Zugehörigkeit & Ausschluss
Aus: Reflektiert zeitgenössische Kunst das Christentum? Ein kuratorisches Gespräch zwischen Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger und Barbara Steiner | Is Christianty Reflected in Contemporary Art? A conversation between Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger and Barbara Steiner, in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art, herausgegeben von | edited by Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn 2018, S. | p. 130-137.
Johannes Rauchenberger: An Ritualen sind vielfach auch die Codes von Zugehörigkeit und Ausschluss abzulesen. Blickt man in die Religions- bzw. Ritualgeschichte, so hat der Katholizismus lange über ganz spezielle Rituale funktioniert, gerade auch in diesem Land. Ich nenne nur einige: Das Sich-Bekreuzigen, das Angelus-Beten zu Mittag, der sonntägliche Kirchgang, das Fleischfasten am Freitag und zur Fastenzeit, das Teilnehmen an Prozessionen wie bei den Bitttagen vor Pfingsten oder auf den Kalvarienbergen, die Wallfahrten zu den jeweiligen Marienwallfahrtsorten, die wenigstens jährliche Beichte sowie die tradierten Riten bei einem Todesfall. Heute werden diese Verhaltensweisen und Bräuche fast nur mehr im Volkskundemuseum thematisiert. Die Kirchenhistoriker erklären gerne, wie sich das Wiedererstarken der Kirche in und nach der Gegenreformation über Wallfahrten und Prozessionen (und einschlägigen Fahnen, die man noch heute in Kirchen sieht) oder im 19. Jahrhundert mit der Gründung von katholischen Vereinen und ihren jeweiligen ästhetischen und rituellen Codes vollzogen hat. In den Ritualen war die katholische Kirche wahrlich eine Meisterin.
Die „Fahnenkultur“ hat sich aber noch lange nach dem schrecklichen Übertreiben durch die Nazis erhalten – in der Kirche, den Parteien, den Fußballclubs. Fahnen sind Zugehörigkeitssymbole, man kann sagen: Sie definieren Masse und Macht. Rückblickend habe ich deshalb auch ein mulmiges Gefühl, wenn von der so erstarkten Kirche nach dem Krieg in den 1960er-Jahren die Rede ist: Die Fotos von Menschenmassen auf überfüllten Plätzen mit einem derartig fahnenartigen Bekenntnischarakter haben etwas Bedrückendes für mich, und so wie es aussieht auch für Hannes Priesch, der lange in New York gelebt hat und die dortige US-Fahnenkultur als sehr bedrängend erlebt hat. In der Serie Wir alle müssen Opfer bringen zeigt er dies beklemmend auf. Fakt ist: Rituale geben Auskunft über Ausschluss und Einschluss. Und sie sichern in bestimmter Weise den Anschluss an etwas Größeres.
Katrin Bucher Trantow: Wir sehen auch bei Manfred Willmann, der den alltäglichen Ritualen des Zusammenkommens mit der Kamera folgt und sie dadurch quasi zu Passionsbildern des Alltags werden lässt, wie sehr Gemeinschaften ihre Rituale, Riten und Formen brauchen. Im Video von Maria Hahnenkamp dient das Gewand als Zeichen der Gemeinschaft der Priester, deren Anziehen und Ablegen sie mit Texten aus der Psychoanalyse sowie mit Textfragmenten von Artaud und Sophokles unterlegt und dabei textile Muster mit psychoanalytischen Ausführungen zu den gesungenen Liedern überlagert. Man hört inbrünstig gesungene Kirchenlieder aus dem katholischen Gottesdienst, die die Künstlerin von einem professionellen Chor singen ließ. Diese Musik soll begeistern und einstimmen in den Kult, und hier schließt sich der Kreis wieder zu den besonderen religiösen Zeremonien und Riten, die ja überwältigen sollen, um eine gemeinsame Glaubenserfahrung zu ermöglichen.
