Last & Inspiration: Wie viel Macht hat eine schwache Kirche?
(Glaubens-)Narrative mit Fragen: „Wie viel Macht hat eine schwache Kirche?“
Ein Ausstellungsdurchgang
Johannes Rauchenberger
Ein Flackern der Geschichte – und eine genmutierte Blume für den toten Kaiser in Graz
Die Ausstellung „Last&Inspiration. 800 Jahre Diözese Graz-Seckau“ um den Grazer Dom setzt ein mit der Verschränkung von Macht und Religion. Die frühere Hofkirche bzw. der jetzige Dom, das angebaute Oratorium Kaiser Friedrichs III., das ehemalige Jesuitenkollegium, die angrenzende Universität und das Mausoleum Kaiser Ferdinands II: Der als „Grazer Stadtkrone“ bezeichnete Komplex ist auch zugleich Exponat dieser Ausstellung. Dieses architektonische Setting, diese zu Stein gewordene Ideengeschichte sichtbar zu machen (weniger um seine musealen Werte zu heben, als vielmehr mit diesen auch städtebaulich einmaligen Konstellationen Fragen für heute zu stellen) ist die leitende Perspektive: Wie halten wir es mit der Religionsdebatte in Zeiten von Ökumene, Globalisierung, aber auch wachsender Fremdenangst und Fundamentalismen heute? Wie halten wir es mit dem Denken als der unbedingten Voraussetzung für einen Übergang der Kirche in eine ungewisse Zukunft? Das Jesuitenkollegium wurde ab 1573 erbaut, um geistig, geistlich und intellektuell eine Reform der Kirche voranzutreiben. Wie halten wir es mit der Frage der Macht und der Erkenntnis, dass die Jahrhunderte alte Verbindung von Herrschaft und Kirche zu Ende ist? Ist das Dagegenhalten der „Ohnmacht“ der Ersatz? Die Frage in diesem eröffnenden Ausstellungskapitel lautet schließlich: „Wie viel Macht hat eine schwache Kirche?“ Es ist zu einfach, den kirchlichen Sündenfall in der Machtfrage mit dem Jahr 313 anzusetzen, als sich die damals noch junge Religion mit der Herrschaft verschwistert. Wir wollten mit unseren Ausstellungen auch das „Heute“ problematisieren. Politik darf nicht jenen Parteien überlassen werden, die sich das „Christliche“ auf ihre Fahnen heften und dabei Nationalismus, Abgrenzung und die Kreuze als Identitätsmarkierung für das Eigene missbrauchen. Zurecht kann man angesichts der gegenwärtigen Migrationspolitik mit dem steirischen Bischof fragen: „Wo ist nur das gerne herbeigeredete christliche Abendland geblieben?“[14]
Kunst hat für solche Zugänge vor allem eine ästhetische Plausibilität, die auch verhalten daher kommen kann, aber in ihrer Schärfe nichts zu wünschen übrig lässt. Eine genmanipulierte Blume etwa wächst im kleinen Annexraum der Gruftkammer des Mausoleums Ferdinands II. an der Wand empor:Gemalt hat sie Luc Tuymans[15], der heute zu den gefragtesten Malern der Gegenwart zählt. Sie widersetzt sich diesem Bau. Ihr Aussehen erscheint genmanipuliert. Die Frage, die sich bei seinem Werk stellt, ist: Welche Gene wirken im historischen Gedächtnis weiter?
Beim Betreten des Raums der Grazer Katharinenkirche des Grazer Mausoleums bündelt John Pawsons Spiegel-Skulptur „Perspectives“[16] nicht nur einen Raum von hoher architektonischer und künstlerischer Qualität, sondern lenkt den Blick auch auf Macht- und Herrschaftsgeschichte.
