berlin. Am 17. Mai 1943 wurde die Familie in ihrer Wohnung in der Thomasiusstraße 11 entdeckt und beim 38. Transport Öst nach Auschwitz deportiert, wo seine Eltern und auch seine Schwester ermordet wurden. Er selbst entkam als einziger, weil er kurz vorher als 16-Jähriger nach England zum Studienaufenthalt geschickt wurde.
Bereits 1938 entgingen sie knapp der Verhaftung. Sein Vater erinnerte sich:
„In jener Nacht war ich auf der Geburtstagsfeier eines Mitschülers. Hans Clark. Er stammte aus einer alten deutsch-jüdischen, leicht assimilierten Familie. Plötzlich klingelte das Telefon: Die Deutschen nehmen Juden fest, zerstören ihre Läden und stecken Synagogen in Brand. Der Vater von Hans meinte, wir sollten so schnell wie möglich nach Hause. Ich war clever genug und rief meine Eltern an. Sie sollten sich verstecken. Wo? Hatte meine Mutter gefragt. Ich sollte sofort nach Hause kommen. Zusammen mit einem Freund nahm ich die Straßenbahn. Um uns nicht als Juden erkennen zu geben, nahmen wir unsere Mützen ab. Durch die Fenster sahen wir in Flammen stehende Synagogen. Als ich Zuhause ankam, war es bereits dunkel – es muß so um acht, neun Uhr abends gewesen sein. Als Mutter mich sah, schubste sie mich sofort wieder aus der Wohnung. ‚Geh auf die Straße. Komm nicht rein. Warte draußen auf uns.‘ Da bin ich armes Kind ein, zwei Stunden in der Kälte, es war hundskalt, allein und ziellos durch die leeren Straßen gesträunt. Niemand hat mich gesehen, aber alle halbe Stunde bin ich heimlich zur Wohnung zurück. Endlich kam Mutter aus der Wohnung und hat mich, meine Schwester und Vater in ein Taxi gesteckt. Unterwegs hielt uns jemand an und wollte wissen, ob wir Juden sind. Irgendwie gelang es dem Fahrer, davonzukommen und uns bei Verwandten abzusetzen. Eine halbe Stunde später waren sie in unserer Wohnung und wollten Vater holen. Am selben Tag nahmen sie auch Onkel Frenkel fest.“
Als der Sohn, fast 70 Jahre später, auf der Suche nach dieser Wohnung in Berlin war, erinnert er sich an die Notiz seines Vaters:
„Vor meinem Besuch in Berlin hat er mir eine Karte gezeichnet, damit ich die Wohnung in der Thomasius Strasse 11 finde. Du erkennst die Wohnung an einem Streifen rechts neben dem Türrahmen, dort wo die Mesusa angeschlagen war, hat er neben seine Skizze geschrieben."
Das sind biografischen Koordinaten einer Hypothek für den Sohn dieses Vaters, die schwerer ist, als dass es sich so einfach mit ihr leben lässt. „Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben“ (Dtn 6,9) – so die Weisung aus der Tora zum „Schema Israel“, dem „Höre Israel, JHWH unser Gott, JHWH ist einzig…“ Die Befolgung dieser religiösen Grundüberzeugung hatte seiner Familie schließlich das Leben gekostet. Lev, ein säkularisierter Jude, beschreibt diese religiöse Selbstverständlichkeit seines Vaters mit großer Umsicht: Er „fühlte die Stelle, wo die Mesua eingeschlagen war“: In der Wohnung bin ich ungefähr eine Stunde geblieben. Erst dann ist mir eingefallen, dass ich sie gar nicht wirklich identifiziert hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es die rechte oder linke Wohnung gewesen ist. Ich habe mich dann noch einmal im Dunkeln die Treppe hochgeschlichen. Es war mir unangenehm. Ich wollte nicht, dass die Polin noch einmal sieht, wie ich in die Wohnung hineinschiele. In einer Hand habe ich die Kamera gehalten, mit der anderen über den Türrahmen gestrichen. Plötzlich habe ich die Stelle gefühlt, wo die Mesusa rechts angeschlagen war. Dort hat es sich anders angefühlt, es ist ein besonderes Gefühl gewesen – die Vertiefung war mit Gips gefüllt. Damit hatte ich die Wohnung endgültig identifiziert. Plötzlich kam mir ein Flashback. Die Mesusa hatte den Nazis einst verraten, wo sie wohnten, von hier waren sie nach Auschwitz gebracht worden.“
Johannes Rauchenberger