Opfer & Ritual
Aus: Reflektiert zeitgenössische Kunst das Christentum? Ein kuratorisches Gespräch zwischen Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger und Barbara Steiner | Is Christianty Reflected in Contemporary Art? A conversation between Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger and Barbara Steiner, in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art, herausgegeben von | edited by Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn 2018, S. | p. 122-129.
Johannes Rauchenberger: Eine Ausstellung, die nach den Prägungen der Kunst der Gegenwart durch religiöse Bildkultur fragt, kann sich nicht nur auf Bilder beschränken. Auch Rituale sind in den Blick zu nehmen, zumal Riten und Rituale ganz wesentlich Religionen strukturieren. Unser tägliches Leben ist von Ritualen geprägt, selbst wenn diese meist nicht religiöser Natur sind. Wenn unterschiedliche Verhaltensweisen, Kulturen und Religionen aufeinandertreffen, wird das bislang scheinbar Selbstverständliche hinterfragt, es kommt ins Wanken, Neues wird entdeckt. Mitunter ereignen sich Verschiebungen und Transfers, dabei kann auch Humor und Witz einen Platz finden ...
Barbara Steiner: Damit ist bereits die Position von Slavs and Tatars bestens beschrieben. Sie öffnen unsere Ausstellung hin zum Schiismus, zur zweitgrößten religiösen Strömung innerhalb des Islams. In ihrer Installation stellen sie mitunter überraschende Verknüpfungen zwischen den religiösen Ritualen von Katholiken und Shiiten her, verbinden die Riten im Monat Muharram mit katholischen Kreuzwegsprozessionen und nehmen dabei vor allem Leidensmeditationen und Selbstgeißelungen in den Blick. In ihrer Arbeit mischen Slavs and Tatars absichtsvoll Medien und Ausdrucksweisen, Hoch- und Populärkultur, esoterische und religiöse Traditionen, mündliche Überlieferung und akademische Analyse. Doch fehlt es ihrer Arbeit nicht an Leichtigkeit und Humor.
JR: Geht es dabei um einen Umgang mit Synkretismus? Er ist angesichts der globalisierten Welt wohl kaum vermeidbar und übrigens auch Teil der Religionsgeschichte dieses Landes, also der Praktiken und Riten, die von der Kirche gerne als „Aberglaube“ bezeichnet wurden. Im Volkskundemuseum kann man darüber viel Historisches lernen.
Der für das Verhältnis von Kunst und Kirche in Österreich so bedeutende Kunsthistoriker und Theologe Günter Rombold (1925–2017) versuchte mit dem Kurator und Kunsthistoriker Wieland Schmied (1929–2014) den größten Synkretismus an Hermann Nitsch [23]festzumachen. Er verteidigte ihn im katholischen Österreich mit dem Stichwort „Christus mit Dionysus versöhnen“,[24]zu einer Zeit, als man ihn noch mit allen Mitteln bekämpft hatte – gerade auch in Graz. Vielleicht wurde Nitsch damals in puncto Religion und Ritual ja auch zu heiß gekocht: Zwar sind die barocken Messkleider, die Utensilien und Monstranzen, die Kreuzanwandlungen unübersehbar. Doch angeblich habe Hermann Nitsch seine barocken Messkleider zu Beginn der 1960er-Jahre einfach genommen, weil sie ihm irgendwie „gefallen“ hätten. Er habe biografisch nicht am Katholizismus gelitten, er kam aus einem bürgerlichen Haushalt in Wien. Mit „Religion“ im engeren Sinne habe das – so behauptete auch der Grazer Galerist Gerhard Sommer, der einen enormen Fundus an Nitsch-Dokumenten aufarbeitet, im Vorfeld zu dieser Ausstellung – eigentlich nichts zu tun gehabt. Paradox scheint: Die damals zeitgenössische Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils begann sich gerade von der Opfertheologie zu verabschieden, als Hermann Nitsch dieses barocke Geschwülst aufs Sinnfälligste inszeniert hatte. Viele Kunsthistoriker legen jedenfalls den Finger in die Wunde: Österreichs Katholizismus ... Der Aktionismus sei anderswo unmöglich gewesen.
