Vulgata, 77 Zugriffe auf die Bibel
Was von Martin Luther bleibt
Was von Martin Luther bis heute bleibt, ist die Übersetzung der Bibel. Seine uneingeholte Sprach- und Bildmacht, seine sprachliche Raffinesse, die vor allem eines wollte: verständlich zu sein, fasziniert bis heute. Seine Übersetzung der Heiligen Schrift – und die seiner Kollegen, er war ja nicht allein dabei – löste die alte „VULGATA“ ab. Schon dieses Wort erinnert an die Verständlichkeit der Volkssprache, nur war diese Übersetzung des Hl. Hieronymus ins Lateinische damals schon mehr als 1100 Jahre alt. Und man verstand sie nicht mehr, zumindest nicht die einfachen Leute.
Michael Triegel: Ave Maria, 2016 (Ausschnitt) Zinklitografie, 107,5x75,5 cm, KULTUMdepot Graz, aus: VULGATA. 77 Zugriffe auf die Bibel (2017)
Kulturell fremd?
500 Jahre nach Martin Luther ist die Bibel zwar in nahezu alle Sprachen übersetzt. Eine neue Ausgabe der „Luther-Bibel“ und eine neue „Einheitsübersetzung“ sind in deutscher Sprache zeitgerecht zum Jubiläum erschienen. Doch genauer betrachtet ist die Bibel im öffentlichen Diskurs längst wieder fremd geworden. Ihr öffentlicher Umgang erschöpft sich in Zitaten oder dient zum Widerspruch für die derzeit gültige Welterklärung. Ihre Mythen, ihre Geschichten und Texte decken sich zunehmend weniger mit dem heutigen Leben. Sie werden auch immer weniger erzählt. Das allgemeine Wissen um die Bibel ist in Wirklichkeit erschreckend niedrig. Es nähert sich dem verschwundenen Wissen um Mythen an, denen durch neue Medien längst größeres Interesse widerfährt.
Und doch: Die biblische Poesie, ihre Matrix, ihr Text über Anfang und Ende, Leben und Liebe, Schuld, Schmerz und Gewalt, Schönheit und Lobpreis verblassen nicht vor der Verkürzung des Daseins auf Wachstum, Sicherheit, Sättigung und permanente Datenkontrolle. Was fremd ist an ihr, was neu glänzt, was neu zu entdecken ist und was sich dem gegenwärtigen Denken auch kreativ widersetzt: Das wird in dieser Ausstellung mit Werken der Gegenwartskunst beleuchtet.
Maaria Wirkkala: „Found a Mental Connection“ (2003)
Potential der Brüche
„VULGATA. 77 Zugriffe auf die Bibel“ befragt mit 33 versammelten Künstlerinnen und Künstlern ein Buch, das in der Menschheitskultur zu den wesentlichsten Inspirationsquellen der Kunst zählt. Und das Gläubige als Heilige Schrift betrachten, das heißt als einen Text, der heilig ist, bindend und inspirierend für das eigene Leben – trotz allen Wissens, dass er historisch entstand, vollkommen unterschiedliche Textgattungen enthält, höchst unterschiedlich in seiner literarischen Qualität und immer weniger kompatibel mit einem modernen, durch die Erkenntnisse der (Natur-)Wissenschaft determinierten Weltbild ist. Dort befinden sich die Brüche, die Abbrüche, die Ironien und zugleich die kreativen Energien ihrer mythischen und spirituellen Kraft. Dort ist der Ort einer Kunst, die daraus ihr kreatives Potential bezieht.
Zlatko Kopljar, "Sacrifice/Opfer",1995, Courtesy the Artist
Ambivalente, aber zeitlose Themen
Biblische Themen sind einerseits historisch und immer auch aktuell zugleich. Dadurch haben sie gerade auch ihr
politisches Potential. Biblische Themen sind aber genauso ambivalent: Logos und Chaos, Schönheit und Scham,
Nächstenliebe und Gewalt, Wissen und Glauben, Weisheit und Fundamentalismus, Musealisierung und Ruf, Erzählung, Lobpreis und Klage – sie stehen dicht beieinander. In sieben Themenkreise wurden die insgesamt etwa 120 Einzelwerke von 33 KünstlerInnen sortiert:
- Foyer. Wiederbelebt? "Herr Martin" als Museumswärter
- Logos&Chaos. Über Schöpfung, über Schrift und Gottesnamen
- Das Außer-Gebrauch-Gestellte und das Fremde als Potential
- Essentials. Nachdenken über die zentrale Message
- SchönerHeit. Das Hohelied der Liebe in Bildern
- Fundamentalists & Politics: Über Religionsfrieden, Monotheismus und Gewalt
- "Jetztrausch". Die Bibel als Bilderzählung, heute?
- Neu belebt. Künstlerische Reflexionen über Museumsbilder aus der Zeit
Martin Luthers
Dorothee Golz: „Herr Martin“ (2015)
FOYER. Wiederbelebt? "Herr Martin" als Museumswärter
Wie lebendig ist Martin Luther? Im Werk der Wiener Künstlerin Dorothee Golz, die in ihren „digital paintings“ eng an der Grenze von Malerei und Fotografie arbeitet, wird „Herr Martin“ sozusagen zum Kongressteilnehmer am kunsthistorischen Seminar im Museum. Vielleicht ist er auch einfach nur der Museumswärter, der sich vor seinem Lieblingsbild, der Verführung im Paradies, ablichten lässt. Jedenfalls, der Mann mag die Bibel oder zumindest eine ihrer zentralen Geschichten. Adam und Eva sind zwar auch heute noch bekannt. Präsent sind die beiden „Stammeltern“ allerdings nicht mehr so wie der Apfel. Der Glaube an ihre tatsächliche Existenz wird nur mehr von ganz wenigen geteilt. Der Glaube an den Apple hingegen von Milliarden. Deshalb sind Zeitreisen angesagt. So wird man in diesem Bild dann auch Lucas Cranach d. Ä. treffen: seines Zeichens der Schöpfer des berühmten und im Jahr 2017 allgegenwärtigen Reformatorbildes von 1528, zudem Freund, Trauzeuge und Taufpate des ersten Kindes Luthers.
Die Sinnlichkeit des Urelternpaares hinter dem Reformator (es ist ein weiteres Bild Cranachs aus dem Jahre 1520) wandte der einstige Augustinermönch ja auch offiziell auf die eigene Lebensform an: Das offizielle Ende des Zölibats, die ermöglichte Priesterehe und folglich die Entstehung des protestantischen Pfarrhauses waren die Konsequenz. Das haben nicht alle, vor allem nicht die offizielle katholische Kirche, geteilt. Aber sukzessive holte auch diese die Reformen des Reformators und seiner Erben nach: Die Verstehbarkeit der heiligen Texte, die Deutsche Messe also, der Laienkelch, die Vorliebe für Bach-Kantaten, die zunehmende Freiheit des Christenmenschen, das allgemeine Priestertum, sie kamen und kommen nach und nach. Freilich auch immer mehr die Gremien und die Abstimmkultur. Oder die zunehmende Eintönigkeit im Sakralraum. Aber auch umgekehrt schaute man sich einiges ab – nicht zuletzt die gewaltige mediale Inszenierung des Reformators, die eine ganze „Dekade“ wert gewesen ist und nun, im Jahre 2017, ihr furioses Finale feiert: Die Reisegesellschaften, die Bierbrauereien („Lutherbier“) sind jedenfalls die großen Gewinner – und auch damit kann man Ökumene demonstrieren. Reformatorische Bilderkritik, könnte man meinen, das war einmal.
Als gemeinsame Schnittmenge zwischen den Konfessionen nennen alle immer wieder: die Wertschätzung der Bibel. Denn sie zu lesen hat etwas buchstäblich „Unmittelbares“: In der täglichen „Losung“, der Schriftlesung von evangelischen Christen, spricht Gott direkt. Dies gehört zum Gründungsnarrativ der Evangelischen. Und es erforderte damals einen hohen Einsatz: In den Milieus der Religionskriege mussten die Evangelischen die Bibel vor den Soldaten des (Erz-)Bischofs noch verstecken... Ganze Landstriche, in Salzburg vor allem, wurden damals so entleert. In der Steiermark wurden Protestanten in eigenen Umerziehungsanstalten rekatholisiert. Das ist, Gott sei Dank, lange her, und es eignet sich nicht mehr als Narrativ des eigenen Selbstverständnisses. Die christlichen Konfessionen haben mühsam Lernfähigkeit bewiesen. Bibellesen wurde schließlich auch für Katholiken gefördert – freilich setzte die Bibelbewegung erst vor etwas mehr als 100 Jahren ein. Die so genannten „Erneuerungsbewegungen“ sind seither ohne die Bibel nicht zu denken.