Barbara Steiner: Hahnenkamp sieht Überwältigung skeptisch, Alois Neuhold setzt sie hingegen gezielt ein, um zwei Pole zu benennen. Die Künstlerin steht überwältigenden religiösen Zeremonien und Riten deshalb ablehnend gegenüber, da sie keinerlei Distanz erlauben, was wiederum Voraussetzung für eine kritische Auseinandersetzung ist. Nicht von ungefähr basieren auch andere ihrer Arbeiten auf psychoanalytischen Erkenntnissen. Diese tauchen in Form von Zitaten in Hahnenkamps Bild-Text-Montagen auf. Neuhold wiederum erzeugt absichtsvoll Überwältigung – diesmal als Formen- und Farbreichtum, als Intensität. Man taucht in die Welt des Künstlers ein, „immersiert“ gleichsam in eine eigene Realität, der man sich auch körperlich nicht entziehen kann. Die Überforderung der Sinne ist gewollt.
JR: Er breitet im Prinzip einen ausufernden Votivopfer-Gabenaltar mit farbigen Objekten und Bildern aus. Selbst wenn man seine Biografie nicht kennt – er vermittelt eine derartige Ahnung von einer Bildliturgie, die sich allein durch Farben und Formen versprüht. Nichts an seinen Bildern ist im engeren Sinne „christlich“, und doch führt alles in diese Religion hinein und wieder heraus: Gesichter, Augen, Paare, Gefäße, Schreine, Blumen. Seit seiner Suspendierung vom Priesteramt vor über 25 Jahren lebt er in einer buchstäblichen „Bildeinsiedelei“ in der Südsteiermark.[26]Von der Leibfeindlichkeit, von der bereits die Rede war, ist bei ihm nichts zu spüren. Noch immer paart er seine Täfelchen in Männchen und Weibchen, in seinem frühen Messblätt [27]aus den späten 1970er-Jahren wurde für sakrale Verhältnisse ziemlich viel und offen geliebt. Später veranstaltete er Erdwärtsmessen. Jahrzehnte später sprühen die Gesichter freilich nicht mehr jene Erotik von damals aus, aber durchaus sattes Leben. Er wiederholt das Wenige, um es zu vertiefen. Dutzende von derartigen kleinformatigen, oft in die Körperlichkeit verdichteten Bildern lagern nun in dieser Ausstellung und führen auf ihre Weise ein Eigenleben.
KB: Geduldig baut er das Bild aus Farbe und lässt es wachsen. Lebensenergie sehe ich hier als eine alles durchströmende Verwandtschaft der Dinge und des Lebens. Das Wiederholen des Motivs, das stete Vertiefen, Aufspüren und Entstehen-Lassen hat durchaus etwas Opferbereites, etwas Rituelles und Demütiges an sich, das ich auch aus seiner religiösen Prägung erkennen würde. Neuvalis, wie er seine Bilder mit dem Wortspiel auf Novalis signiert, ist ebenso wie sein Vorläufer auf der Suche nach einer bestimmten Universalpoesie – auf der Suche nach der Heilung in dem, was (gott)gegeben ist.
JR: Neuhold glaubt an jene Energie, die sich durch Farbe und Formen manifestiert, er glaubt auch an verdichtete heilige Räume, die vom Leben zeugen, das in all seiner Vielfalt und Pracht überquillt. Es ist, wenn man so will, die Erfahrung puren Staunens im Sinne biblischer Schöpfungstheologie aus der Genesis, die ihn treibt und die das Vorhandene zunächst einmal schlicht gutheißt. Sein Sinn für rituelles Wiederholen verlangt ihm eine strenge Maldisziplin ab, was angesichts der Bildserien, an denen er oft Jahre arbeitet, nicht erstaunt: „Ich muss mich zwingen. Man muss dabei bleiben. Reduzieren und straffen. Das hat auch etwas Spirituelles für mich.“
KB: Diese Reduktion äußert sich auch in einer Hinwendung zum Einfachen, Direkten, durchaus auch Naiven, das Neuhold in Vorläufern wie Klee – der sich von der Kinderzeichnung inspirieren ließ – oder Dubuffet bestätigt fand. Wenn Neuhold außerdem sagt, dass er aus dem Bild heraus denke, und nicht aus dem Wort, so meint er damit, dass zuerst das Bild entstehen und erst danach das Wort folgen würde. Das Wort dient ihm als Reflexion, als Erklärung dessen, was das Bild an Glaubensgrundsätzen in sich trägt und „zeigt“.