Katrin Bucher Trantow: Das glaube ich auch, etwa, wenn man das von ihm verwendete Vokabular betrachtet. Das reinigende Blut oder auch die märtyrerhafte Zerreißprobevon Günter Brus zeigen mir – dies ist aus heutiger Sicht evident – eine Hinwendung und gleichzeitige Abwendung zum und vom Katholizismus und seinen Riten. Im Aktionismus wurde neben den Riten auch die religiöse wie auch die gesellschaftliche Gemeinschaft nach ihren Regeln abgeklopft. Man sezierte und bediente das Kollektiv, zeigte dessen Grenzen auf, und in den Kommunen oder Performances abseits der Öffentlichkeit wurde auch ganz bewusst der gemeinsame Ausschluss mit einem spirituellen Führer an der Spitze – entsprechend den religiösen Glaubensgemeinschaften – zelebriert. In den Zirkeln stellte man zugunsten der eigenen erweiterten, körperlich-sinnlichen Erfahrung neue Regeln auf, und wie in Nitschs Orgien Mysterien Theater wurde Kunst zum durchaus auch zerstörerischen Taktmeister eines rituell erfahrbaren gemeinsamen, vielleicht sogar quasigöttlichen Tuns.
BS: Wenn wir Synkretismus allgemein im Sinne einer Vermischung verstehen, bei Nitsch konkret von christlicher Mystik, antiker Tragödie, Volkskultur, psychoanalytischen Erkenntnissen und philosophischen Anschauungen, dann finden wir einen solchen bei ihm. Doch ich frage mich, was wäre der „gemeinsame Feind“, dem man sich mit vereinten Kräften entgegenstellt – so wie die Kreter dies bei feindlichen Angriffen taten (Syn-Kreter), wie die Wortwurzel nahelegt. Ich denke, bei Nitsch war die Gegnerin eine feindselig gestimmte, bigotte Gesellschaft gewesen – zumindest zu Beginn seiner Aktionen. Was bei ihm allerdings nicht minder wichtig ist: das Fest. Insofern passt auch Schmieds Aussage sehr gut: „Christus mit Dionysus versöhnen“.
Eine von Nitschs frühen Aktionen 1963 hieß ja nicht von ungefähr Fest des psycho-physischen Naturalismus. Man erlebt im Verlauf der Aktion eine Abreaktion – und das bedeutet bei Nitsch eine außernormale Befriedigung im positiven Sinn. Nach der ekstatischen Aufladung folgt die Entladung, nach dem Exzess Katharsis und innere Harmonie. Nitsch sieht ja selbst eine Parallele zu religiösen Festen, die für ihn – vor allem in der Vergangenheit – ebenfalls eine psychohygienisch-entstauende Funktion hatten. So gesehen interessiert ihn am Christentum vermutlich in der Tat nicht der Glaubensaspekt, sondern vor allem das kultische Phänomen, vor allem die Mysterien der vor- und frühchristlichen Zeit. Die katholische Kirche hielt Nitsch stets für sinnenfeindlich. Ich würde Katrin recht geben wollen: Nitsch liefert eine Art „Gruppentherapie“, die religiöse Dimensionen angenommen hat. Kunst steigert sich zum „Heilsritual“.
JR: Kultische Rituale sind letztlich immer abgründig und dienen dem Bannen von Angst. Es geht am Ende sogar um das Bannen der Gewalt. Das ist ein sehr weites und natürlich sehr gefährliches Terrain, in das wir uns hineinbewegen – auch wenn uns die Kunst, die Geschichte oder eben die Gegenwart dazu „zwingen“. „Opfer“ ist zum Beispiel heute in der Alltagssprache der Generation meiner Kinder eine der schlimmsten Schimpffloskeln! „Opfer bringen“ wird nicht nur religiös, sondern auch politisch verwendet. „Wir alle müssen Opfer bringen“[25] dazu hat Hannes Priesch einen vieldeutigen Werkzyklus vorgelegt. „Opfer des Nationalsozialismus“ ist ein stehender Begriff für Menschen geworden, denen unfassbare Gräueltaten durch unsere eigenen Vorfahren widerfahren sind. „Holocaust“ bedeutet sogar „Ganzopfer“. Kann man heute überhaupt noch das Wort „Opfer“ in den Mund nehmen?
