Identifikation & Nähe
Aus: Reflektiert zeitgenössische Kunst das Christentum? Ein kuratorisches Gespräch zwischen Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger und Barbara Steiner | Is Christianty Reflected in Contemporary Art? A conversation between Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger and Barbara Steiner, in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art, herausgegeben von | edited by Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn 2018, S. | p. 106-115 .
Barbara Steiner: Karol Radziszewski untersucht in seiner installativen Arbeit verschiedene Formen der Aneignung am Beispiel von Maria Padilha, der „Königin der Marien“. Sie ist eine zentrale Figur, die in den lateinamerikanischen Kulten der Umbanda und Candomblé auftaucht, die wiederum der Synthese von Katholizismus und afrikanischen Naturreligionen entsprungen sind. Götter erhielten eine heidnisch-katholische Doppelidentität, die bis heute überdauert hat. Maria Padilha steht für eine ungebändigte Sexualität und verkörpertdie unabhängige Verführerin, was sich auch in der Art der Opfergaben – u. a. Champagner, Lippenstift, Parfüm, rote und schwarze Kerzen, Bänder, Rosen – spiegelt, die ihr dargebracht werden. Diese Figur bildet zusammen mit der heiligen Kümmernis (Wilgefortis) aus dem Grazer Diözesanmuseum den Ausgangspunkt für Radziszewskis Installation.Die Legende erzählt von der Tochter eines heidnischen Königs, die sich als Christin gegen ihre Verheiratung mit einem Heiden wehrte. Ihre Gebete, der Heirat zu entgehen, wurden erhört: Ihr wuchs ein Bart. Der Vater ließ die Jungfrau daraufhin – wie Christus – durch Kreuzigung hinrichten. Diese beiden Figuren, ergänzt durch Leihgaben aus dem Grazer Volkskundemuseum, kreisen um Aberglauben, heidnische und christliche Rituale, aber auch um das Spiel von Identitäten und Geschlechterrollen. Interviews mit lokalen Vertretern der LGBTIAQ-Communities (lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexual, ally, queer*)geben Einblick in verschiedene, teilweise höchst individuell praktizierte Formen des Glaubens. Radziszewski setzt auf die befreiende Kraft der Aneignung und Umdefinition – und das ist „queering“ im besten Sinn –, verstanden als Emanzipation von zugewiesenen und konstruierten Rollenzuschreibungen. Da nimmt es auch nicht wunder, wenn er und viele andere angesichts der heiligen Kümmernis an Conchita Wurst denken.
Johannes Rauchenberger: Die Sympathie, mit der wir uns an christliche Bildwelten herantasten, führt uns erneut zu unserem Ausstellungstitel. Liebe fächert sich auf in Mutterliebe, Vaterliebe, Tochterliebe, Sohnesliebe – Liebe, das zentrale Wort seiner inhaltlichen Botschaft, differenziert sich gerade im Christentum in religiöse Bilder. Und zwar mehr, als man ihm vielleicht vordergründig zutraut! Die klassische Liebe von Mann und Frau findet vor allem in der Mythologie ihre kulturellen Bilder, in der christlichen Bildgeschichte ist es das Adam-und-Eva-Motiv, das am Ende des Mittelalters und vor allem in der Renaissance seine reiche Entfaltung fand. Zur Nacktheit, auch zur Lust, gesellt sich da allerdings immer die Schlange, nicht selten mit Gesicht.[16]Es findet sich eine Reihe von Bildernmit allen Ambivalenzen. Sie sind für latente Sehnsuchtsbilder, sie sind aber auch für psychoanalytische Interpretationen wie gemacht ... Es sind Bilder, an die wir in unserem Ausstellungszusammenhang nicht sofort gedacht haben. Aber radikaler geht es wohl kaum.
BS: Manchmal braucht es eine gewisse Radikalität, um zum Wesentlichen durchzudringen. Vergegenwärtigen wir uns den Wortsinn von „radikal“ – man setzt „an der Wurzel“ an, um etwas, das verborgen oder verdrängt ist, ans Licht der Öffentlichkeit zu holen. Wenn etwa die Zuneigung und die Liebkosungen von Menschen, die sich im fortgeschrittenen Stadium der Parkinson’schen Krankheit befinden, als anstößig betrachtet werden, dann hat es auch viel mit dem Blick derjenigen zu tun, die sich den Film The Art of Lovingvon Artur Żmijewskianschauen. Doch natürlich ist sich der Künstler genau dieser doppelten Codierung von hingebungsvoller Liebe und körperlicher Lust bewusst – wie auch Danh Võ. Es ist kein Zufall, dass sich seine Arbeit mit der „Caritas Romana“ befasst: Pero, eine junge Frau, besuchte ihren Vater Cimon täglich im Gefängnis, um ihn mit der Milch ihrer Brüste zu nähren und so vor dem Hungertod zu bewahren. Das Motiv wurde oft gemalt – eines davon, dasjenige, das wir zeigen, befindet sich ansonsten in der Alten Galerie des Joanneums.