Die Bibel ist mittlerweile längst das meistgedruckteste Buch der Welt. Aber wie sehr wird sie auch gelesen? Sie liegt in zahlreichen Hotels auf, vor allem in Hotelketten, die von den Kirchen getragen werden, und davon gibt es gerade im Land des Reformators viele. Sie ist sichtbar in den Händen von Menschen auf der Straße, die man üblicherweise nicht zu den täglichen Freunden zählt... Die „Bibliothek ungelesener Bücher“ ist ein Langzeitprojekt des österreichischen bildenden Künstlers Julius Deutschbauer, das dieser seit 1997 als wachsendes Audio- und Bucharchiv führt. Im Interview mit seinen jeweiligen Gesprächspartnern befragt er sie zu ihren Vorstellungen über ein von ihnen noch nicht gelesenes Buch und zu den Gründen fürs Nichtlesen. Auch die Bibel ist darunter. Sie bildet, so der Künstler, sogar die Spitzenreiterin. Gleich 11 solcher ungelesener Bibeln sind in der Ausstellung samt Hörstation zu sehen.
LOGOS & CHAOS. Über Schöpfung, über Schrift und Gottesnamen
Wo anfangen, wenn es um das Wort schlechthin geht? Die Bibel entstand, so der Glaube über viele Jahrhunderte, durch Inspiration. Kein Text wurde auch so oft abgeschrieben wie die Bibel. Fachkundige Exegeten bekennen, dass es nur ganz wenige Passagen gibt, die wirklich gleich sind. Das mittelalterliche Skriptorium ist das Herz der christlichen Schriftkultur. Mit Martin Luther setzte der Buchdruck ein und die Möglichkeit der Massenverbreitung von Texten und Bildern. Nicht alle von ihnen waren bekanntlich heilig und fromm. Der Text wurde – gerade in der damaligen Medienrevolution – auch zum Kampfmittel umfunktioniert! Das Künstlerkollektiv robotlab setzte an der Schnittstelle von Glauben und wissenschaftlichem Fortschritt an und ließ über neun Monate durch einen Industrieroboter den Text der Bibel abschreiben. Mit Präzision führte die Maschine die kalligrafischen Linien aus. Die massive Erscheinung des Roboters setzt hinter dem biblischen Menschenbild ein radikales Fragezeichen: In der Utopie einer möglichen Mensch-Maschine-Kultur ist die „imago Dei“, Gottes Ebenbild, denkbar weit entfernt. Oder ist es umgekehrt? Dazu zwischengeschaltet ist jedenfalls die Selfie-Zeit: Zwei iPhone Fotos zeigen eben nicht das Selfie, sondern die Hände ihres Schöpfers: des Künstlers Mark Wallinger. Die doppelt anmaßende Arbeit ist eine spielerische Neu-Kreation von Michelangeos „Erschaffung Adams“. Das subtile Spiel des Turner-Prize-Trägers Wallinger mit Geschichte, Medium, Mythos und Künstlermythos ist eine der neuesten Arbeiten dieser Ausstellung.
Was aber ist Schöpfung? Woraus besteht sie? In der bestechenden Erkenntnis von Daphna Weinstein besteht sie aus 114 Worten. So jedenfalls liest die israelische Künstlerin die Genesis. Nur die ersten 7 Worte sind lesbar, dann beginnt das Chaos. Und zwar deshalb, weil sich das erste Wort zu wiederholen beginnt, und alle Wiederholungen schied Weinstein aus. Doch die Anfangsreihung reichte für den Satz: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Das Nichts war ein Tohuwabohu – der Ausgangspunkt des Schöpfungsakts Gottes in der hebräischen Bibel in der Übersetzung Martin Bubers. Sinnentwürfe sind ohne den Status des Anfangs schwer denkbar. Dieser muss geordnet, entworfen oder neu geschaffen werden. Religionen, die in heiligen Texten wurzeln, konstituieren sich besonders durch Erzählungen des Anfangs. Daphna Weinstein mahnt die Neuschöpfung ein, durch jeden und jede von uns: Aus 114 Worten kann die Welt je neu geordnet, ja geschaffen werden. Das Mon Cheri-Papier, in das die Worte geschnitten sind, erinnert an den Genuss. Auch an die Liebe. Sie kann bekanntlich fehlen. Und wenn das Fehlen zum Thema wird? Ja, was wäre ausgerechnet die Bibel, wenn das Wort „Gott“ fehlte? Der niederösterreichische Künstler Jochen Höller entfernte aus der ganzen Bibel das Wort „Gott“. Der Ertrag ist ein Haufen dieses Wortes, „Gott“. Die „Godless Bible“ entzieht dem Text den Kern. Oder aber die Leerstellen sind Platzhalter für den Namen des Unbenennbaren. In der jüdischen Tradition ist es verboten, ihn als Wort zu nennen und zu schreiben – es muss immer eine Umschreibung sein, oder eine Unkenntlichmachung. Der Moskauer Künstler Gor Chahal hingegen machte genau das Gegenteil: Er suchte alle Gottesnamen der Bibel und setzte sie in die Explosionsperspektive eines Computerprogramms.
Die Bibel ist für Juden und Christen ein heiliger Text. Er wird im Gottesdienst kultisch inszeniert. Er dient zum Lobpreis Gottes und zum Gebet. Manches an ihm ist Gesang. Klage, Einsamkeit und Not stehen dabei neben purer Lebensfreude: Die Scherenschnittarbeit zum 150. Psalm der in Berlin lebenden Kärntner Künstlerin Lisa Huber ist eines von vielen Beispielen, den biblischen Text in dieser Form würdigen. Die Formen fügen sich dabei zu einem Klangkörper – ein Orchester aus neuen, nie gesehenen, nie gehörten Blasinstrumenten aller Art – seltsame Klänge und Geräusche. Oder ist es eine Partitur? Anweisungen für Verdichtungen, Spalt- und Spreizklänge für Posaunen, Flöten, Schalmeien...: „Alles was Atem hat lobe den Herrn“.
DAS AUSSER GEBRAUCH GESTELLTE UND DAS FREMDE ALS POTENTIAL
Was macht man aber mit diesem Text, wenn er nicht mehr verwendet wird – wenn er verstummt oder wenn das Medium verbraucht worden ist? Das Judentum hat dafür einen eigenen Ritus, der sich „Geniza“ nennt. Heilige Texte, das heißt solche, die das Tetragramm (JHWH) oder andere Bezeichnungen Gottes enthalten, dürfen nicht einfach entsorgt werden. „Geniza“ bezeichnet einerseits den Vorgang, die Torarolle aus dem Gebrauch zu nehmen, andererseits den Ort, wo sie verwahrt wird: Nicht mehr lesbare Torarollen oder andere heilige Texte wurden in diesen Speichern abgelegt. So haben wichtige Schriftstücke der jüdischen Liturgie und der jüdischen Geschichte überdauert. Unter anderem auch einer der ältesten Texte der Bibel wie etwa die Qumran-Rolle. Der 1962 geborene und in Tel Aviv lebende Shimon Lev ist säkularisierter Jude. 14 Generationen vor seinem Vater, der als einziger der Familie als Jugendlicher überlebt hatte, waren Rabbiner in Galizien gewesen. „Geniza“ in dieser Ausstellung ist auch eine Hommage an eine Form von Säkularisierung, die ihn selber trifft, mehr aber noch eine Hommage an seine Vorfahren, deren Lebensweitergabe im Holocaust für immer erlosch.