Und im Mausoleumsraum selbst erscheinen aus der Ferne plötzlich Worte: „Cuius regio – wes das Land“[17] ist ein Werk der Medienkünstlerin Ruth Schnell. Man sieht die Worte, die von einem computercodierten Leuchtstab kommen, nur, wenn man absichtslos blickt – oder wegschaut. In den Mausoleen Kaiser Ferdinands II. in Graz und Erzherzog Karls II. in Seckau erscheinen solche „Leuchtworte“, die vom Kapitel der Gegenreformation handeln.
In der Grazer Stadtpfarrkirche, die auf dem ehemaligen Judenghetto in Graz mit der kleinen, von Kaiser Friedrich III. nach der ersten Judenvertreibung 1439 gestifteten „Corpus Christi-Kapelle“ ihren Ursprung hat, erscheinen Worte, die von den jüdischen Geschichtskapiteln dieser Stadt handeln: „JUDEN FEINDBILD VERFOLGEN VERTREIBEN ERMORDEN DIASPORA GALUT 1160 JUDENDORF GRAZ JUDEN WOHNVIERTEL SYNAGOGE HERRENGASSE FEINDBILD ABENDLAND URTEILEN SCHUTZGELD KREUZZUG JUDENSTEUER ÄMTERVERBOT ZWANGSTRACHT INQUISITION SÜNDENBOCK JUDENHAUER SCHACHERN PROJEKTION WUCHERER MAMMON NEID ZINSEN STEREOTYP ÜBEL LEGENDE HOSTIENFREVEL RITUALMORD LÜGE 1439 AUSWEISUNG AUFLÖSUNG JÜDISCHES WOHNVIERTEL SCHLEIFEN 1450 KAPELLE CORPORIS CHRISTI 1496 VERTREIBUNG JUDENSPERRE MAXIMILIAN I. STÄNDE EINFLUSS NEID AUSTREIBUNG RASSISMUS POLITISCH VÖLKISCH RASSISCH ANTISEMIT FRAUENGASSE SCHULD SCHLEIFEN HÄUSER BESITZ VERKAUFEN JUDENGASSL ABKEHR LOSSAGUNG TAUFE ASSIMILATION DURCHREISE ILLEGAL JUDENFRAGE JUNGFERNGASSE 1867 GLEICHSTELLUNG BÜRGERTUM WOHLSTAND B´NAI B´RITH FREIMAURER PROJEKTION ANGST WÜRDE AUSGRENZEN 1938 POGROM GEWALT KOLLEKTIV BERSTEN SCHLAGEN BESCHLAGNAHME BADEVERBOTSCHULVERBOT ARISIEREN JUDENFREI VERNICHTUNG AUSROTTUNG KZ DACHAU NACH 1945 BIS HEUTE GEFAHR ANTISEMIT VERSCHWÖRUNGS-THEORIE WELTHERRSCHAFT ROTHSCHILD OSTKÜSTE WIEDERHOLUNG GESCHICHTE 1439 1938.”[18]
Kaiser Friedrich III. (1415 – 1493), der die Juden nach ihrer Ausweisung durch Friedrich III. (von Tirol) wieder nach Graz zurückholt, weil er sie für seine Kredite braucht, ist der erste und einzige Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der von Graz aus regiert. Der erste Raum der Ausstellung im Diözesanmuseum nimmt gleichsam als Ouvertüre auf die Verschränkung von Herrschaft und Kirche Bezug und richtet den Blick zuerst auf die vom damaligen Herzog und späteren Kaiser erbaute Hofkirche – mehr als ein Dutzend Mal hat er den geheimen Schriftzug AEIOU[19] anbringen lassen.