Im zentralen kultischen Ritual der katholischen Kirche, der Messe, dreht sich an entscheidenden Punkten (fast) alles um das Wort „Opfer“. Versucht man, dieser vermeintlich alten Sprache auch nur irgendetwas abzugewinnen, so ist es wohl eher ein ewiges Herbeireden des Opfers Jesu Christi, das in der Messe eben nicht blutig, sondern unblutig wiederholt wird, Tag für Tag, Sonntag für Sonntag, um – so das Versprechen – Erlösung für diese Welt zu erhalten. Vielleicht so, als ob sie gar nicht möglich wäre, diese Unblutigkeit zur Erlangung des Heils.
BS: Das zeigt doch wiederum, dass wir praktisch in allem mit den Widersprüchen rechnen und umgehen müssen, die den Konzepten innewohnen. Denn: Rituale sind nicht immer abgründig, sie stiften auch Gemeinschaft. Es sind also wichtige Gemeinschaftsformen, doch über Formierungen kommen schnell Abgründe ins Spiel. Mit dem Opfer verhält es sich ähnlich: Etwas herzugeben, auf etwas zu verzichten, auch wenn es einem schwerfällt, für einen anderen, ist durchaus eine vorbildliche soziale Eigenschaft. Doch natürlich wurde mit dem Einsatz dieses Begriffs auch Missbrauch getrieben – du hast ja die politisch-religiösen Instrumentalisierungen von Opferkult bereits angedeutet. Im Bereich der Kunst findet man ein feines Sensorium für solche Ambivalenzen und ein Interesse, das Unvereinbare zusammen zu denken. Jedenfalls hält man daraus resultierende Spannungen nicht nur gut aus, sondern verstärkt sie auch gerne – bildnerisch und inhaltlich – oder lässt absichtsvoll Lücken, Leerstellen, um Diskurse zu stimulieren. Kris Martinhält uns bei den All Saintsetwas vor – wir sehen nur leere Glasstürze. Damit entfällt auch die kultisch-religiöse Verehrung von irdischen Überresten, Körperteilen oder sonstigen Teilen des persönlichen Besitzes eines Heiligen. Doch aus derdienenden Funktion befreit, gewinnen die leeren Glasstürze als Objekte eine eigenständige Qualität und erzeugen eine melancholisch anmutende „Schönheit der Absenz“.
JR: Eine einmalige „Opfer“-Darstellung in unserer Ausstellung ist die grandiose Entwurfszeichnung von Johann Bernhard Fischer von Erlach für den Hochaltar in Mariazell (1656–1723), die sich heute in der Alten Galerie befindet. Darauf ist dieses ungeheure Geschehen über dem Globus – der ein Tabernakel ist! – dargestellt: Das Kreuz ist kein Kreuz, sondern ein Tau. Das Tau bezieht sich auf das „Te Igitur“ im 1. Hochgebet des Römischen Messkanons, eine Initiale, die in der Buchmalerei immer aufs Kostbarste gestaltet wurde, nicht zuletzt, um für den Priester zu markieren: Jetzt wird es ernst – „Te igitur“– „Dich aber, gütigster Vater, bitten wir …“ Und nach der Konsekration heißt es: „Dein heiliger Engel trage diese Opfergabe zu deinem himmlischen Altar vor deine göttliche Herrlichkeit.“ Gott aber, der selbst herabgeflogen erscheint – seine Füße sind noch im Gegenlicht zu sehen –, nimmt dieses Kreuz entgegen, doch nicht wie man es von einem traditionellen „Gnadenstuhl“ kennt, sondern er stellt sich mehr an seine Seite, weist das Kreuz oder schiebt es hinauf in den Himmel ... Diese Darstellung des himmlischen Opfers ist meiner Meinung nach eine von Weltrang.
Man hat dieses „Problem“ mit der Darstellung des Opfers dann leider – wenn auch aus sehr nachvollziehbaren Gründen – mehr und mehr auf ein Abstellgleis gestellt, obwohl wir mit dem Blatt des Fischer von Erlach gerade in der Steiermark eines der größten Kunstwerke dazu haben. Oft ist es nur mehr zur Peinlichkeit geraten. Der konservative Rand der Kirche hat das Thema schließlich so einseitig bedient, dass man es lieber nicht in den Mund nimmt.