Sich stemmen gegen das Vergessen: Die Kraft des Geistes lässt sich am Ende doch niemals bezwingen – das ist die Hoffnung, die gerade von Büchern ausgeht: Und diese drängt sich als Versprechen von Gerhard Lojens „Buchobjekten“ auf. Der Künstler wusste um die Verletzbarkeit des Geistes. So wurden die Seiten vernäht, weiß getüncht und mit der brachialen Eisenklammer der Zimmermannszunft niedergehalten. Auch die Fleischwerdung des Logos ist nicht nur feine Poesie. Sie ist auch nicht nur lieblich zu denken. Die Gefährdung des Geistes und des Wortes durch äußeren Zwang und Gewalt ist ein nie verschwindender Begleiter der Geschichte. Auch heute.
Für wen aber ist die Bibel geschrieben, für wen ist der „Logos“ am Ende da? Die so moderne Zielgruppenfrage setzt in der Zitat-Video-Arbeit mit nur zwei Szenenbildern des bulgarisch-französischen Künstlers Valentin Stefanoff mit einem grundlegenden Dementi ein: Der Sprecher verweigert sich dem „Logos“ – denn er ist dort das Synonym für die Macht, die Zeit zu definieren: „We don’t have the logos, for the logos was at the beginning of time; whoever has the logos is in possession of time.“ Valentin Stefanoffs Videoarbeit: „We, the Poor of this World“ lässt die Armen mit dem Logos abrechnen: „No, we don’t want anything to do with the logos, for it is also at midday, the midday of history“ , sagt die Stimme im Video, das einen die Tauben fütternden Sandler und einen alten Friedhof zeigt. Aber irgendwann vernimmt man in diesem beklemmenden Texttepich aus Tages-Nachrichten, dem „Ende der Geschichte und dem letzten Menschen“ von F. Fukuyama, Platos Staat und aktueller Staumeldungen europäischer Autobahnen in den Ferien auch Sätze aus der Predigt Jesu: „Euch ist das Geheimnis des Gottesreichs gegeben, aber zu anderen spreche ich in Form von Gleichnissen – weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen“ (Mt. 13,11).
Die Bibel ist, so gesehen, ziemlich radikal. Ein zerschlissener Schuh auf ihren Buchdeckeln, ein gelbes Lamm, hingeworfen auf eine Parkbank, zwischen den Beinen ein Kreuz eingezwängt, oder eine mit einem Schloss versperrte Bibel: Drei von mehreren Skulpturen des französischen Künstlers Guillaume Bruère (GIOM), die sich mit „Religious Thems“ (G.B.) beschäftigen. Sie verdeutlichen die Radikalität der Sprache Jesu: „Nehmt nichts mit auf den Weg, keine Vorratstasche, keine Schuhe, keinen Wanderstab. Grüßt niemanden unterwegs.“ (Mt 10,10). Oder ist es ein Fusstritt auf die so genannten „Künstlerbibeln“? „Immendorff“ liest sich am Buchrücken ebenso wie „Bibel“. Eine von österreichischen Künstlern kostbar gestaltete Bibel stammt in dieser Ausstellung vom Benediktinerstift Admont.
Die Bibel ist nicht einfach nur eine Ansammlung von Buchseiten. Über Jahrhunderte wurde sie abgeschrieben – nicht nur als Text, sondern mit Bildern illuminiert. Die bedeutendsten Bildinnovationen entstanden so in den Skriptorien mittelalterlicher Klöster. Ihre Buchdeckel wurden mit ebensolchem kostbaren Material umgeben. Eine Ahnung dieser Auffassung wird in der „geheimen Offenbarung des Johannes Offenbergs Messplatte“ von Alois Neuhold ins Bild gesetzt. Dieser scheinbare Frontispiz lässt sich nicht öffnen. Die Figuren sind gerahmt von Bildarchitekturen wie aus der Romanik, doch auch sie lassen sich nicht fixieren, sie sind vielmehr koboldartige Hüter für das Innenleben, das aus den Bildern strahlt: Das Bild ist als Bild so robust, dass man seine in ihm liegenden Wahrheiten allerhöchstens erahnen kann, lesen kann man sie nicht. Aber die Vorstellung, dass sein Innenleben doch herausspringen könnte, ist denkbar – sowie aus einem Reliquienschrein von GIOM.
Ist das Wort Gottes überhaupt vernehmbar? „In illo tempore...“, ja, aber unter den Bedingungen radikaler Säkularität? In der Londoner Ring-U-Bahn nennt sich eine Station „Angel“. Dorthin begab sich der britische Künstler Mark Wallinger, als Blinder getarnt, und tritt an der Rolltreppe auf der Stelle. Anders gesagt: Er läuft dagegen. Warum ausgerechnet ein Blinder? Nach und nach hört man ihn einen Text zitieren. Es ist der Prolog des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort...“. Aber er klingt beinahe unverständlich. Die Menschen hinter ihm laufen verkehrt. Alles ist hier offenbar verkehrt. Aber der rezitierte Text? Ist auch er buchstäblich verkehrt? Ja. Das Video ist im ureigentlichen Sinn verkehrt! Noch mit einem alten Kassettenrekorder aufgenommen, hat der Künstler den unverständlichen Text, der sich aus dem Rückwärtsspulen des Tonbands des Johannesprologs ergab, mühsam auswendig gelernt und zitiert. Nun läuft der Film abermals verkehrt – und so richtig. Am Ende wird der „Blinde“ – der Engel! – zu Händels „Zadok – The Priest“ in den Himmel aufgenommen: Er hat es aufgegeben, auf die Stelle zu treten und übergibt sich der Rolltreppe, die ihn hinaufbefördert. Was bleibt ist der Verdacht, dass man womöglich blind sein muss, um zu erkennen. Ein blinder Glaube?
SchönerHeit. Das Hohelied der Liebe in Bildern
Die Bibel enthält Texte, die zu den großen poetischen Stücken der Weltliteratur zählen: Die Schöpfungserzählung, die Psalmen, das Hohelied, die Prophetenansagen, der Johannesprolog, die Bergpredigt, die Vision einer neuen Gottesstadt aus der Apokalypse sind nur die bekanntesten unter ihnen. Das „Hohelied“ sticht dabei besonders heraus – in seinem altorientalischen Bilderreichtum und seiner Erotik.
Über Jahrhunderte als Allegorie für die christliche Marienmystik gelesen, wird das „Lied der Lieder“, vermittelt durch eine historische Bibelauslegung, längst als das gesehen, was es ist: ein pures Liebeslied, das seinen fixen Platz im Kanon der Bibel gefunden hat – ähnlich wie es das Nachdenken über das Nichts und das Vergehen aus der Feder von Kohelet ist.