Diese Erzählung von Cimon und Pero wurde zum Symbol christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit, doch im Grunde genommen werden zwei starke Tabus überschritten: zum einen das Tabu, einem Erwachsenen die Brust zu geben, und zum anderen das Inzest-Tabu. Võlegt sein Augenmerk ebenfalls auf das Kippmoment von selbstloser Tochterliebe und erotisch-sexuellen Anspielungen. Die zum Gemälde platzierte „Nestlé-Box“ stellt einen Bezug zum Nähren her, hatte doch das Unternehmen die Verwendung von Milchpulver als Alternative zum Brustfüttern vor allem in Entwicklungsländern mit dem Werbeslogan „Am nächsten an der Muttermilch“ propagiert. Zynisch ist das insofern, als dieses Produkt von Kritikerinnen und Kritikern wiederholt beanstandet wurde. Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit Nestlé war der Skandal um den Verkauf von verunreinigtem Milchpulver, an dem sogar einige Babys gestorben sind.Auf der Kartoninnenseite findet sich in Schönschrift die Frage: „Do you know what she did, your cunting daughter?“ Damit stellt Võ einen Bezug zum Film Der Exorzist(1973) her. Unvermeidlich ist wohl auch an Andy Warhols Brillo-Boxzu denken. Doch Võ zieht die Arbeit aus dem Kontext der hedonistischen Pop-Art ins Gesellschaftspolitische.
Ja, die Arbeiten sind radikal. Im übertragenen Sinn könnte man auch sagen: Einige der hier vertretenen Künstlerinnen und Künstler behandeln uns an der Wurzel, und das ist nicht immer angenehm.
Katrin Bucher Trantow: Was uns zurückbringt zur Wirkmacht des Abbilds, zu den Bildern der großen Lebensthemen wie Leid oder Liebe, wie drohender Tod und unfreiwillige Komik. Bei Artur ŻmijewskisArbeit Die Kunst des Liebensergreift uns das sprechende Bild der menschlichen Nähe, das im schonungslos alternden, kranken Körpers den schwindenden Geist und einen schmalen Grat zwischen Hingabe und Ausgeliefertsein, zwischen Sohnes- und Mutterliebe sowie Inzest zeigt.
JR: Friedrich Nietzsche hat zwar über das Christentum als die Religion des (Mit-)Leids gespottet, dass dieses aber Mitleiden und Barmherzigkeit derart geadelt hat, ist menschheitsgeschichtlich wohl ihr größtes kulturelles Verdienst. Dass der „Übermensch“ die Alternative sei, hat in der Folge die Geschichte jedenfalls aufs Grausamste falsifiziert. Papst Franziskus erklärte im Jahr 2016 Barmherzigkeit sogar zur Herzschlagader der Kirche. Dies darf man an dieser Stelle, die ja gerade auch an einer kritischen künstlerischen Auseinandersetzung interessiert ist, nicht unerwähnt lassen. Kritikerinnen und Kritiker jenes Jahres haben dabei allerdings geunkt, Barmherzigkeit verstünde man heute gar nicht mehr.
KB: Gerade Papst Franziskus erwähnte allerdings auch, dass Barmherzigkeit nicht allein das Christentum auszeichnet, sondern als starke Verbindung zwischen den Religionen fungiert. Er wies darauf hin, dass viele Religionen die Barmherzigkeit als zentrales Motiv der eigenen Religion erkennen – so auch das Judentum oder der Islam, der den Koran mit der Zeile „Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Allbarmherzigen“ beginnen lässt. Im Hinduismus ist das tätige Mitgefühl ebenfalls eine tragende Säule – so wie auch im Buddhismus. Jeremy Rifkin argumentiert, dass das Menschsein grundsätzlich empathisch und damit barmherzig ist.[17]Das Christentum hat daraus vernetzte Hilfsorganisationen wie die Caritas zustande gebracht. Es hat aus Barmherzigkeit aber auch immer wieder eine spekulative Angelegenheit gemacht.
