Wunder & Übertragung
Aus: Reflektiert zeitgenössische Kunst das Christentum? Ein kuratorisches Gespräch zwischen Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger und Barbara Steiner | Is Christianty Reflected in Contemporary Art? A conversation between Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger and Barbara Steiner, in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art, herausgegeben von | edited by Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn 2018, S. | p. 116-121.
Johannes Rauchenberger: Am religiösen Bild haften Bildmagie, Zauber und Kraft für Heilung: Daran haben sich bereits im Bilderstreit des 6. bis 8. Jahrhunderts die Geister gerieben, die zu Bildzerstörungen führten. Die Kritik an der Bildmagie sollte in der Geschichte nie mehr abebben, auch der Ikonoklasmus nicht. Präsent aber ist Bildmagie über die Jahrhunderte bis heute. Im romanischen Tragaltärchen, im Holzschnittzyklus über die „Wunder von Mariazell“, im Video von Harun Farocki, der vielfach vorgeführte „magische“ Orte aus aller Welt – christliche, jüdische oder einfach historische Erinnerungsorte – zusammenführt, werden wir in der Ausstellung Zeuginnen und Zeugen wundersamer Übertragungen. Die Werke führen hier einen Dialog aus der Perspektive unterschiedlicher Geschichts-, Bild- und Gesellschaftskonzepte: Harun Farocki setzt dabei dokumentarische Darstellungsweisen künstlerisch ein. Neben den Verhaltensweisen, die Menschen an derartigen Orten an den Tag legen, geht es aber wohl auch um die Frage, ob es tatsächlich eine Kraft gibt, die von heiligen Orten ausgeht. Rom, Jerusalem, Santiago waren in der christlichen Religionsgeschichte die bedeutendsten. In Farockis Video sehen wir ja einiges davon, etwa wie sich Menschen durch das Hinlegen auf den Salbungsstein Christi in der Grabeskirche von Jerusalem, das Berühren der Zehe des Heiligen Petrus im Petersdom in Rom oder durch das erneute Aufdrücken am Fußabdruck Mariens magische Kraft holen ...
Im kleineren Kosmos von Ländern sind es dann Wallfahrtsorte, die – fast immer mit entsprechenden Gründungslegenden versehen – zu derartigen Orten geworden sind. Selbst der Ursprung von Seckau geht auf eine solche Legende zurück: Das „Gnadenbild von Seckau“, ein kleines Relief einer „Nikopaia“ aus dem Umkreis Venedigs des 12. Jahrhunderts, wurde der Legende nach von Adalram von Waldeck genau dort gefunden, wo das Kloster entstehen sollte: „Hic seca!“ („Hier fälle!“). Es wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten zu einem der wichtigsten Wallfahrtsziele des Mittelalters in der Steiermark. Am Wunderglauben scheiden sich die Geister, auch die theologischen ...
Katrin Bucher Trantow: Wunder – reale oder fiktive – haben dazu geführt, dass man an diesen Orten großartige Architektur gebaut hat. Diese hatte selbst einen Auftrag und besitzt bei vielen Menschen auch heute noch die Macht, nicht nur zu beeindrucken, sondern manchmal sogar zu trösten, in gewissem Sinne auch zu beseelen. Viele Zeitgenossen erfahren dies in alten Klöstern, wovon es ja in der Steiermark auch mit St. Lambrecht, Vorau, Admont, Rein oder Seckau einige gibt. Norbert Trummer hat ebendiese Klosterarchitektur der Abtei Seckau in seinen Zeichnungen porträtiert und ihr in Nahaufnahmen etwas von ihrer ornamentalen Schönheit und Stille abgerungen. Oder denken wir an die Bilder der Fotografin Inge Morath, die ihre Heimat, das steirische Grenzland, 2001 auf einer ihrer letzten Reisen äußerst feinfühlig porträtierte. Ihre Bilder von der Grenze zeigen eine religiöse häusliche Kultur, wie wir sie zwar kennen, heute aber nur mehr selten – und wenn, dann auf dem Land – finden. Die Bilder strahlen durch den Filter der klassischen Schwarz-Weiß-Fotografie gesehen Heimeligkeit, Wärme und gleichzeitig die Enge dieser über Jahrhunderte umkämpften Region und seine nachwirkenden Traumata aus. Sie zeigen uns ein Land, geprägt – wie ein Großteil des einst armen Europas – von religiösen Symbolen, angeeignet und erst heute „heimelig“ geformt.