Die prallen Bilder, die erotischen Metaphern, das blühende Leben aus den Orient haben eine zeitloses Format. Grenzen der Inanspruchnahme gibt es trotzdem: Die jeweiligen Schönheitsvorstellungen geben sehr genau vor, was ein attraktiver Körper ist und wer dem entspricht. Was aber ist mit jenen Körpern, die keine Möglichkeit sowohl öffentlicher als auch uns zugänglicher Kommunikation haben? Wie drücken diese ihre Gefühle der Liebe in Bildern aus? In einer künstlerischen Arbeit mit beeinträchtigten Menschen entwarf die Mailänder Künstlerin Julia Krahn ein Bildpanorama aus Stilleben und Portraitinszenierungen mit dem Titel „SchönerHeit. Hohelied der Liebe in Bildern“ (2016). Es entstanden spirituell aufgeladene Stillleben und Portraits mit einer satten Farbigkeit und einer Lebensintensität, die ihresgleichen suchen. Ihre DarstellerInnen arbeiten mit der Sinnlichkeit von Früchten und Attributen aus dem Hohenlied, sie inszenieren sich, fast nackt, nur mit weißem Tuch partiell bedeckt und teilweise bemalt in den Farben des Hoheliedes weiß, rot, braun und golden. Inszeniert als die Liebenden Sulamith und Salomo selbst, aber auch als die im Text vorkommenden Tiere, wie unter anderem als Reh und als Turteltaube oder auch als Apfelbaum, schlüpfen sie in selbstgewählte Rollen, ohne dabei ihre Persönlichkeit und ihre physiologischen Defizite zu verschleiern: „Wie bist du doch schön, meine Freundin, wie bist Du schön! Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen.“ (Hld, 4.1)
ESSENTIALS. Nachdenken über die zentrale Message
Die Bibel ist nicht einfach ein Buch gesammelter Texte, die irgendwann kanonisch wurden. Wer sie zur Hand nimmt, tut das ja nur in Ausnahmefällen mit den Augen der Bibelwissenschaft, sondern erwartet von ihr geistliche Nahrung, Orientierung, Lebenssinn oder eben direkt Gottes Anspruch. „Mir geschehe nach Deinem Wort“ (Lk 1, 38) ist wohl die bekannteste Stelle aus der Bibel für diese Erwartung. Der Satz stammt von Maria, als sie die Botschaft des Engels vernimmt. Eine erkenntnisreiche Verfremdung führt der Leipziger Maler Michael Triegel in einer seiner neuesten Arbeiten ein: Der in seinem technischen Können altmeisterlicher Bildverfahren derzeit wohl weltweit einzigartig zu bezeichnende Künstler – rund 40 Werke seines opus sacrum werden zum Lutherjahr ab April in gleich drei Räumen im Leipziger Museum der bildenden Künste ausgestellt – zeigt in der über einen Meter großen Zinklithografie eine barocke Madonna in reichem Faltenwurf, stark in der Untersicht aufgenommen, was wiederum einen Anbetungsgestus des Betrachters unterstellt. Die Haltung der Madonna ist jene der Empfängnis in der Verkündigung: „Ave Maria“ ist nicht nur die Anrede des Engels, sondern auch der Titel des Bildes. Doch dieser Engel ist kein Engel, sondern eine schreiende, verwesende Katze, halb Fleisch, halb Skelett. Ist es der Schrei der Kreatur vor einer Statue? Der Schrei der verwesenden Endlichkeit? Der Schrei vor der stoischen Haltung der Jungfrau? Vor ihrer bleibenden Schönheit, während alles herum zerfällt? Oder heißt es, die Tiere im ganzen „Erlösungsspiel“ vergessen zu haben? Maria sitzt auf einem ganzen Friedhof tierischer Knochen. Das „apokalyptische Weib“ stand nur auf der Schlange... Zerbrochen ist hier die Zusage des Engels. Doch unmissverständlich geht es hier um die verlorene und die erlöste Schöpfung, um den großen Bogen, der mit der Spiegelung von EVA und AVE angezeigt ist. Kurzum, es geht ums Ganze. Wer hat Erlösung not, was ist das? Für wen und wovon?
In einer ganz anderen künstlerischen Sprache werden diese letztlich immer unzulänglich beantworteten Fragen von der japanischen, in Düsseldorf lebenden Künstlerin Keiko Sadakane aufgeschrieben. Seit Jahrzehnten ist sie in ihrer künstlerischen Arbeitsweise dem Minimalismus verpflichtet. Zwar trägt ihre Arbeit den durchaus nicht unverständlichen Titel „Evangelium. Matthäus, Markus, Lukas, Johannes.“ Sie unterscheiden sich nur durch die verschiedenen Grautöne der Bleistiftintensität und sind als solche nicht lesbar, weil jeweils der ganze Text – in deutscher Fassung! – auf einem DIN A3 Blatt aufgeschrieben ist. Erahnbar aber ist die Essenz. Die Wucht der Botschaft, die im Text liegen kann.
Als Maler – mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Form und der Farbe – versuchte dasselbe der steirische Maler Luis Sammer immer wieder. Die Umkehr der Werte („Er, der das Oberste nach unten kehrt“), die Wärme der Sprache („Guter Hirte, als Mensch verkleidet“) sind für Sammer, der sich Zeit seines über sechs Jahrzehnte währenden künstlerischen Lebens aus der traditionellen Ikonografie befreien wollte, die Essentials biblischer Botschaft: Ihnen rang er jeweils die Form ab, die für ihn Farbe heißt.
Man kann das Wichtigste der Bibel freilich auch als Aufforderung betrachten, ähnlich der Antwort Jesu auf Frage des Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot: Die Hände der Wiener Künstlerin Zenita Komad versprechen einen Imperativ: „LIEBE DEINEN NÄCHSTEN, SEHR!“ ist die Auflösung auf Zeichenebene im Medium von Buchstaben, was als Aufforderung die Gebärdensprache dieser Hände leistet. Zudem ist die Materialität der Hände aus Wachs, in deren Mitte Dochte stecken: Man könnte sie alle als kostbare Kerzen auch verbrennen. Man kann dasselbe aber auch als Aufforderung zum Handeln sehen, wie Marta Deskur, die aus dem Motiv der „Marienkrönung“ (eine Bilderfahrung der Künstlerin vor Fra Angelico im Louvre) eine „Fußwaschung“ verwandelt hat, also den Ort biblischer Nobilitierung.
Das Essential der Bibel aus der Sicht der Religionswissenschaft ist jedenfalls der Monotheismus, der Glaube an den einen und einzigen Gott also. Diese „mosaische Unterscheidung“ (Jan Assmann) führt notwendig zu Ausschließlichkeitskriterien. Oder anders gesagt: zur Frage nach der Wahrheit. Denn wo nur ein Gott behauptet wird, ist ein anderer neben ihm eben eine Gefahr. Die ganze Geschichte des Volkes Israel erzählt aus dieser Entwicklung heraus von der Leidenschaft seines Gottes mit seinem Volk. Doch die Realität war und ist eben eine andere: Es gibt nicht nur die eine Religion, Menschen glaubten und glauben an viele Götter – oder an gar keinen von ihnen. Gleichzeitig gibt es in den jeweiligen Religionen, sofern sie Buchreligionen sind, jeweils heilige Bücher. Gesetzt den Fall, man würde sich erstmals zu einem interreligiösen Treffen zusammenfinden und die je heiligen Texte der verschiedenen Weltreligionen einander in kultischer Feierlichkeit vortragen: Welche Seite würde man aufschlagen, würde man die eigene Religion bezeichnen wollen? Die in Düsseldorf und Sarajewo lebende Künstlerin Danica Dakic zeigt in „Surround“ zwei Hände, die über einem Buch zu schweben scheinen. Das ist ein Bild von insgesamt sieben Bildern, auf denen je Heilige Bücher unterschiedlicher Weltreligionen aufgeschlagen sind. In der Videoskulptur (2003), auf der das Werk basiert, begehen die Teilnehmenden ein feierliches Leseritual: Für das Christentum ist die lateinische Bibel aufgeschlagen: AD CORINTHOS I, Kap. XIII. 1 Kor 13 ist das große Lied über die Liebe und die Rätselhaftigkeit irdischer Erkenntnis, die in der Schau von Angesicht zu Angesicht aufgehoben werden wird. „Das Größte aber unter ihnen ist ...“ Einer der schönsten Texte des Neuen Testaments wurde von Paulus verfasst. Für Martin Luther waren dessen Schriften ein entscheidender Bezugspunkt seines theologischen Denkens.
FUNDAMENTALISTS & POLITICS.
Über Religionsfrieden, Monotheismus und Gewalt
Die Bibel ist aber nicht nur in ihren hellen Seiten präsent. Sie ist in letzter Zeit auch in Verruf geraten. Unter Biblizisten versteht man Menschen mit einem allzu einfachen Weltbild, das sich jedenfalls in Kampfmodus gegen die abtrünnige Welt, gegen die Wissenschaft, gegen die Aufklärung, gegen die Moderne befindet. Sätze wie „Und die Bibel hat doch recht...“ sind nicht nur Buchtitel für Massen, sondern auch Indizien, dass Glaube und Wissenschaft sich offenbar auch heute noch in offensichtlicher Unvereinbarkeit befinden – Stichwort Vereinbarkeit von Evolution und Schöpfung. Die Bibel, so gesehen, ein Kampfbuch gegen aufgeklärtes Wissen? Jochen Höller häuft zu dieser Frage buchstäblich „Faktenwissen“ an: Er schneidet aus der Tora, den Upanishaden, dem Koran, den „Lehren des Buddha“ und der Bibel die beiden Worte aus und klebt sie auf die schwarze Fläche: Die Berge, die also zu versetzen wären, sind selbstredend.
Und was, wenn die Bibel auch wieder zum Kampfbuch für politisches Handeln wird? Selbst der derzeitige Papst warnt vor religiösem Fundamentalismus – und er meint damit nicht nur den Islam. Es gibt eben nicht nur den Islamismus, es gibt auch den christlichen Fundamentalismus in der Weltpolitik. Präsident George Bush regierte so über zwei Amtsperioden die USA. Präsident Donald Trump legte 2017 seinen Amtseid gleich auf zwei Bibeln ab.