JR: Sprachgeschichtlich kommt Barmherzigkeit von „erbarmen“. Das „Erbärmdebild“, bei uns besser bekannt als die „Pietà“, ist im 14./15. Jahrhundert als Andachtsbild jenseits des offiziellen Kults entstanden. Es diente der Trauer der Einzelnen und zielte auf das Mitleiden ab. Das Thema: Maria hält ihren toten Sohn auf dem Schoß. Diese spätmittelalterlichen „Vesperbilder“ strahlen noch heute eine ganz seltsame Anmut aus. Am Beginn des 15. Jahrhunderts gleichen auch sie sich den „Schönen Madonnen“ an, wie gerade die in der Steiermark bekannten Pietà-Darstellungen zeigen – etwa die „Admonter Pietà“ oder jene in der Weizbergkirche. In unserer Ausstellung haben wir aber keine Pietà, wiewohl die Sitzende Madonna mit Kind(1420/30) auf den ersten Blick so aussehen mag.[18]Maria hält einfach ihr Kind, das getragen und geschaukelt werden will– und dennoch denken wir im ersten Hinsehen an eine Pietà! Der Blick Marias ist nicht dem Kind zugewandt, sondern der Betrachterin, dem Betrachter. Er gibt auch eine melancholische Innerlichkeit preis, die von einer überzeitlichen Ahnung des letzten Tragens dieses Kindes nach seinem qualvollen Tod am Kreuz Zeugnis gibt. Insofern ist die erste Assoziation doch nicht falsch. Über die Beziehung zwischen Mutter und Kind wirdwieder der Bogen zu Artur ŻmijewskisVideoDie Kunst des Liebensgespannt. Im Kontext unserer Ausstellung ist die „Pietà“ freilich weniger das Sinnbild für das Mitleiden mit Maria angesichts ihres toten Sohnes, für das sie frömmigkeitsgeschichtlich gestanden hat, als vielmehr das Bild einer innigen Beziehung.
BS: Interessant finde ich bei Żmijewski, dass der Film moralisch und amoralisch gleichermaßen ist. Er stellt Fragen nach moralischem und nicht bloß nach ethischem Handeln. Denn Moral ist normsetzend, man beurteilt und urteilt. Diese subjektive Komponente setzt Żmijewskiganz gezielt ein, indem er die Zuschauerinnen und Zuschauer geradezu zu moralischen Urteilen provoziert. Amoralisch ist der Film insofern, als im Film selbst nicht geurteilt wird, wie wir auf seine Protagonistinnen und Protagonisten schauen sollen.
JR: Der oft äußerst verflochtene Zusammenhang von Leiden und Lieben kann zu einer äußerst gefährlichen Gratwanderung werden. Ich kenne keine Religion, die mit ihren Bildern so ungeniert an dieser Gratwanderung teilgenommen hat wie das Christentum. Aber die Lust am Leiden wurde auch sinnlich übersteigert: Wie zahlreich sind doch Bilder aus der Frömmigkeitsgeschichte, in der die Wunde Christi zur Vulva wird! Die Partizipation am Leiden Christi sozusagen als Quelle der Lust ... Zum Topos der„Wunde“[19]im christlichen Bildgedächtnis und in der modernen Kunst gab es vor Kurzem eine beeindruckende Ausstellung in Bochum zu sehen.
BS: Allerdings ist im Christentum – zumindest historisch gesehen – Lust nicht von Sünde zu trennen. Bei Aurelius Augustinus verschmolzen Lust-, Körper- und Sexualfeindlichkeit. Er brachte theologisch die Übertragung der Erbsünde mit der Lust beim Geschlechtsakt in Zusammenhang. Und Erbsünde bedeutet den ewigen Tod! Sexualität wurde damit als Entartung, Krankheit, Verderben der Unversehrtheit gesehen und bildete den Grund für Widerwillen und Abscheu. Doch ist es mitunter verblüffend, wie detailliert man sich der Thematik widmete und welch rigide Regelkataloge aufgestellt wurden – sowohl bei Aurelius Augustinus als auch bei Thomas von Aquin. Das sind sicher zwei besonders extreme Fälle in der Kirchengeschichte, aber doch auch ein Stück weit signifikant.
KB: Die Ambivalenz der Lustfeindlichkeit und das reale, aber umso verstecktere Ausleben haben bis heute gerade die katholische Kirche und den katholischen Bildungsbereich enorm belastet. Einige Kapitel wie körperliche Übergriffe in kirchlichen Kontexten werden mitunter durchaus mutig angegangen – wie im Fall der Errichtung verschiedener kirchlicher Ombudsstellen –, an anderer Stelle bleiben Vergehen weiter unausgesprochen und verdrängt. Wenn auch der Papst inzwischen von Sexualität jenseits des erlaubten Zeugungsaktes spricht, ist Lustfreundlichkeit auch heute nicht unbedingt das, was die katholische Kirche prägt.