BS: Um wieder den Bogen zu Slavs and Tatars zu schlagen: Nichts läge den beiden ferner, als Kunst im Sinne eines „Heilsrituals“ zu sehen. Sie arbeiten sehr analytisch und interessieren sich für Rituale insofern, als diese gemeinschaftsstiftende Funktionen innerhalb der jeweiligen Gruppe haben, aber auch in der Lage sind, Verbindungen zu anderen Gruppen herzustellen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Sie finden zwischen Katholizismus und Shiismus Parallelen, die zwar zunächst verblüffen, aber auf den zweiten Blick tatsächlich eine Brücke zu schlagen imstande sind. Auch fehlt es Slavs and Tatarsnicht an Humor. Ich denke sogar, dass diese Ebene in der Arbeit mit am wichtigsten ist, weil Humor jede Art von Orthodoxie – im Sinne einer Rechtgläubigkeit, die vielen Ritualen ebenfalls zu eigen ist – aufbricht.
Und um nochmals auf den Synkretismus zu sprechen zu kommen: Slavs and Tatarslassen verschiedene Elemente, Quellen und Materialien in einen Dialog, besser Polylog treten, so wie von Michail M. Bachtin als „Dialogizitätsmodell“ beschrieben. Ihre Arbeit ist hybrid, ja, aber die einzelnen Teile verschmelzen nicht miteinander.
KB: Azra Akšamija fördert wiederum absichtsvoll die Verschmelzung – zugunsten eines Entgegenkommens, wie etwa in ihrer mit dem Aga-Khan-Preis ausgezeichneten islamischen Friedhofsgestaltung, die sich sowohl auf lokale Vorarlberger Holztraditionen wie auch auf ornamentale Lichtwände aus islamischen Kontexten bezieht und ein Zusammenwachsen von Traditionen bewusst zelebriert. Ähnlich wie bei Slavs and Tatars werden bei Akšamija Rituale genutzt und dienen als Ausgangspunkt für gemeinsame Vorhaben. Ihre Arbeit der Stickmustersammlung mit dem Titel Diaspora Scroll dreht sich primär um weibliche Erinnerung rund um die Gestaltung religiöser und weltlicher Rituale, die gesammelt und konserviert werden. In ihrer Installation vergleicht sie digitale Prinzipien der Programmierung mit jenen des Stickens. Strukturen und Muster aus steirischen kirchlichen oder nicht kirchlichen Sammlungen setzt sie etwa jenen aus ihrer Heimat Bosnien gegenüber und findet verschiedene Symbole kulturell transferiert und migriert wieder. Etwa den Lebensbaum, der in unterschiedlichen Kulturen gestickt wird und interessanterweise jeweils kulturelle Identität und Verankerung in der Tradition symbolisiert. Konkret bietet sie in der Ausstellung auch einen Versammlungstisch an, den Stickerinnen während der Ausstellung nutzen, um Wissen auszutauschen und in Workshops sichtbar zu machen. Einerseits kritische Dekonstruktion von vermeintlich festgesetzten Grenzen – im Medium, Muster, den Gruppenzugehörigkeiten oder kulturellen Praktiken –, öffnet sich Akšamijas Installation einem Prinzip und einer Vision der Verbindbarkeit und befasst sich mit der konkreten Frage, was genau die Zukunft der Gemeinschaft ausmachen bzw. wie sich diese formieren kann.
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[23]Vgl. Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, Salzburg 1990.
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[24]Günter Rombold, „Christus mit Dionysos versöhnen (Hermann Nitsch)“, in: kunst und kirche, 1/1993, Heft 56, Darmstadt 1993, S. 62–64; Wieland Schmied, „Dionysos revoltiert gegen die Passion“, in: Hermann Nitsch, Passionen 1960–1990, Ausst.-Kat. St. Petri in Lübeck, 1991, S. 1–8.
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[25]Hannes Priesch, „Wir alle müssen Opfer bringen. | We All Must Make Sacrifices. (2015); Chapel of Pain: ,I wanted to suffer more, to show you how much I love you.ʻ (2017), in: Hannes Priesch, Chapel of Pain, hg. von Peter Wildbacher, artepari, Graz, www.artepari.com. Mit Texten von Mira Fliescher, David Kranzelbinder, Barbara Rauchenberger, Andreas Spiegl und Hannes Priesch, Weitra 2018.