Liebe & Selbstbestimmung
Aus: Reflektiert zeitgenössische Kunst das Christentum? Ein kuratorisches Gespräch zwischen Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger und Barbara Steiner | Is Christianty Reflected in Contemporary Art? A conversation between Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger and Barbara Steiner, in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art, herausgegeben von | edited by Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn 2018, S. | p. 102-106.
Katrin Bucher Trantow: Zwei eng miteinander verbundene Bilder prägen christliche Vorstellungen ganz wesentlich. Neben dem unschuldigen Kind, das die Erlösung in sich trägt, ist es die Mutter, die mit ihrer Liebe und Opferbereitschaft die Haltungen christlicher Gesellschaften beeinflusst hat. Maria als reine, durch die Empfängnis und Geburt des Kindes gesegnete Frau findet sich bis heute in den Diskussionen über Erziehung, Kinderliebe und nicht zuletzt Mütterlichkeit, die eng mit dem Wort „Hingabe“ verbunden wird. In der Tat erfährt der Betrachter, die Betrachterin auch in Iris Andrascheks Arbeit Mutter (Martina J.) ein wenig von der körperlich-seelischen Mühe des Gebärens. Trotz ihrer Sachlichkeit frage ich mich unweigerlich: Ist es manchmal nicht wirklich ein Opfer, das Mütter bringen? Von hier zum Mut der Hingabe ist es nicht weit. Von ebendieser mütterlichen Hingabe und Darreichung des Kindes an die wartende Welt sprechen auch die gesammelten Fotografien der italienischen Künstlerin Linda Fregni Nagler, in denen Mütter verdeckt und versteckt zu unsichtbaren Stützen ihrer still sitzenden Kinder werden.
Barbara Steiner: Die Verbundenheit von Mutter und Kind sowie damit zusammenhängende prägende Bilder und Wertvorstellungen sollten allerdings aus genderpolitischer Perspektive nicht zu einem Imperativ werden. Mit diesen Bildern wurde historisch auch Missbrauch getrieben, wurden Frauen auf diese Rolle reduziert. Wichtig ist es, auch andere Bilder zu erzeugen. Das tut auch Iris Andraschek. Ihre Mutterdarstellung verweigert sich jeglicher Form der Idyllisierung. Nicht von ungefähr ruft sie damit sozialdokumentarische Traditionen auf – konkret die Mütterdarstellungen von Dorothea Lange aus den 1930er-Jahren. Bei Christoph Schmidberger ist es der Vater, der sein Kind trägt und ihm in inniger Liebe zugetan ist. Die überwirkliche Lichtstimmung dieser Bilder lässt die Dargestellten so wirken, als würden sie nicht von dieser Welt sein. Das „alltäglich“ anmutende Äußere der Protagonisten steht im Kontrast dazu. Da Schmidberger sehr lange in Los Angeles gelebt hat, sehe ich in seinen Bildern darüber hinaus Anklänge an Hollywood und TV-Serien. Dies schlägt den Bogen zum wichtigen Stellenwert von massenmedial zirkulierenden Bildern, die Vorstellungen von Liebe, Hingabe und natürlich auch von Geschlechterverhältnissen prägen und immer wieder kritisch hinterfragt werden sollten. In der Kunst hat man sich aber nicht nur an Vorstellungen von Mütterlichkeit abgearbeitet, sondern auch an Maria als reiner Frau, als Jungfrau, die ein Kind geboren hat. Fu Maria von Kris Martin ist dazu ein starkes Statement. Äußerst elegant in der Anmutung, aber doch auch ziemlich brutal: Eine Pfeife, hier auch deutlich ein phallisches Symbol, steckt im Körper von Maria und ersetzt ihren Kopf. Sie wird quasi durchdrungen und bewohnt.
Johannes Rauchenberger: ... was natürlich auf jene Bildzerstörung abzielt, die mit den Bildern der Jungfrau Maria in Zusammenhang steht. Jungfrau! Man hat mit ihr bildgeschichtlich viel gemacht, so viel wie wohl mit keiner zweiten Figur auf diesem Globus – selbst im Vergleich mit der Christusfigur hat Maria wahrscheinlich die Nase vorn.
BS: Doch ist bei Kris Martin die Ebene der Bildzerstörung nur eine von vielen, das macht den Reiz der Arbeit aus. Ein Kunsthistoriker, eine Kunsthistorikerin mag eher an René Magritte und den belgischen Surrealismus denken: Etwas, das ursächlich nicht zusammengehört, wird zusammengebracht. Vom Surrealismus ist es nicht weit zur Psychoanalyse.