Der österreichische Maler Hannes Priesch, der 20 Jahre in New York gelebt hat, hat auf die fundamentalistische Atmosphäre der damaligen Weltpolitik mit einer Serie von Bibel-Bildern reagiert, etwa der „Josua-Serie“, die besonders gewalttätige Passagen aus dem „Buch der Richter“ nachbuchstabiert. Oder mit der „Rumsfeld-Bible“, die tägliche Bibelzitate des amerikanischen Verteidigungsministers, Tag für Tag auf der Postmappe des Präsidenten vermerkt, festgehalten hat, nur ob des Bibelzitates am jeweiligen Tagescover hatte der Präsident den Inhalt auch gelesen... Oder mit einem Mitschnitt eines an die Öffentlichkeit gelangten Telefongesprächs zwischen dem französischen und dem amerikanischen Präsidenten, kurz vor dem Ausbruch des 2. Irak-Krieges am 20. März 2003: Eine wörtliche „REVELATION“ einer offen formulierten Kreuzzugsmentalität am Beginn des 3. Jahrtausends im Namen der Bibel und seiner Verheißungen.
Damals setzte die nachhaltige Destabilisierung des Mittleren Ostens ein, aus dessen Machtvakuum die Taliban, der Islamische Staat und der syrische Bürgerkrieg hervorgegangen sind. „Gog and Magog“ werden in diesem Präsidentengespräch beschworen, zwei Völker, die nach Offb 20,8 im Mittleren Osten wüten und mit Satan in den Kampf ziehen, um aber am Ende der Tage von Christus besiegt zu werden: „Biblical prophecies are being fulfilled. This confrontation is willed by God, who wants to use this conflict to erase His people‘s enemies before a new age begins“, so Bush zu Chiraque. Will heißen: Die Radikalisierung, die wir in den letzten Jahren so sehr am Islam erlebt haben, hat auch christlich-biblische Schatten. Die Apokalypse ist und war ein immer wiederkehrendes Thema der Kunst. Im öffentlichen Sprachgebrauch wurde es längst zu einem Synonym für Inferno, nicht für „Offenbarung“, was es eigentlich meint.
Apokalyptisch sind Kriege. Apokalyptisch ist der Terror. Apokalyptisch wurde 9/11 am Beginn des Jahrtausends wahrgenommen. Apokalypsen sind Katastrophenerzählungen. In der Verbindung mit der Bibel werden illuminierte Handschriften so bezeichnet, die das letzte Buch der Bibel in Bilder und Texte umsetzen. Der treibende Motor waren freilich die jeweiligen historischen Ängste. Einen solchen Spagat zwischen einer alten und sehr zeitgenössischen Angst legt der Berliner Medienkünstler Tobias Trutwin an. In seiner Auseinandersetzung mit der Beatus Apokalypse von Beatus von Liébana (†798) verdichtete Trutwin die illuminierte Handschrift mit ihrer charakteristischen Flächigkeit in die Silhouette einer Stadtvedute. Beatus‘ Motivation für den Apokalypsenkommentar war das mit dem Jahr 800 erwartete Weltende. Statt dessen begann in diesem Jahr die Reichsidee Karls des Großen. Geschichtliche wie persönliche Apokalypsen gab es seitdem zuhauf. Trutwin verlagert die Bildidee der Apokalypse in einen Landeanflug auf eine Stadt. Dahinter steht die Erfahrung von 9/11, die das neue Jahrtausend mit einem Schock einleitete: Die Auseinandersetzung um Religion, Säkularität und Utopie hätte man noch wenige Jahre vorher anders vermutet. Der Titel des Diptychons gemahnt im rechten Teil an die Stadt der Engel („hail LA“), also Los Angeles. Die Versionsbeschreibung erinnert an Updates von Computer- bzw. Vernichtungsprogrammen.
Die latente Gewaltbereitschaft von Religionen hat besonders Gegenbilder nötig. Die Opferung Isaaks durch Abraham markiert auf der Ebene der Erzählung das Ende der Menschenopfer für die Gottheit. Aber ist es dabei geblieben? Zlatko Kopljar erinnert daran verstörend unmittelbar nach dem Balkankrieg und den dabei Abertausenden Geopfertern. Warum hat Gott heute – beim Morden und Opfern der eigenen „Söhne“ – nicht eingegriffen wie einst in der Bibel? In Zlatko Kopljars Isaak-Bearbeitung geht es schlicht um Mut. Vorbild war natürlich Caravaggios Lösung des Abrahamsopfers. Doch dort hält ein Engel den Opfernden ab - bei Kopljar ist es nur der Blick ins Äußere des Bildes. "Ich glaube nicht an Engel", sagt der Künstler. Aber ich glaube an den Mut, an die Courage, es nicht zu tun. Er klagt nicht Gott an, sondern die Menschen, die ohne Courage sind. "Was hätte man verhindern können, wenn...", fragte einst der russische Schriftsteller Solschenyzin. Die Frage scheint drängender denn je. Fern wird ein anderer Mythos aus der Urgeschichte bei der finnischen Künstlerin Maaria Wirkkala aufgerufen, aber dennoch nicht wörtlich zitert. Sie lässt Tiere auf einer Brücke, ausgehend von zwei Büchern, welche die Brückenköpfe bilden, in die jeweils andere Richtung ziehen. Einmal ist es die Bibel, das andere Mal ist es der Koran. Der Bewegungsfluss ist keineswegs eine Einbahnstraße. Die Aufforderung der Künstlerin, die diese Arbeit ursprünglich 1997 als Lichtbrücke auf dem Bosporus zwischen Europa und Asien konzipierte, lautet: „FOUND A MENTAL CONNECTION“. 2001 war sie damit auf Harald Szeemanns 49. Biennale von Venedig „Plateau der Menschheit“ zu sehen. Eine geistige Verbindung zu schaffen trifft hier die Brückenköpfe: Es ist nicht nur der zu Beginn des Jahrtausends wieder aufgeflammte Religionskonflikt zwischen Islam und dem Westen, es geht auch um die große Globalisierungsschlacht im Allgemeinen: Ist das alle alten Erzählungen stimulierende Motiv des Tierfriedens eine Leitkultur der neuen Zeit? Ist es Respekt? Ein vorparadiesischer Zustand? Die Fähigkeit, Widersprüche zu ertragen? Sind die Brückenköpfe, die symbolisch für Abendland und Morgenland stehen, die Quelle? Das bekannte Werk Maaria Wirkkalas ist mittlerweile Teil der Istanbuler SammlungVehbi Koç Foundation und in Vulgata das letzte Mal vor der ständigen Sammlungspräsentation des dort neu erbauten Museums 2018 zu sehen.
Dass freilich Religion und Politik aufs Engste verbunden sind, ist auch ein entscheidendes Erbe der Bibel. Denn die Verheißung, die Gott seinem Volk in Aussicht stellt, ist Land. „Promised Land“ – das Land der Verheißung gehört zum Grundnarrativ der Exodus-Erzählung für das Volk der Israeliten. An jenem Punkt, an dem Moses das 1. Mal dieses verheißene Land erblickt, am Berg Nebo, fotografierte die niederländische Künstlerin Lidwien van de Ven das Panorama, wie es sich heute zeigt. Das erste Bild zeigt Wegweiser auf Ortsnamen und deren Distanzen von diesem Ort aus, das letzte ein Nachtbild dieser Wüste in Langzeitbelichtung. Hier geht es auch um Zeit, um eine sehr, sehr lange Zeit. Der Name eines Landes ändert sich oft im Verlauf der Geschichte. Bis 1948 (historisch gesehen vor kurzem) hieß dieses Land Palästina. Der Berg Nebo liegt heute an der Grenze Jordaniens. Die Bilder zeigen dieses hier sprachlose Land der Westbank, das seit Jahrzehnten, zusammen mit dem Gazastreifen, der palästinensische Staat sein sollte. Diese Fotoarbeit bezieht sich auch auf den Konflikt, dessen Interpretation gleichzeitig extrem durch die Kamera determiniert wird. Die Realität Palästinas ist für die westliche Welt beinahe unsichtbar, außer man fährt dorthin und überbrückt physisch die Distanz. Subtil und beinahe kommentarlos zeigt sie mit einem einzigen Panorama den Nahostkonflikt auf, ohne ihn vorzuführen.