Er selbst sieht sich – wie Dompfarrer Heinrich Schnuderl in einem Gespräch über die „Macht und Kirche im Grazer Dom“[20] hingewiesen hat, als „Christophorus – ein enormer Anspruch, den er aus dem Glauben heraus für die Länder, die sich das Haus Habsburg einverleibt hat, gelebt hat“[21]. Aber der Raum rekurriert auch auf die Geschichte des leidenschaftlichen Ineinanders von Thron und Altar: Der steirische Panther hält die Monstranz, er ist bekrönt mit dem Herzogshut, der zugleich als Deckel für den Kelch dienen kann.[22] An einer zweiten Monstranz tritt Maria im Typus der „Mariazellerin“ mit ihrem Fuß auf den Türkenkopf[23]– so sehr kann sich das Motiv der bedrängten Apokalyptischen Frau (Offb 12) im überschwänglichen Barock am Land verwandeln; die Monstranz stammt aus Preding, sie wird bis heute benutzt. Das „Türkengedächtnis“ zählt querfeldein zu den ganz zentralen Narrativen der Geschichte dieses Landes. Auf vielen Hauptplätzen finden sich Mariensäulen, die anlässlich des Sieges über die Osmanen errichtet worden sind. Die wohl wichtigste davon befindet sich in Graz am Eisernen Tor; sie ist politisch auch gern vereinnahmt worden, etwa vom christlichen Ständestaat der 1930er Jahre im Kampf gegen die Nationalsozialisten. Diese werden sie rot ummanteln, als Graz im Juli 1938 zur „Stadt der Volkserhebung“ erhoben wird, und setzen den Satz darauf: „Und Ihr habt doch gesiegt.“ 50 Jahre später wird dieses „Reenactment“ von Hans Haake[24] im steirischen herbst wiederholt, nun wird die Ummantelung von Vandalen angezündet. Die Mariensäule wird erneuert, ihr zerschmolzenes Gesicht nachgeschnitzt. Im europäischen Kulturhauptstadtjahr 2003 erhält sie von Richard Kriesche sogar einen Lift, damit man ihr direkt ins Gesicht blicken kann, doch das historisch Belastete ist dabei kein Thema mehr, der Lift wird stark als touristischen Asset wahrgenommen. Das zerschmolzene Gesicht aber hat der Schnitzer des neuen Madonnengesichts, Felix Wiegele, dem Diözesanmuseum Graz geschenkt.[25] Es bildet ein zentrales Ausstellungsstück – aber weniger um der Bestürzung über die ikonoklastische Tat gegen die Gottesmutter Ausdruck zu verleihen, sondern um an die braunen Geister der Vergangenheit zu erinnern.
Arnold Schandernell: Fragment des Gesichtes der Marienstatue am Eisernen Tor in Graz, Augsburg 1670, Kupfer, ehem. vergoldet. Graz, Diözesanmuseum, Inv.-Nr. 6830.1390
Schließlich feiert 2018 nicht nur die Diözese ihr 800-jähriges Gründungsdatum, sondern es ist auch das 80. Jahr des „Anschlusses“ an NS-Deutschland. Und es bleibt auch die Warnung, dass die Diskussion um religiöse Zeichen in der Öffentlichkeit der letzten Jahre (Kopftuch- und Burkadebatte, Minarettdiskussion, Kreuze in den Klassenzimmern) nicht allzu naiv geführt wird. Das teilweise Verschwinden der religiösen Zeichen – im Frühling 2018 mussten etwa selbst an der altehrwürdigen Theologischen Fakultät der Universität Wien die Kreuze abgenommen werden, wenige Wochen später wurde umgekehrt in Bayern ein Kreuzerlass für öffentliche Orte wirksam – trägt nicht automatisch zur Befriedung bei. Jemand kommt und setzt irgendwann neue Symbole – die Nazis haben das brutal bewiesen. Wofür das Kreuz, dieses Zeichen der Ohnmacht, ja der Gottverlassenheit, in der heutigen Gesellschaft wirklich stehen könnte, sollte man sich in einer öffentlichen Diskussion nicht ersparen.
