Loslösung & Kontinuität
Aus: Reflektiert zeitgenössische Kunst das Christentum? Ein kuratorisches Gespräch zwischen Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger und Barbara Steiner | Is Christianty Reflected in Contemporary Art? A conversation between Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger and Barbara Steiner, in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art, herausgegeben von | edited by Katrin Bucher Trantow, Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderborn 2018, S. | p. 158-164.
Johannes Rauchenberger: Brus und Graz, das heißt in unserem Kontext: Auflehnung gegen Gott und die Gebete der Kirche, die man einst gelernt haben mag. „Allmächtiger, hilf uns nicht!“, ist in seiner Bitteren Dekoration gleich am Anfang zu lesen. Wenn es einen Künstler gibt, der im Zuge unseres unmittelbaren lokalen Kontextes den Dialog mit der Kirche aus grundsätzlichen Gründen ablehnt, dann ist es Günter Brus. Ich erinnere mich auch daran, dass mir Hermann Glettler, der ehemalige Pfarrer von Graz-St. Andrä, einmal gesagt hat, dass nur ein einziger Künstler es abgelehnt hat, in seiner Kirche in den letzten 20 Jahren auszustellen: Günter Brus. Die Ablehnung von Brus greift tief in die Machtgeschichte der katholischen Kirche hinein, was ihre Herrschaft über die Psyche betrifft. Man denke nur an die Zwangsbeichten, die es noch in jener Zeit, in der Brus jung gewesen war, gegeben hat. Ein bekanntes Buch aus dem Jahre 1976 von Tilman Moser hieß bekanntlich Gottesvergiftung[40]. Man hat dieses Leiden auch „ekklesiogene Neurosen“ genannt.
Barbara Steiner: Brus hat auf verschiedenen Ebenen die direkte und öffentliche Konfrontation mit der physisch wie psychisch erfahrbaren Realität gesucht und dabei besonderes Augenmerk auf die schwer erträglichen und gesellschaftlich verdrängten Aspekte gelegt. Im Grunde genommen machte er in seinen Aktionen sich selbst, seinen Körper zum Austragungsort von unterdrückten Konflikten, die in der Nachkriegsgesellschaft Österreichs unterschwellig wirkten. Jede Form von Autorität musste verdächtig erscheinen und provozierte geradezu ein Sich-Auflehnen.
JR: Die in unserer Ausstellung gezeigte Text-Bild-Serie Bittere Dekorationist ebenfalls ein Auflehnen, „Allmächtiger, hilf uns nicht!“, aber es ist noch mehr, es ist ein Spielen mit einer ehemals als bedrohlich erlebten „Vaterfigur“, die durch das Domestizieren gleichsam immun und zugleich lächerlich gemacht wird. Man kann diese Zeilen durchaus auch als Teil einer „negativen Prophetie“ lesen – im Sinne einer Welt nach dem Durchstreichen Gottes. Die Bilder setzen in ihrem expressiven Pathos und ihrem nicht zu übersehenden Rufzeichen hinter einer unschuldigen, harmlosen Endlichkeit wohl auch ein nicht zu übersehendes Fragezeichen. Die Sprüche lehnen sich mit prometheischer Vehemenz gegen die Unendlichkeitsbegabung der Menschen auf, die aber im Selber-Gott-Spielen Gegenphantome imaginieren. Ob diese Bilder nicht bloß als Religionskritik zu lesen sind, sondern auch in einem inneren Zusammenhang von Kunst bzw. Ästhetik und dem „Tode Gottes“ stehen, ist für mich eine unbeantwortete Frage.
Katrin Bucher Trantow: Künstler wie Günter Brus wollten mit einer Gesellschaft voller Tabus und einer Politik des Aufschwungs ohne Verarbeitung des Kriegstraumas brechen. Brus nimmt mit Arbeiten wie der Bitteren Dekoration oder auch der Aktion Der helle Wahnsinn sich selbst und auch das Publikum mit auf den Weg zum authentischen – mitunter schmerzvollen und abstoßenden – Erleben. Auch wenn „Gott tot ist“, bleibt die Hoffnung in der Suche nach dem Neuen, dem ehrlichen, unverbauten und von allen alten Fesseln sich aufs Neue stets befreienden Tun. Auch Nietzsches „Tod Gottes“ geht davon aus, dass sich in der Folge ein offenes Feld für den Menschen als Forscher, als Suchender und Furchtloser auftut. Eine Chance für die Kunst ...?