Ein zweites Landschaftsbild in dieser Ausstellung erinnert schließlich an einen See, den See Genezareth. Es weist das Erbe des „Landes“, das auch als „Heiliges Land“ bezeichnet wird, indirekt als das Land der Predigt Jesu aus. Das ganz auf Blautöne zurückgenommene neunteilige Aquarell „Das Licht des Kinnereth“ von Josef Fink setzt nur mehr das Licht der Atmosphäre des Sees Genezareth ins Bild, mithin auch den Berg der Seligpreisungen. Fink hatte eine besondere Liebe zu Israel/Palästina, das er – wie Lidwien van de Vens Fotoarbeit – vor allem als „Land der Verheißung“ sah, und das er in einigen Künstlerklausuren mit vielen Künstlerinnen und Künstlern bereist hatte. Licht, Farbe und Ort strahlten für Josef Fink die besondere Wärme der Botschaft Jesu aus. Es wird im engeren Sinne nichts gezeigt von dieser Botschaft Jesu, aber doch schwingt sie dabei in einer besonderen Poesie eben mit: Das, was man an Jesus „Lehre“ nennt: Bergpredigt und Gleichnisse, Zeichen und Wunder...
JETZTRAUSCH. Die Bibel als Bilderzählung, heute?
Die Bibel enthält Erzählungen mythischer Qualität. Sie hält aber gleichzeitig immer wieder fest, historisch zu sein: „Und es begab sich zu jener Zeit...“ Die großen Zyklen über die Geschichten „In illo tempore...“ an den Freskenwänden in Reichenau, Padua, Assisi, Florenz oder Rom, aber auch die detailreichen Bildfelder der gotischen Glasmalerei verdanken sich einer theologischen Entscheidung, die fast 1000 Jahre vor Luther getroffen wurde: Gregor von Nazianz, Basilius und Gregor von Nyssa, die „drei Kappadokier“, hatten ganz wesentlich Anteil daran. Auch der Papst Gregor der Große in Rom: Bilder erzählten besser als Worte es tun, vor allem für jene, die des Lesens nicht mächtig waren. Immer wieder aber drängten sie ins jeweilige Heute. Am meisten in der Renaissance, wo sogar ein „Jetztrausch“ (J. Traeger) beschrieben wurde.
Auch Martin Luther hatte die Bilder als Lehrquelle akzeptiert – während seine Kollegen in Zürich, Genf und den Niederlanden die Kirchen mit ihren Bildern stürmten. Bibel-Bilder wanderten in die Gebrauchsgrafik und den Sammlungen ab: Rembrandt ist ohne das protestantische Bibel-Milieu unvorstellbar. Im 19. Jahrhundert waren es Künstler wie Gustave Doré und Julius Schnorr von Carolsfeld, die mit ihren Bibelillustrationen Generationen prägten – noch für Arnulf Rainer bildeten diese vor etwa 20 Jahren die Vorlagen für seine Bibelübermalungen. Von Lehre durch die Bilder, wie es die Theologen ursprünglich vertraten, sind wir mittlerweile sichtlich weit entfernt. Denn die Lesefähigkeit von Bildern biblischen Inhalts tendiert in unseren Breiten – Hand aufs Herz – gegen Null.
Doch Kunst wäre nicht Kunst, würde sie nicht auch diesen Verlust oder eben diese Fremdheit zu einem künstlerischen Thema machen. Das führt freilich zum Gedankenexperiment, wie man jemandem, der das Christentum nicht kennt, die biblischen Geschichten, zum Beispiel Weihnachten, erklärt? Natürlich, man greift auf Bilder zurück! Was wäre da am besten darzureichen? Genau so wurden dem der Art Brut hinzurechnen französisch-schweizerischen Künstler François Burland Giottos Leben-Jesu-Zyklus aus der Arenakapelle aus Padua präsentiert, als man den bekannten Künstler, der all das nicht wirklich kannte, in eine Schweizer Kirche lud. Entstanden war in der Folge ein 7-teiliger, großformatiger Holzschnittzyklus, der den Geburtszyklus neu erzählt. Verschnitten sind die Symbole des 20. Jahrhunderts zur Eroberung des Himmels: die Sputnik-Rakete, Jurij Gargarin und mit ihm Hammer und Sichel des früheren Sowjetreichs. Die Erscheinungen von Superman, so der Künstler, zeigten schließlich einen ähnlichen Eingriff von außen. In der biblischen Erzählung der Inkarnation Gottes würde doch der Zusammenprall von Diesseits und Jenseits, von göttlicher und irdischer Welt verhandelt. Ironisch, ja. Und gleichzeitig ein Ernstnehmen der Worte, die nach Burland groteske Bildzitate notwendig machen.
Alles begann mit der „genialen Geschichte des Lukas“, so der bekannte französische Schriftsteller Emmanuel Carrère in seiner famosen und ziemlich kritischen Paulus- und Lukasbiografie „Reich Gottes“ (2016). Lukas, so urteilt Carrère, war ein „famoser Romancier“. Die Verkündigung des Engels an Maria etwa war ein derartiges Prachtstück seiner schriftstellerischen Innovation. Sie hat wie keine andere im Spätmittelalter bis zum Barock die Künstler inspiriert. Um zu verstehen, was ausgerechnet in den schönsten Bildern abendländischer Kunstgeschichte eigentlich erzählt wird, hat sich die finnische Künstlerin Eija-Liisa Ahtila dem dramaturgischen Verfahren einer Laienschauspielgruppe bedient. In der Dreikanal-Video-Installation wird erzählt, wie Frauen in einer Art von Bibliodrama die Verkündigung durchspielen. Was vorher erzählt wird, ist ein Theaterworkshop von Frauen, die unter der Anleitung einer Regisseurin die Verkündigungsgeschichte nachspielen. Mit allen ihren Facetten, Momenten des Staunens und Hinterfragens. Im Zentrum steht die Frage, ob Wunder möglich sind, und zwar noch dazu solche, die hier erzählt werden: "Hey Mary, You will become pregnant, and the baby will come from God". In der Aneignung der für die Darstellerinnen ziemlich fremden Texte ereignet sich eine Fremdheit, die gerade in der grotesken Darstellung des Engels samt obligatem Flügelpaar das Wundersame dieser Erzählung erahnen lässt: Mit den drei künstlerischen Vorbildern von Simone Martini, Fra Angelico und Leonardo da Vinci lässt die Regisseurin drei Varianten der Begegnung mit dem Engel durchspielen. Einmal freundlich grüßend, einmal furchterregend, schließllich demütig erregt. Die Stärke des Videos lebt von den Zwischentönen, den überraschenden Lachern und der gekonnten Überforderung der drei Projektionen für die Betrachter. Jedenfalls wird für ein Verständnis von "Wunder" geworben. Die Eingangsfrage lautet: "Kann etwas Vertrautes die Kriterien eines Wunders erflüllen? Kann man von ewas ergriffen sein, das man durch und durch kennt?" Am Ende scheint das vorhin Gespielte sich als reale Erscheinung abzuspielen. Maria liest, Maria antwortet wie einst im Text: Siehe ich bin die Magd des Herrn. Das Schlussbild ist ein Gang dieser bezaubernden Maria mit dem Esel durch den beginnenden Frühling in Finnland, es ist der 25. März, begleitet durch den stimmungsvollen Song "No place to fall" des texanischen Countrysängers Towense von Zant.