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[14]So Bischof Wilhlem Krautwaschl bei zwei Messfeiern an der Grenze zu Slowenien, 8. Juli 2018. Vgl. Asyl: Krautwaschl vermisst christliches Abendland, in: https://religion.orf.at/stories/2923408;Originalwortlaut: https://www.katholische-kirche-steiermark.at/?d=predigten-waehrend-der-messfeiern-an-der-grenze.
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[15]Luc Tuymans: GENE, 2018, Acryl auf Putz, Grabkammer des Mausoleums Kaiser Ferdinand II. in Graz
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[16]John Pawson, Perspectives, 2011, Metall, optische Kristalllinse, temporäre Installation in der Katharinenkirche, Graz
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[17]Ruth Schnell, cuius regio – wes das Land, 2018, Kunststoff und Leuchtdioden, Courtesy die Künstlerin
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[18]Ruth Schnell, O.T., Stadtpfarrkirche, 2018, Mitarbeit: Patricia Köstring, Stadtpfarrkirche Graz
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[19]Steinfragment mit AEIOU, 1462, Stein, Graz, Domkirche Hl. Ägydius
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[20]Heinrich Schnuderl im Gespräch mit Johannes Rauchenberger über Macht und Kirche im Grazer Dom. Videoinstallation, Graz 2018; Komposition, Kamera, Schnitt: Elias Rauchenberger, Dauer: 6’22’’, online: https://youtu.be/fLQlb78oXDI[15. 7. 2018]
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[21]Ebd.
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[22]Johann Friedrich Strohmayr: Ziboriums-Monstranz, Graz 1694, Silber, tw. vergoldet, getrieben, gegossen, Email
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Graz, Universalmuseum Joanneum, Haus der Geschichte, Kulturhistorische Sammlung, Inv.-Nr. 25.308
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[23]Monstranz mit Maria auf einem Türkenkopf, um 1770, Mathias Pössner, Silber, vergoldet, getrieben, Schmucksteine, Preding, Pfarre, Inv.-Nr. 6357.A.S.1
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[24]Hans Haake: Und ihr habt doch gesiegt, 1988, Farbfotografie, auf Aluminium kaschiert, Generali Foundation mit Hans Haacke, Leihgabe des Graz-Museums
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[25]Arnold Schandernell: Fragment des Gesichtes der Marienstatue am Eisernen Tor in Graz, Augsburg 1670
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Kupfer, ehem. vergoldet, Graz, Diözesanmuseum, Inv.-Nr. 6830.1390
Lichtbringer, Wunderglaube und Politik
Der zweite Raum besinnt sich mit einem einmaligen Ausstellungsstück auf ein zweites großes Narrativ der Geschichte dieser Kirche: Die Aufklärung. Sie hat in Österreich die Gestalt des aufgeklärten Absolutismus. Das heißt: Sie wird weitgehend vom Kaiser bzw. der Regentin verordnet. Ihre kirchenkritische Seite erlebt die Kirche dieses Landes vor allem in der Aufhebung von Klöstern und der Abschaffung des kirchlichen Prunks sowie des Wallfahrtswesens. Kaiser Joseph II. (1741 – 1790) hinterlässt Spuren im Religionsgedächtnis der Steiermark wie wohl kein zweiter – obwohl er von 1780 bis 1790 nur 10 Jahre Zeit für sein Reformwerk hat. Das Positive zuerst: Das Toleranzedikt von 1791 beendet die fast 200-jährige Verfolgung der Protestanten. In der Steiermark versetzt der Kaiser (!) 1786 den Bischofssitz nach Graz; nachdem er das Stift Seckau aufgehoben hat, hebt er in den folgenden Jahren noch weitere 18 Klöster in der Steiermark auf, verbietet Wallfahrten, gibt starre Regeln für den Gottesdienst vor, lässt die Votivbilder verbrennen, geht gegen den Wunderglauben vor, zieht Kirchengut ein und gründet dafür Schulen, Waisenhäuser, Krankenhäuser – Kirche soll nützlich und sparsam sein, kurz: sie soll kostenoptimiert agieren. Viele seiner Haltungen erinnern an heute. Beim „Sparsarg“[26]für Beerdigungen geht er offenbar zu weit, dieser hält sich nur rund fünf Jahre. Aufklärung hat etwas mit Erhellung und mit Licht zu tun. Dieser Klappsarg trifft auf eine zeitgenössische Videoinstallation: Eine Lichtfigur schaufelt sich in diesem Raum ein Loch (ein Grab?) in die Erde. Zlatko Kopljarseindrucksvolle Arbeit „K 16“ lässt den Gedanken der Aufklärung vielfach schimmern.[27]Graben sich die Lichtfiguren selbst ein Grab? Verschwinden sie immer mehr?