BS: Neuhold hätte ich in unserer Ausstellung ursprünglich nicht in einen Zusammenhang mit Gemeinschaft gestellt, wiewohl mir nun ein weiterer Aspekt auffällt: In der Überwältigung werden sowohl Individualität als auch Gemeinschaft ausgehebelt, weil Grenzziehungen und damit Abgrenzungen zwischen Ich und Gemeinschaft, aber auch zwischen Gemeinschaften hinfällig sind. Neuhold bietet uns quasi einen dritten Raum der Begegnung an.
KB: In unserer Ausstellung facettieren sich verschiedene Auffassungen von Gemeinschaft: Manfred Erjautz’ Installationsetzt den Einzelnen und die Gemeinschaft in untrennbare Beziehung zueinander. Das vom Deckenhimmel strahlende ME wird in seinem Schatten auf dem Boden zum WE. Gemeinschaft formt sich hier im Dazwischen, im Erfahrungsraum des Überganges vom einem zum anderen. Es ist auch ein sehr persönliches Statement: ME = Manfred Erjautz. Der Künstler als Paradeindividuum bleibt Teil der Gemeinschaft.
Azra Akšamija legt ihre Arbeit von vorneherein kollaborativ an: Sie bringt (hier meist Frauen-)Gemeinschaften aus verschiedenen Kulturen zusammen, die sich über Stickmuster und -Techniken austauschen. Mit den Lebensbäumen, die sie – angepasst an die steirische Kreuzstichtradition – in Rot-Weiß ausführen und auf einem langen Tuch zusammenbringen, arbeiten sie an einem großen gemeinsamen Werk, bauen sie ein Archiv der diasporischen Stickkunst auf und tragen zu einem in der Zukunft möglicherweise wachsenden transkulturellen kollektiven Gedächtnis bei. Damit folgt Akšamija einer Vorstellung von Gemeinschaft im Sinne von Jean-Luc Nancys Etre-en-Commun, mit der weder eine Ansammlung einzelner Individuen noch eine gemeinschaftliche Substanz gemeint ist, sondern ein plurales „Wir“.
JR: Das ist zwar sehr visionär gedacht – und Kunst hat ja notwendigerweise diese Funktion – de facto befinden wir uns aber in einer unsäglichen Vereinzelung der Gesellschaft, die aus lauter „MEs“ besteht und als solche eine Masse aus lauter Individuen bildet.
BS: In Muntean/Rosenblums Malereien und Filmen sehen wir, dass diese von dir angesprochene Vereinzelung bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Gemeinschaft und der Unfähigkeit, gemeinsam zu sein, recht bizarre Formen annehmen kann. Im Rückgriff auf Populärkultur und barocke Malerei gleichermaßen gelingt es ihnen, gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen par excellence zu spiegeln.
JR: Motive wie Weltuntergang, Schuld, Stellvertretung, Mahnung, Reinheit, selbst auferlegtes Schweigegelübde tauchen immer wieder in ihren Arbeiten auf. All das kommt ganz tief aus einer religiösen kulturellen Imagination und auch Praxis. Muntean/Rosenblum machen die ganze Ambivalenz dieser Begriffe sichtbar. Ich erinnere mich noch genau, als wir die beiden im Jahre 2000 zu einer Einzelausstellung eingeladen hatten: Dabei gab es eine Liveperformance von Jugendlichen mit Kapuzenpullovern, die auf einem überdimensional aufgeblasenen „Giotto-Berg“ saßen, der unterhalb des IHS-Monogrammes des früheren Kapellenraums im ehemaligen Jesuitenkollegium positioniert war.[28]Sie erwarteten, quasi in Fastfood-Manier eingepackt, das Ende. Das Video, das in unserer Ausstellung zu sehen ist, wurde im mit reichem Stuck versehenen Refektorium ebenda – einem imposanten Speisesaal, der für Repräsentationszwecke der Diözese, aber auch als täglicher Speisesaal der Seminaristen dient – gedreht.