BS: Brus steht in Nachbarschaft zu Arbeiten, die vorführen, dass „Gott“ ziemlich austauschbar geworden ist. Er hat quasi Konkurrenz bekommen. Dies drückt sich auch sehr gut in den MINIDRAMEN aus, einer Serie von Zeichnungen von Hilde Fuchs. „GOD“ ist nur ein Kapitel von sechs anderen, er rückt neben WOMAN, MAN, HUMAN, GOD, CAR und CRIME. Die Zeichnungen und Textcollagen basieren auf Motiven und Slogans, die Fuchs Zeitschriften und der Werbung entnommen hat. Mit anderen Worten: Gott hat sein Alleinstellungsmerkmal verloren. Konsum ersetzt alte Bindungen und Wertvorstellungen. Hilde Fuchs’ Serie stammt aus den 1990er-Jahren, einem Jahrzehnt, in dem Kapitalisierung und Digitalisierung rasant Fahrt aufnahmen. Von dort lässt sich eine direkte Linie zu Anna Meyers Installation ziehen: Sie widmet sich der zunehmend Gesellschaft prägenden Rolle von Smartphone, iPad und sozialen Netzwerken. Jesus erleidet einen weiteren Kreuzestod – diesmal gekreuzigt auf dem f von facebook, Pokémons bevölkern die apokalyptisch anmutenden urbanen Szenerien. Politik, Investment, wirtschaftliche Spekulation, Religion, Esoterik gehen eine Allianz ein. Alte Kulte wie Judentum, Christentum und Islam und die neue analoge und digitale Welt, die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und leere Versprechungen werden unter einem Dach – jenem des Kommerzes – vereint. Realität erweist sich als hybrid und geprägt durch verschiedene Elemente einer globalen Konsumkultur und Kapitalisierung, im Sinne einer Umwertung von materiellen und immateriellen Werten in Kapital. Dies erfasst alle Lebensbereiche und nimmt auch Religion und Glauben nicht aus.
JR: Anna Meyer geht ja auch sehr ironisch mit den quasi-religiösen Handlungen um, die wir mit iPhone und Tablet vollziehen. Die Wischhand Gottes, nur einer ihrer zahlreichen Titel, ist selbstredend. Religiöse Bauten wie Moscheen oder Kirchen werden zu Schminkkästchen und Parfumfläschchen degradiert und mit entsprechenden Bezeichnungen versehen ...
BS: Man kann dies auch umgekehrt lesen. Schminkkästchen und Parfumfläschchen werden zu Moscheen oder Kirchen, die Konsumwelt zum neuen Ort der Verehrung. Ich sehe ein Interesse an Überlagerungen, am Herstellen von Verbindungen zwischen Phänomenen, die auf den ersten Blick weit auseinanderzuliegen scheinen – in Meyers Fall zwischen Religiosität, Kommerz, wirtschaftlicher und politischer Instrumentalisierung, bei Dan Graham zwischen Rock, Punk und Religion. Das macht diese Nachbarschaft der beiden Positionen deutlich. Sein Rock My Religion schließt die religiöse Bewegung der amerikanischen Shaker und ihre Rituale mit Rock und Punk kurz; Ann Lee, die sich als zweite Wiedergeburt Christi verstand, trifft dabei auf Patti Smith. Das Video ist eine Assemblage aus Geschichten, Musik, Text und Film, die sich der gemeinschaftstranszendierenden Rolle der Religion, der Verbindung zwischen Pietät und sexualisiertem religiösen Tanzen, aber auch den sozialen und sexuellen Implikationen von Rock und Punk als Formen religiöser Praxis widmet. Im Zusammenbringen und auch Konfrontieren verschiedenster gesellschaftlicher Phänomene lässt sich eine direkte Linie zu Anna Meyer herstellen. Bei beiden taucht die Frage auf, wodurch sich Gemeinschaft stiftet oder einem vorgegaukelt wird und womit man sich noch identifizieren kann. Darüber hinaus kommentiert sie Dan Graham, den sie regelrecht in ihre Installation einbaut.