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Der josephinische Klappsarg aus Göss und das Video K16 von Zlatko Kopljar: Eine etwas andere Reflexion zu Nützlichkeitsdenken und Aukflärung
Der dritte Raum präsentiert einen Ort, genauer eine Statue, die fast immer bekleidet ist: die Madonna von Mariazell: 20 ihrer kostbaren Kleidchen, deren Anzahl insgesamt 130 beträgt, sind hier erstmals überhaupt in einer Ausstellung zu sehen. Ohne Mariazell wäre die steirische Kirche nur äußerst bruchstückhaft erzählt. „Ich war noch nie in Mariazell“ lautet vor Jahren eine Werbekampagne für die Restaurierung dieses Wallfahrtsortes, der seit Jahrhunderten und auch noch heute völlig singulär dasteht. 2017 wird seinem Betreiber, der sich im langjährigen Superior P. Karl Schauer OSB abbildet, der Bauherrenpreis für vorbildliche Restaurierung in den letzten 25 Jahren zuerkannt.[28]Mariazell ist nicht nur in den Epochen der Gotik und des Barocks, sondern auch aus der Perspektive zeitgenössischer Architektur über die Maßen gelungen. Es ist freilich kein gottgegebenes Wunder, dass dieser Ort derart Geschichte gemacht hat, er hat seine Förderer und Sponsoren: Der Erfolg von Mariazell ist in seiner Geschichte jedenfalls ohne das Haus Habsburg nicht zu denken. Ferdinand II., der im Mausoleum in Graz begraben ist, erhebt die Madonna von Mariazell zur „Magna Mater Austriae“.[29]Die Gläubigen darauffolgender Jahrhunderte sind sich der besonderen Nähe der „Großen Mutter Österreichs“ besonders gewiss.
Die Marienkleider von Mariazell - noch nie ausgestellt - waren der "Grüß-Gott-Blick" ins Diözesanmuseum.
Mariazell ist exempt, also nicht dem Bischof, sondern dem Papst unterstellt, mehr aber noch wohl dem Kaiserhaus, das mit diesem Ort eine spezifische Form des Katholizismus gebaut hat. Erst seit 1859 ist er Teil der Diözese Seckau. Mariazell ist aber genau so wichtig für Mähren, Ungarn und Kroaten. Der Ungarnkönig Ludwig (1342–1382) stiftet 1369 die Gnadenkapelle und finanziert die gotische Kirche im 14. Jahrhundert wesentlich mit – er löst damit ein Gelübde ein: Mit der Hilfe des Bildes, das in der Schatzkammer aufbewahrt ist, gewinnt er 1366 die Schlacht gegen türkische Völker (!).[30]Ein Wachsreliefbild in der Schatzkammer zeigt, wie die Türken Mariazell belagern, nur seien sie in Wirklichkeit nie dagewesen, bekennt die Ausstellungsbegleiterin bei den Dreharbeiten in der Schatzkammer. Man verstrickt sich in die Geschichte, wenn man nachbohrt, man wird auch sprachlos, wenn man die Schatzkammer besucht und die Dokumente zur Kenntnis nimmt, die aus Dankbarkeit der „Mariazeller Mutter“ zugeeignet worden sind. 2500 (!) Votiv- bzw. Dankesbilder hängen dort seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bzw. seit dem verheerenden Brand von Mariazell im Jahre 1827. Kostbarste Reliquienschreine der Heiligen Cyrillus und Eleutherius, die Papst Innozenz X. 1650 dem St. Lambrechter Abt Benedikt Pierin geschenkt hat, mit mehr als 250.000 Perlen verziert. Das Ineinander von Religion, Wunderglauben und Politik kann man dort studieren wie wohl kaum an einem anderen Ort. Auch die Aversion, die der Sohn Kaiserin Maria Theresias, der spätere Kaiser Joseph II., gegen den Wunderglauben aufgebracht hat, indem er die Bilder verbieten, Kleidchen vernichten und Krönchen der Madonna bis dahin einschmelzen lässt.