BS: Beim Dreh faszinierte mich, wie sehr die von ihnen entnommenen Anregungen aus der US-Fernsehserie The Leftovers doch auf die Gemeinschaft im Priesterseminar übertragbar sind. Das war mir zunächst nicht klar, denn die Serie spielt in den USA: Nach dem unerklärlichen Verschwinden von 3 % der Weltbevölkerung versteht sich eine geheimnisvolle Sekte, die sich „Der schuldige Rest“ (The Guilty Remnant)nennt, als „lebende Mahnung“ an jene, die versuchen, das Ereignis zu vergessen. Diese Menschen sind ganz in Weiß gekleidet, kommunizieren nur per Schrift und rauchen exzessiv Zigaretten. Es handelt sich um eine Gemeinschaft, die sich innerhalb einer sich auflösenden Gesellschaft zusammenfindet. Sie leben selbst auferlegte Gelübde – wenn man sie anschreit, schweigen sie ...
JR: Es verschwinden dabei meines Erachtens die Grenzen zwischen einer rein ästhetischen und kritisch-diskursiven Auseinandersetzung mit Themen der Religion. Dies gibt einer Ahnung um die Bedeutung einer dem kultischen Handeln und liturgischen Vollzug innewohnenden Erlebnisperspektive Raum. Denn die Personen, die im Film von Muntean/Rosenblum zu sehen sind, wirken engelgleich, auch wenn sie für diesen Status eine kleine Schattenseite aufweisen – du hast es schon erwähnt: sie rauchen. Alle. Und das in den heiligen Hallen des opulenten Refektoriums des Grazer Priesterseminars. Hier speisen unsere Alumnen. Man kann sich aber in der gegenwärtigen Epoche der Öffnung dieses Hauses auch einfach zum Mittagessen anmelden. Jede und jeder kann kommen. Auch diese Engel sind gekommen. Handelt es sich vielleicht um das neue letzte Abendmahl? Henry Purcells so traurige Töne aus The Fairy Queen („O let me ever, ever weep“) lassen uns jedenfalls in eine Traurigkeit gleiten. Am Ende bleiben Reste des Essens. Doch in diesem Film wird eine weitere Ebene eröffnet: Die weiß gekleideten Menschen sprechen nicht. Sie rauchen nur. Sie sehen zu. Und sie weinen. Ganz offensichtlich. Die Musik Purcells verleiht dem Film freilich in einer ganz besonderen Weise eine sakrale Atmosphäre. Eine gewisse Parallele kann man schon zur Seminaristengemeinschaft herstellen, die man im Hintergrund des Films von Muntean/Rosenblum ganz normal essen sieht: Sie wird immer kleiner – aber warum nur? Der Rückhalt in der Gesellschaft ist für eine derartige Gruppe ja beinahe ganz geschwunden. Wer schlägt heute noch diesen Weg an? Damit erinnern sie an „The Guilty Remnant“.
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[26]Vgl. Johannes Rauchenberger: „,Das alles war Auftrag.ʻ Über die Bewältigung. Alois Neuhold – seine Manifeste, sein Kapital, sein Kampf und sein Glaube an den Bildzauber. / ,All This Was Mission.ʻ On Accomplishment. Alois Neuhold – His Manifestos, his Struggle and his Belief in the Magic of Images“, in: ders. (Hg.), Alois Neuhold. Du musst dir die Augen ausreißen und die Hände an die Ohrstiegen legen. Rückblenden 1980–2012 / You Must Tear Out Your Eyes and Lay Your Hands on the Ear Stairs. Flashbacks from 1980 to 2012, Wien, New York 2012, S. 24–63.
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[27]Vgl. ebda., S. 142–151.
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[28]Vgl. Johannes Rauchenberger, Alois Kölbl: „,Präzise Mehrdeutigkeiten, um die Frage offen zu halten ...ʻ – Ein Gespräch mit Muntean/Rosenblum“, in: kunst und kirche 2 (2002), 65. Jg., Darmstadt 2002, S. 102–105.