KB: Ein zu Ostern 2018 im „Standard“ erschienener Artikel geht nach einer Umfrage des Market-Instituts (!) in Österreich davon aus, dass nur – oder sollen wir sagen immerhin? – 39 % der Österreicherinnen und Österreicher an einen allmächtigen Gott glauben. Trotzdem denken scheinbar einige, dass es nach dem Tod weitergeht – von den über 800 Befragten knapp die Hälfte. Es sind immer mehr esoterische Wege, die Menschen einschlagen (45 %), um das diesseitige Leben etwa mit Feng Shui oder Wünschelruten vor dem Einfluss schlechter Energien zu schützen.[41]Um ein Gefühl für Gemeinschaften zu entwickeln, muss man sich ihrer versichern. Diese Rolle kann unter den Gläubigen das gemeinschaftliche Feiern übernehmen, in den 1960er-Jahren schaffte dies eben der Rock und die gemeinschaftlich erlebte Musik; etwas später waren es wohl die Demonstrationen gegen einen unterdrückend agierenden Staat. Eine Zeit lang waren es im Westen die Versprechungen der Neuen Medien und des weltweit verbindenden Internets, die Gemeinschaft vorspiegelten. Bis vor Kurzem hatten auch die sozialen Medien und Facebook diese Rolle inne. Mit ihrem zunehmenden Wachstum und den darin aufklaffenden Gruppierungen, ihrer immer deutlicher werdenden markt- und machtgesteuerten Meinungsmache und Desinformation bröckelt aber gerade hier das Gemeinschaftsgefühl gewaltig.
BS: Wenn Gott allerdings von den Menschen – im Fall von Adrian Paci von einem kommunistischen Regime – durchgestrichen wird, wenn Säkularisierung quasi erzwungen wird, dann wird er, dann werden Religion und Glauben plötzlich erneut zum Thema.
JR: Enver Hoxhas Regime war das schärfste hinsichtlich der Auslöschung der bisherigen Religion, das man sich vorstellen kann. Albanien definierte sich als der atheistischste Staat der Welt. Jede Ausübung des Glaubens war strikt verboten. Adrian Paci, der in Shkodre in Albanien aufwuchs und 1997 – wie zahlreiche seiner Landsleute – nach Italien emigrierte, hat seine Kindheit, Jugend und seine Ausbildung als Künstler noch unter diesen Bedingungen erlebt. Er sagte einmal zu mir im Gespräch: „Ich beschäftige mich vor allem mit Sachen, die kurz vor dem Verschwinden sind.“[42]Von einem derartigen Verschwinden, oder besser gesagt von der Reinigung ihres jahrzehntelangen Verschwindens, handelt die Arbeit The Guardians, die für mich auch ein kuratorisches Statement gegen die pathetische Gott-ist-tot-Haltung Nietzsches und all seiner Nachfolger ist – Auflehnung in diesem Sinne, aber auch Ironie ist Paci völlig fremd, dazu hat er im Hoxha-Regime hinsichtlich der Glaubensverfolgung zu viel gesehen. Paci lässt Kinder den Friedhof seiner Heimatstadt Shkodre waschen – sie war die einzige Stadt in Albanien, in der nicht alle christlichen Spuren ausgelöscht worden sind. Abgeschlagene Köpfe von Friedhofsstatuen sind freilich dennoch zu sehen. Diese Kinder befreien die Grabsteine von vertrockneter Vegetation, waschen den Schmutz und den Staub weg, rubbeln die Grabplatten sauber. Und sie haben vermutlich keine Ahnung mehr davon, um welche Ablagerungen es sich handelt. Es ist ein berührendes Bild, die Sehnsuchtshoffnung der hier Begrabenen noch einmal ans Licht zu heben.
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[40]Vgl. Tilmann Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt 1976.
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[41]„Mehr Österreicher glauben an Esoterik als an Gott“, (red), Leitartikel von Conrad Seidl in: Der Standard, Wochenende, 31.3., 1.4., 2.4.2018, https://derstandard.at/2000077112169/In-Oesterreich-glauben-mehr-Menschen-an-Esoterik-als-an-Gott[Zugriff: 22.6.2018].
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[42]Vgl. Johannes Rauchenberger, „Adrian Paci. Kulturelle Tiefenmuster in Bilder für heute umwandeln“, in: ders.,Gott hat kein Museum, Bd. I, S. 238–248.