Mutet das Bildthema der Verkündigung und der damit verbundenen Jungfrauengeburt in einer protestantisch geprägten Kultur wie Finnland ziemlich fremdartig an, so gehören derartige Motive im südlichen Nachbarland Polen zum Standardvokabular des kollektiven Bildgedächtnisses. Weshalb auch der Aktualisierungseffekt in einer künstlerischen Bearbeitung anders motiviert ist. „Visitation“ heißt in der Terminologie der christlichen Ikonografie im Deutschen „Heimsuchung“. Auch dieses bildreiche Wort stammt vermutlich von Martin Luther. Mit „Heimsuchung“ ist der Besuch Marias bei Elisabeth gemeint. Beide Frauen sind in dieser Geschichte schwanger. In lebensgroßen Leuchtkastenbildern inszeniert die Krakauer Künstlerin Marta Deskur „Family“-Szenen, die sie aus dem kulturellen Repertoire ihrer polnischen Heimat nimmt. Sie sind aber nicht im engeren Sinne kirchlich, sondern im wörtlichen Sinne „enlightened“, was ja nicht nur erleuchtet, sondern auch aufgeklärt heißt. Der Bildaufbau zeichnet sich durch den Kontrast von Vordergrundfiguren – Fotos von Menschen in betont zeitgenössischer Kleidung – und einem gleißenden weißen Hintergrund aus. Letzterer monumentalisiert die dargestellten Personen und ruft gleichzeitig die Geschichte der Malerei auf – vor der Entwicklung der Landschaft als Bildhintergrund. Die beiden jungen Frauen zitieren einander ein Gedicht – was sie ja mit dem Magnifikat, dem Lobgesang Mariens vor Elisabeth (Lk 1, 46-55), auch im Urtext tun.
„Wie läßt sich Jesus heute darstellen, am Beginn des XXI. Jahrhunderts? Wie läßt sich mit heutigen Mitteln, in der uns vertrauten Welt, sein Leben, sein Tun, seine Lehre schildern, so daß es uns anspricht, daß es – und das mag paradox erscheinen – zeitlos wirkt, wie es ja in den Evangelien heißt: ‚Ich bin mit euch für immer, bis ans Ende der Welt?‘“ Mit diesen Worten begannen die französische Starfotografin Bettina Rheims und der Philosoph Serge Bramly 1999 ihren viel diskutierten Bildzyklus „I.N.R.I.“. Der Bildzyklus rief nicht nur massenhaft Aufmerksamkeit, sondern auch viel Widerstand hervor: Kirchlicherseits und von Seiten der Kunstkritik, wenngleich auf ganz unterschiedliche Weise. Die einen witterten Blasphemie, die anderen, wie die Münchner Romanistin und Modeexpertin Barbara Vinken, mannequinartige Hohlheit. Drei Werke aus dem Zyklus aus der Sammlung Essl sind in der Ausstellung zu sehen: „Das Haus in Nazareth“, „Jesus und die Apostel“ und der „Tote Christus“. Moderne Model-Ästhetik hatte Rheims geschickt mit Bildinnovationen verbunden und so einen sehr zeitgenössischen Beitrag zur „Verheutigung“ geleistet. „Das Haus in Nazareth“ kommt nicht der Idylle der Maler gleich, die sich im Mittelalter und in der Renaissance der Kindheit Jesu angenommen hatten. Ein neues Bildsujet, gänzlich unromantisch, nimmt die späteren Essensszenen Jesu vorweg, bis hin zum letzten Abendmahl. Hier spielt der junge Jude Jesus mit dem Totenkopf. Oder ist es die Weltkugel? Hinter ihm das Aleph, also geht es um Anfang und Ende, das dem kleinen Jesusknaben auf gänzlich neue Weise eingeschrieben ist.
Dass Fotokunst für die Verheutigung ein angemessenes Medium ist, ist naheliegend. Julia Bornefelds „Burning Supper“, Nina Kovachevas „Last Supper“ sind spätere Spiegelungen des „Hauses in Nazareth“. Sie brechen das Bildmotiv in den drängenden Tatendrang oder aber in die heutige Konsumwelt auf.
Von all diesen Ambitionen war der aus Albanien stammende Künstler Adrian Paci völlig frei. Sein biografischer Hintergrund – Albanien war in der Enver Hoxher-Diktatur der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts der atheistischste Staat der Welt – darf freilich nicht unerwähnt bleiben. Pacis „Il Vangelo – Secondo Pasolini“ ist zunächst eine Hommage an den großen gesellschaftskritischen Regisseur Italiens aus der Nachkriegszeit, dessen Werk Paci erst am Beginn der 2000er Jahre kennenglernt hatte. Auf kleinen Holztafeln malte der 1997 nach Mailand emigrierte Künstler Einzelszenen von Pier Paolo Pasolinis „Erstes Evangelium“ (1965) in Detailgenauigkeit und großer malerischer Meisterschaft nach. 15 Standbilder wählte Paci aus dem Film aus, um einen der poetischsten Zyklen über das Leben Jesu in der Gegenwartskunst zu schaffen. Was Paci an der Arbeit des 1975 auf mysteriöse Weise ermordeten Künstlers und politischen Aktivisten fesselte, war vor allem der intensive Blick auf die gewöhnlichen Menschen in ihrem Umfeld, woraus Paci eine ganz eigentümliche Auswahl der Bildszenen traf. Pasolini hatte in diesem wohl gelungensten Jesusfilm der Filmgeschichte auch intensiv Bezug genommen auf die Maler des Trecento und Quattrocento, eines Giotto, Masolino, Masaccio oder Piero della Francesca. Was Paci macht ist ein äußerst sympathisches Zitieren, ja förmlich Nachschreiben von etwas, was einmal groß gelungen ist.
Die Bilder Pacis finden sich in der Nähe der „Permanent Collection“ des KULTUMs, die die finnische Künstlerin Maaria Wirkkala in ihrer Einzelausstellung 2011 „freigelegt“ hat: Fra Angelico, Ghirlandaio, Gozzoli, Piero della Francesca, Hieronymus Bosch sind darunter: Im Jüngsten Gericht, in den Erzählungen der Empfängnis, der Schwangerschaft und Begegnung, in Gewalt und Teilen, in den ersten Perspektivräumen und Portraits, im Tanz der Engelschöre, den „betenden Händen“ und Schlachtfeldern der Geschichte wird die Vielfalt einer abendländischen Malereigeschichte, die vor allem durch biblische Erzählungen motiviert ist, sichtbar. Die Künstlerin, die in ihren Ausstellungen quasi als Fußnote immer wieder Kunstkarten aus ihrer reichen Sammlung hinzufügt, versteht dieses hinterlassene Kunstwerk als geteiltes kulturelles Erbe.
Die Überwältigung der Geschichten im Medium der Malerei trifft im besten Falle auf ein Publikum, das kulturell gebildet ist und die kulturellen Speicher einer Stadt, eines Landes zu schätzen weiß. Oder das eben touristische Massenprogramme absolviert. Ob man die Bilder auch lesen kann, steht längst auf einem anderen Blatt. Man sieht nun einmal mit den Augen des 21. Jahrhunderts und nicht anders. In den Worten von Cees Nooteboom, der im Madrider Prado die Möglichkeit hatte, vor den regulären Öffnungszeiten ein Bild von H. Bosch zu betrachten: „In Kürze strömt der Prado voll mit Chinesen, Japanern, Arabern und diesem ebenfalls so anderen Volk, den jungen Leuten, die die Bibel nicht mehr kennen, oft von Mythologie wenig wissen, nicht katholisch erzogen worden sind, und wieder die Frage: Was sehen sie, wenn sie Bosch sehen?“ (Reisen zu Hieronymus Bosch. Eine düstere Vorahnung, 2016, S.15).
Üblicherweise wird die Geschichte der Säkularisierung religiöser bzw. biblischer Themen in der Malereigeschichte mit der Entdeckung der Perspektive und somit des real erlebten Tiefenraums erzählt. Der Subtext der Säkularisierungsthese lautet: Wo Wirklichkeit zu wirklich wird, muss die Zone des Heiligen klein bei geben. Dagegen ließe sich gerade aus biblischer Perspektive viel sagen. Und, nicht zu vergessen, die Gegensicht, dass eben die Wirklichkeit des Wirklichen der eigentliche Ort des Heiligen ist. Nur so ist „Inkarnation“, die Fleischwerdung Gottes also, eigentlich konsequent zu Ende gedacht. Der gegenwärtige Papst wird auch nicht müde, diesen eigentlich selbstverständlichen Perspektivenwechsel, der sich mit dem Inkarnationsgedanken ergeben hat, einzumahnen.