[31]Dabei hat seine Mutter in Mariazell als Kind die Erstkommunion empfangen und später (1756) mit ihrem Gatten Kaiser Franz I. das Silbergitter am Gnadenaltar gestiftet! Eine Schwester Kaiser Josephs II., Maria Carolina, Königin von Neapel und Sizilien, stiftet als Andenken an ihre Mutter hingegen das Antependium des „Ungarnaltares“ – nachdem ihr Bruder vorher alles abräumen hat lassen. Es geht also wieder rasch bergauf, nachdem der rüde, von der Aufklärung und den neuen Ideen durchflutete Kaiser alles leer gefegt hat. Und es füllt sich seither über die Maßen – bis heute. Kein anderer Ort in Österreich hat religionspolitisch in den letzten Jahrzehnten so reüssiert wie Mariazell. Das „Mariazeller Manifest“ (1952) als die Neoorientierung der österreichischen Kirche nach dem Desaster des 2. Weltkriegs, die baldige Orientierung auf die Völker hinter dem „Eisernen Vorhang“, die Papstbesuche (1983 und 2007), die Antrittsbesuche von Bundespräsidenten und Bundeskanzler, die Wallfahrt der ersten schwarz-blauen Bundesregierung nach der Aufhebung der EU-Sanktionen zur Jahrtausendwende, der Mitteleuropäische Katholikentag mit der „Wallfahrt der Völker“ (2005), schließlich das Motto der Diözese Graz-Seckau in der Ära Bischof Egon Kapellaris (2001-2015): „Auf Christus schauen“ – es ist ebenso dieser Statue entnommen.
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[26]Josephinischer Sparsarg, 1784, Holz, mit Ölfarbe bemalt, Leoben-Göß, Pfarre Hl. Andrea, Inv.-Nr. 6278.A.U.39
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[27]Zlatko Kopljar: K 16, 2014, 4D Video, Dauer: 10‘42‘‘, Courtesy der Künstler
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[28]https://zv-architekten.at/bauherrenpreis-1/bauherrenpreis-2017-preistraeger/basilika-und-geistliches-haus-mariazell
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[29]Vgl. Ingeborg Schödl. Mythos Mariazell, Graz 2007; vgl.Martin Mutschlechner: Magna Mater Austriae – Marienverehrung als habsburgischer Staatskult, in: http://www.habsburger.net/de/kapitel/magna-mater-austriae-marienverehrung-als-habsburgischer-staatskult[20. 7. 2018]
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[30]Vgl. Eberhart Helmut, Geschichte und Bedeutung Mariazells als Wallfahrtsort, in: Brunner Walter u. a. (Hg.), Referate der internationalen Konferenz „Magna Mater Austriae et Magna Domina Hungororum“ in Exztergom (6.-9. Mai 2002) und Mariazell (3.-6. Juni 2002) (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs, Bd. 30, hg. von Walter Brunner). Graz-Esztergom 2003, 30 - 40.
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[31]Vgl. Othmar Wonisch, Geschichte von Mariazell I (Mariazeller Wallfahrtsbücher). Mariazell 1947, 66.