JR: Fumaria bedeutet auch „Erdrauch“. Die sehr alte Heilpflanze erlaubt viele Assoziationen in Richtung Maria, vielleicht auch zur Mutter Erde als solche. Maria steht aber nicht nur für den Körper der Jungfrau. Ihr Leib – ihr Bauch – wurde auch zum Schrein oder zum Gefäß für die Gottheit. Das sind eigentlich unglaubliche Bildfindungen! Sie machen die innigste emotionale Beziehung – das Thema von Fruchtbarkeit als göttliche Erfahrung, die Macht eines mütterlichen Schutzes – kulturell sichtbar. Feministische Lesarten bzw. entsprechend mächtige „Gegenentwürfe“ sind gerade an dieser Stelle besonders wichtig. Die ungewöhnlichen Aneignungen von Ulrike Rosenbach, Birgit Jürgenssen, Louise Bourgeois und VALIE EXPORT eröffnen Diskurse über geschlechtliche Rollen überhaupt, über Macht, Fruchtbarkeit, Sexualität, Hingabe, Aufopferung und mediale Aneignung.
BS: Ulrike Rosenbach widmet sich in ihrer Video-Arbeit Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin unvereinbaren Frauenrollen, wenn sie aufzählt: „Ich bin eine Amazone“, „Ich bin eine Madonna“, „Ich bin eine Venus“, „Ich bin alle zusammen und keine von diesen“. Sie schießt nicht nur Pfeile auf die Abbildung der berühmten Madonna im Rosenhag von Stefan Lochner (1451), sondern trifft im Grunde genommen auch ihr eigenes Bild, mit dem sie dasjenige der Madonna immer wieder überblendet. Es ist eben schwer, stereotypen Frauenbildern zu entkommen!
KB: Bei diesen Beispielen gilt es, Anklänge an populär vermarktete Frauenbilder zu dechiffrieren. Das war ein wichtiges Anliegen dieser Künstlerinnen. In EXPORTs Marien-Re-enactments etwa werden nicht nur Kunstgeschichte und religiöse Vorbilder kritisch unter die Lupe genommen, sondern auch ihr Weiterleben in der Werbung und Sprache analysiert und – gerade bei Jürgenssen, über den Vergleich mit religiösen Frauenbildern – dekonstruiert.
Mit Karol Radziszewski und Maja Bekan dekonstruieren zwei zeitgenössische Positionen Bilder und Mythen von Weiblichkeit und Männlichkeit und beschäftigen sich mit sich wandelnden Identifikationsfiguren. Sie gehen darin verschiedenen Formen der Übertragung und Aneignung auf den Grund. Bekan etwa widmet sich in At Some Point We All Have to Dance Vermittlungspraxen zwischen dem Museum und dem Kloster und untersucht diese auf ihre Ähnlichkeit. Mit dem Titel auf eine berühmte Performance referierend, verweist sie auf die Notwendigkeit von Mut und persönlicher Investition zugunsten von Veränderung. In einem performativ angelegten Workshop spürten die eingeladenen Frauen – wie in den meisten kirchlichen Schulen Österreichs ist die personelle Vermittlung im Museum zu gut 90 % in weiblicher Hand – einem Bild von Erziehung als weibliches Tätigkeitsfeld nach und sprachen über ihre Praxis des Förderns und Vermittelns.
JR: Die Figur Marias hat aber auch noch ein weiteres Bild in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt: Sie schützt Menschen unter ihrem Mantel. Unter einem solchen Mantel einer Schutzmantelmadonna aus der Mitte des 14. Jahrhunderts tummeln sich kleine Menschlein, die dort Zuflucht gefunden haben.15 Noch sind sie alle gleich groß. Erst später werden darunter auch unterschiedliche Stände vertreten sein – von den einfachen Bauern bis zum Herzog, Kaiser und Papst. Die Einfachheit der Darstellung besticht ebenso wie die fehlende Differenzierung in soziale Hierarchien. Wer besitzend war, konnte im Rechtsbrauch des Mittelalters einer Person durch Bedecken mit dem eigenen Mantel rechtlichen Schutz gewähren. Eine Frage stellt sich angesichts dieser ungewöhnlichen Zusammenstellung von Schutzmantelmadonna und ornamentaler Bleistift-Zeichnung von Iris Andraschek sofort ein: Wie halten wir es heute mit den Schutzsuchenden? Die Zeichnung ist während einer Reihe von Nachmittagen mit Frauen der Notschlafstelle der Caritas – im Rahmen des Projekts „Die Kunst des Helfens“, wesentlich getragen von der Akademie Graz – entstanden. Sie erinnert an ein Tattoo persönlicher Traumata der Frauen. Die eine erzählt von Flucht, die andere von Gewalt. Die Zeichnung gibt der historischen Helferin ihre Aktualität zurück.