Von besonderem Interesse sind freilich künstlerische Zugriffe auf historische Bilder, die eben an dieser Schnittstelle angesiedelt sind: Es gibt zwar das Bildmotiv von Joseph, dem Zimmermann, aber dass „sein angetrautes Weib“ auch kocht und putzt, also die ganz gewöhnlichen Tätigkeiten in einem Haushalt verrichtet und nebenbei auch das Kind beschäftigt, nicht. Diese Tätigkeiten haben bislang jedenfalls nicht die Bildwürdigkeit erhalten – kein Wunder, denn die meisten Maler waren Männer. „Madonna als Mutter und Hausfrau“ von Dorothee Golz hat neben der subtilen Kritik auf ein Rollenverständnis, das gerade der Kirche anhaftet, an der ihre „digital paintings“ auszeichnende Grenze zwischen Malerei und Fotografie genau diese Unentschiedenheit zum Thema. Das Buch, das der kleine nackte Jesusknabe hält, ist aber dann doch nicht die Bibel, sondern ein Bildband mit der Buchrückenaufschrift „ART“.
Das Jesuskind ist ein Foto – oder doch einem Renaissancebild entnommen? Maria mit ihren hohem Hausschuhwerk ist ein Foto – oder ist ihr Gesicht doch einem von Rogier van der Weyden oder Memling entliehen? Und woher sollten wir all das wissen, wie es wirklich war – es ist eine Geschichte der Maler, und nicht der Bibel. Oder doch nicht? Oder war es der Arzt und Maler Lukas, der all das weitergab? Dort setzten wieder die Legenden ein. Wer allein Navid Kermanis erstes Kapitel „Mutter“ („Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“, 2015, 9-13) liest, wird sich dem Wahrheitsdiskurs kalter Kunstgeschichtsschreibung oder einer eben solchen historisch-kritischen Exegese wahrscheinlich schön still entziehen wollen: Die Geschichte von biblischem Text, Legende und Bildinnovation durch die Künstler ist auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht ausgeschrieben, geschweige ihres mythischen Gehalts beraubt.
Faktum aber ist, dass es vor allem die Künstler waren, die die biblischen Geschichten in die Geschichte getragen haben, nicht allein das Buch als Buch. Wer ein europäisches Museum besucht, kommt nicht umhin nüchtern anzuerkennen: Hier hat offensichtlich einmal eine Erzählung getragen, die sich aus diesen Geschichten konstituiert. Manches, sehr vieles, wurde bei näherem Hinsehen ausgemalt, erfunden, dazu gedichtet, je nachdem was die Zeit erfordert hatte, gerade freilich dort, wo es Leerstellen im Text gab.
Vieles, fast alles, ist uns heute davon fremd. Viele ihrer zentralen Motive wie Verkündigung, Mutter mit Kind, Passion und Weltgericht, haben sich ganz anderswohin verlagert und dienen jedenfalls nicht, um mit dem Kulturphilosophen Peter Strasser zu sprechen, zu „den glaubhaften Bildern der Erlösung“. Sie sind eben nur mehr Überlieferungen, Mythen, Kunstbilder, die aber alle „sekundär“ geworden sind. „Wir nehmen sie nicht mehr wörtlich, ihre Wahrheit ist eine symbolische. Aber bedenken wir: Wenn erst alles zu einem Symbol wurde, dann ist das Ziel unserer Hoffnung zu einer bloßen Redensart geworden.“ That‘s the problem. Wie also umgehen mit dem Wörtlich-Nehmen?
Wer darauf eine sichere Antwort weiß, gehört zu den „Hartgesottenen“, den „Fundamentalisten“, um den Philosophen weiter zu zitieren. Nur mehr sie glaubten nach der 2000 jährigen Ankündigung Jesu eines neuen Jerusalems „daran, dass sich das Warten lohnen und, sehr, sehr verspätet, Himmel und Hölle buchstäblich öffnen werden.“ (Kleine Zeitung; Vorarlberger Nachrichten, 24. Dez. 2016)
Für wen diese Alternative ausscheidet, der muss sich mit scheinbar weniger begnügen. Das reicht. Durchaus erstaunlich aber ist, dass bei näherem Hinsehen die Auseinandersetzung mit den „Werken der Vergangenheit, die unsere Kultur ausmachen“ (Philippe Jaccottet) auch in der Kunst der Gegenwart stärker ist als gemeinhin angenommen. Mitunter ist sie sogar unvermittelt stark. Eines der wichtigsten Attribute, das gerade die Bibel Gott zuschreibt, ist dessen Souveränität. Seine Kommunikationsform ist rufen, oder, um mit dem protestantischen Theologen Karl Barth zu sprechen, das „Deus dixit“. Dass das „Sprechen“ – in welcher Form auch immer – selbst zur göttlichen Gegenwart wird, gehört wohl zu den wunderbarsten Erbdingen von Martin Luthers Reformation. Gibt es dieses Sprechen, ja dieses „Rufen“ auch durch Bilder?
NEU BELEBT. Künstlerische Reflexionen über Museumsbilder aus der Zeit Martin Luthers
Den abschließenden Bogen dieser Ausstellung spannen Bilder, die aus der Zeit Luthers bzw. die unmittelbaren Jahrzehnte vor ihm entstanden sind: Bilder des Spätmittelalters, vornehmlich aus der flämischen und altdeutschen Malerei, die allesamt eines sind, was man von den späteren immer weniger behaupten kann: nämlich im ureigensten Sinne „christlich“. Von diesem Bilderwirrwarr sollten sich Luthers Kollegen alsbald distanzieren und nur mehr das Wort, die Bibel also, gelten lassen. Hier aber bilden genau sie den Rahmen, ja die Basis, „Zugriffe zur Bibel“ am Beginn des 21. Jahrhunderts möglich zu machen. Denn genau in diesen Abteilungen mitteleuropäischer Museen verlor sich der französische, in Berlin lebende Künstler Guillaume Bruère mehrmals. Hunderte von Bildern sind dabei entstanden, Bilder, die das erste Mal (!) in dieser Ausstellung gezeigt werden.
„Ich weiß nicht, was ich dabei wirklich mache, die Bilder rufen mich.“ Das ist ein Versuch des Künstlers jene Atmosphäre zu beschreiben, die dieser vor Bildern in Museen wie der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe, der Gemäldegalerie in Berlin oder des Kunsthauses Zürich erlebt hat. Guillaume Bruère war ohne religiöse Erziehung aufgewachsen. Seine Vorliebe für die Zeit der altdeutschen und flämischen Malerei sieht er im „Imperfekten, dem eine solche Menschlichkeit anhaftet“. Die Renaissance hingegen kann er nicht ausstehen. GIOM ist ein famoser Zeichner, der sich vor den jeweiligen Wunden der Gegenwart überproportional betreffen lässt. So zeichnete er nach dem Einbrechen der Flüchtlingskrise im Herbst/Winter 2015 in Berlin Flüchtlinge – zunächst aus dem puren Versuch heraus, der Masse, die nur im Plural existiert, ein Gesicht zu verleihen; eine öffentliche Zeichenperformance von unbegleitenden Flüchtlingen am Grazer Hauptplatz im Mai 2016 monumentalisierte diese. (Eine solche ließ er nicht nur Flüchtlingen angedeihen, sondern bezeichnenderweise auch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel.)
Ein Zeitensprung am Ende also: Ein sienesischer Meister von 1380, der Meister vom Bodensee, der Mosbacher Kreuzigung und der Karlsruher Passion, Matthias Grünewald, Martin Schongauer, Dieric Bouts, Hans Baldung Grien, Konrad Witz, Hans Schäufelein, Lucas Cranachs d. Ä., Jan van Eyck, Hans Holbein, Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch oder Rogier van der Weyden: All diese großen Namen aus den Sammlungen in Karlsruhe, Zürich und Berlin werden durch den Künstler in diese Ausstellung geholt und geben damit auch den Resonanzraum für die anderen Werke ab.
GIOMs Hand wurde beim Zeichnen selbständig, wie die Bilder zeigen. Sein Auge war am Bild des Originals gefesselt. Herausgekommen ist etwas völlig Neues, etwas, was in den Bildern liegt, aber bislang noch nicht gesehen worden war. Getroffen hat GIOM die „Menschlichkeit der Figuren“ in der alten Kunst. Deshalb habe er sich in ihnen verloren. Ein schöner Satz für die Erlösungsdramen, für die sie einst entstanden sind.
Johannes Rauchenberger