JR: Aus Inge Moraths Fotografien des südsteirischen Grenzlandes – ein größerer Block ist in der Parallelausstellung Grenze Öffnung & Heimat auf Schloss Seggau zu sehen – spricht ein enormer Respekt vor den dort noch vorhandenen, von Generation zu Generation weitergegebenen Riten, die teils vielleicht schon und teils vielleicht noch nicht Geschichte sind. Besonders berührend finde ich die aus den Palmbuschen des jeweiligen Jahres geformten Kreuze auf den Stalltüren, die wohl Segen bringen sollten. Die Tür wurde Jahr für Jahr so benagelt. Irgendwann fallen die Zweige dann aus Trockenheit ab. Das Kreuz, ein Segenssymbol, ist übrigens älter als das Christentum selbst. Bereits im Alten Testament (beim Propheten Ezechiel!) findet man Stellen, wie ein Kreuzzeichen zum Schutzzeichen wird und damit buchstäblich Leben rettet.
Barbara Steiner: Wenn man mit existenziellen Grenzerfahrungen – wie einem Schicksalsschlag oder der Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit – konfrontiert wird, kommt die Hoffnung nach Heilung, Wunder, Energie, Kraftübertragung, die mit Religion verbunden ist, plötzlich hoch. Dabei hat Kirche ihr einstiges Monopol schon lange verloren, andere haben diesen Platz längst viel mächtiger besetzt, nicht nur die klassische Schulmedizin. Gurus und Heilerinnen werden immer populärer.
JR: Die Heftigkeit, mit der diese Fragen dann – oft unter der Decke der öffentlichen Sichtbarkeit – debattiert werden, ist erstaunlich. Eine Ausstellung, die ihren Anlass in der jahrhundertealten Geschichte des Christentums dieses Landes hat, kann sich deshalb nicht an dem vorbeischwindeln, was historisch an Bildern zu diesen alten Fragen produziert worden ist. Um an das S.O.S.-Signal von Franz Kapfer in der Needle des Kunsthauses zu erinnern: MARIA! Jedenfalls fällt einem mit dem Blick auf die alten Bilder ziemlich schnell ein Auseinanderdriften zwischen einem offiziellen bzw. einem „propagierten“ Glauben und einem Volks- oder Aberglauben auf. Man hat die erzählten Wunder freilich auch propagandistisch zu verwerten gewusst. Der „Kleine Mariazeller Wunderaltar“[21]aus der Alten Galerie ist ein derartiges Beispiel. Der St. Lambrechter Abt machte Anfang des 16. Jahrhunderts gezielt für Mariazell mit dem Medium der Tafelmalerei Werbung – zu einer Zeit, als Mariazell mit der „Schönen Madonna“ von Regensburg Konkurrenz erhalten hatte, weshalb es wohl notwendig geworden war ... Beim „Großen Mariazeller Wunderaltar“[22]– der seine Vorbilder in Holzschnitten aus dem Jahre 1520 hat, von denen wir in der Ausstellung 25 Faksimiles (datiert 1883) zeigen – sind es insgesamt sogar 48 Szenen, die szenisch umgesetzt wurden und von der Macht der wundertätigen Madonna sprechen! Und nur kurze Zeit später sollte die Reformation über dieses Land „hereinbrechen“ und zumindest seine Eliten innerhalb nur weniger Jahre vollständig protestantisch machen. Das Landhaus zeugt noch heute davon, dass Graz einige Jahrzehnte zur Gänze protestantisch war! Von einem „Wunderglauben“, wie es die Votivbilder an den Wallfahrtsorten hierzulande zeigen, haben sich nicht nur die damaligen Reformatoren, sondern hat sich auch die Theologie in den letzten Jahrzehnten gänzlich distanziert. Vielleicht verträgt er sich auch nicht mit einem auf Vernunft aufgebauten Glauben. Der Aufklärungskaiser Joseph II. ließ in seiner radikalen Reformdekade von 1780 bis 1790 all diese Bilder entfernen oder sogar – wie in Mariazell oder in Mariahilf – vernichten. Aber während in Mariahilf an direkten Votivbildern nichts mehr nachgefolgte, ist die Schatzkammer von Mariazell derart mit Bildern voll, dass auch einem hartgesottenen Religionskritiker dort die Knie weich werden dürften. Da tun sich ziemliche Abgründe auf, wenn man in die Geschichte blickt. Jedenfalls ist ein „Zurück zum Wort“ in der Geschichte der Reformen im Christentum gerade dann zu beobachten, wenn sich die Wunder- und Legendenbildung häuft. Aufklärung also ist das notwendige Gegenwort.