JR: Trotzdem sieht es für mich nicht so aus, dass sich Lustfeindlichkeit tatsächlich durch die ganze Geschichte gezogen hat – sonst wäre etwa Berninis Teresa von Avila nicht möglich gewesen. Man kann historisch gesehen dem Katholizismus vieles vorwerfen, aber nicht einen Mangel an Sinnlichkeit.
KB: Nein, durchaus nicht. So wie etwa in den Legenden von Cimon und Pero oder der – gern als abseitig eingestuften – zweigeschlechtlichen Volksheiligen Wilgefortis finden sich immer wieder Grauzonen, die nur über eine Betonung der Opferbereitschaft der Dargestellten ihre Legitimation erhalten. Beides sind übrigens Figuren, die in unterschiedlichen Kulturkreisen bekannt sind und sich in die christliche Kultur hineingedrängt zu haben scheinen. Im Falle von Cimon und Pero existiert etwa auch eine griechische Version.
BS: Als ich zum ersten Mal las, dass die katholische Moraltheologie noch 1940 zwischen ehrbaren und nicht ehrbaren Körperteilen differenzierte, konnte ich dies kaum glauben. Ehrbar waren: Gesicht, Füße, Hände, weniger ehrbar: Brust, Rücken, Arme, Schenkel, und nicht ehrbar alle Geschlechtsteile und ihnen nahe Partien. Mit der Sexualverachtung und auch Sexualangst inklusive allen negativen Folgen für Beziehungen und Zusammenleben haben sich viele Künstlerinnen und Künstler befasst, oft weil sie selbst aus einem katholischen Elternhaus kamen und dort Lust-, Körper- und Sexualfeindlichkeit erfuhren.
JR: Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin sind sehr ambivalente Figuren. Und an dem, was du noch aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts anführst, ist nichts zu beschönigen. Aber es gibt vielleicht eine Ahnung ab, welcher Tsunami sich durch den Zusammenbruch all dieser Gedankengebäude, die sich eigentlich erst im 19. Jahrhundert durch die Installierung der sogenannten „Neuscholastik“ verfestigt hatten, ausbreitete, als sich die Kirche im II. Vaticanum zu erneuern suchte ... Wusstest du, dass der Esstisch des heiligen Thomas von Aquin ausgeschnitten werden musste, damit sein dicker Bauch darin Platz hatte? Der größte Theologe der Christenheit hatte offenbar ziemliche Lust zu essen. Davon unabhängig zählen seine Sentenzen zu den klügsten Sätzen christlicher Theologie, die auch heute noch faszinierend zu lesen sind. Der heilige Augustinus wiederum hat offenbar vieles von dem so negativ bezeichnet, was er in seinem „ersten“ Leben gründlich durchgelebt hatte. Aber es wäre natürlich lächerlich, würde man seine großen Sätze nicht auch zur Kenntnis nehmen. Ein Künstler, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, hat vor wenigen Jahren zum Beispiel bei einer Kirchenneugestaltung folgenden Satz „ausgegraben“, der mich bis heute sehr beeindruckt: „VERIUS ENIM DEUS COGITATUR QUAM DICITUR ET VERIUS QUAM COGITATUR“ – „Wahrer nämlich wird Gott gedacht als ausgesprochen, und er ist wirklicher, als er gedacht wird.“[20]
-
[16]Vgl. Alex Stock, Poetische Dogmatik. Schöpfungslehre. 2. Menschen, Paderborn 2013.
-
[17]Jeremy Rifkin, The Empathic Civilisation: The Race to Global Consciousness in a World in Crisis, New York 2010.
-
[18]Vgl. Biedermann, Katalog Alte Galerie am Landesmuseum Joanneum, S. 230 (Abb. Nr. 135).
-
[19]Deine Wunden. Passionsimaginationen in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Kunst der Moderne, hg. von Reinhard Hoeps und Richard Hoppe-Sailer, Ausst.-Kat. Situation Kunst (für Max Imdahl), Bochum, 25.4.–30.8.2014), Bielefeld/Berlin 2014.
-
[20]Der Künstler Klaus G. Gaida hat das Zitat aus Augustinus' 12-bändigem Werk Über die Trinitätim Jahre 2009 an der Eingangswand der Kirche des Augustinums in Graz, dem Bildungszentrum für junge Menschen der Diözese Graz-Seckau, angebracht.