KB: Die Frage, ob wir heute noch an Wunder glauben dürfen, stellt sich einer wissenschaftsgläubigen Gesellschaft neu. Wenn die Wissenschaft für alles eine Erklärung bietet, werden Wunder durch Medizin, durch harte Arbeit oder Leistung oder einfach durch Glück und Zufall ersetzt. Eine mitunter naiv anmutende Kraft des Glaubens wird damit verdrängt.
JR: Dennoch ist die Faszination von Magie, Wunderglaube und Reliquienkult auch in ihrer profanierten Form nicht verschwunden. Der kroatische Künstler Zlatko Kopljar verhandelt diese Fragen über den Kult- und Magieaspekt der säkularen Kunst, wenn er das MoMa in New York und die Tate Modern in London, die beiden Museumsikonen für Gegenwartskunst, als Reliquiare vorführt. Die Bronzeabgüsse sind versilbert und tragen Patina. Zumindest eine Spielart der zeitgenössischen Kunst hat sich als selbst ernannte Erbin der Religion jene Kräfte und Präsenzbehauptungen zu eigen gemacht, die einst religiöse Bilder auszeichnete: Aura, Wahrheit, Unbedingtheit, Deutungshoheit. Ihr sakrosankter Status wird hier auf die Bildebene von Reliquiaren übertragen, die man früher aus dem religiösen Kontext kannte. Die Hüllen von Kopljars Reliquaries sind allerdings fest verschlossen. Diese erinnern auch an eine frühere Arbeit Kopljars, als er das MSU in Zagreb über Nacht mit einem großen Betonblock verschloss. Jedenfalls muss man das alte Problem der Theologen – das, was jeweils geglaubt wird, in vernünftige oder kanalisierte Bahnen zu lenken – auch als ein gegenwärtiges Problem betrachten.
KB: Was kann das heute heißen – „vernünftig glauben“, „vernünftigen Kult“ betreiben? Nicht erst seit Xu Zhens 2016 gezeigter Synkretismus-Anleitung im Fitnessvideo-Format denke ich, Yoga wird die neue Religion, da es eine kluge Körper-Geist-Mischung aus Fitness, Körperkult und meditativ-rituellen Handlungen mit dem Anklang von Spiritualität zulässt – und breit interpretierbar ist. Aber genau hier schließt die wesentlichste Frage überhaupt an: Wer hat heute die Definitionsmacht darüber, was zu Religion werden kann? Wirklich jeder und jede selbst? Schaue ich auf meinen Sohn – und das ist eigentlich die Erfahrung fast aller Eltern derzeit – sind die neuen Leitfiguren die kurzlebigen „Influencer“ der sozialen Medien. Diese vermitteln neueste Kultobjekte, aber auch damit verbundene Haltungen. Allerdings ändern sich sowohl die Begehrlichkeiten wie auch die handelnden – oft von großen Firmen gekauften – Personen schnell, mitunter von heute auf morgen.
- [21]Vgl. Krenn, Woisetschläger, 800 Jahre Kunst in der Steiermark, S. 47.
- [22]Vgl. Biedermann, Katalog Alte Galerie am Landesmuseum Joanneum, S. 162–165 (Abb. 84, 85).