Bilderbilder. Sichtbarkeitshäufungen von Hartwig Bischof
Bodo Hell zu Hartwig Bischof
die (unvermeidliche) Bedeutungsbildung im Menschenkopf bezüglich der Erscheinungen der Welt wird zwar vom Aufmachen einer operationellen Differenz zwischen Gegensätzen begünstigt, welche quasi als Wendeblöcke in den beiden Brennpunkten der ovalen SinnArena fungieren können: streng binäre Gegensätze allerdings, welche die Vielfalt der Welt in ihren Entweder/Oder-Extremen zu fassen versuchen, erweisen sich (trotz prinzipieller Nützlichkeit) als ziemlich rohe und reduktionistische Mittel, um tiefergehende Bedeutung herzustellen, und selbstverständlich versucht sich ein denkender und theoriebewußter Künstler (wie Hartwig Bischof), was die Annäherung an seine faszinierende Arbeit über die Jahre hinweg betrifft, in sehr feiner Differenzierung aller möglichen (bisweilen unscharfen, siehe oben!) Gegensatzpaare, als da wären (von ihm vorformuliert):
das konzeptuelle Verfahren und das bildvisuelle Ereignis
das Verschränkte und das Vereinzelte (Auratische)
das Fotografische und das Malerische
das Ornamentale und das Fotologische
das Differente und das Wiederholte
das Visuelle und das Numerische
das Abbildhafte und das SelbstReferentielle (Autogenetische)
das Rhythmische und das Fotogenetische
das Allegorische und das Dagewesene
das Dokumentarische und Archivarische
das Sagen und das Sehen-lassen
das Bildliche und das Schriftliche
das Konzeptuelle und das Zufällige (Dionysische)
…
unabhängig von einem solchen Aufgebot symposiumswürdiger Programmpunkte könnte der erste schnelle Eindruck für die Betrachterin/den Betrachter und die BegeherInnen der Bilder und Objekte einer Ausstellung vielleicht auch spontan so formuliert werden:
Exerzitien in Wiederholung
methodisch und antidekorativ
musikalisch rhythmisiert
mittels palindromischer SchauTafeln: also von links nach rechts wie von rechts nach links zu lesen, also: bustrophedal ist gleich ackerfurchenförmig zu bestreichen, also: der Wechselrichtung des eigenen Blickpflugs folgend
oder japanisch senkrecht aufwärts und abwärtslaufend
samt obligater Bildstörung, eingewebt
man wird die jeweilige Webstelle / Webstellen (einmal darauf aufmerksam gemacht) über die gesamte Bildfläche blickstreifend aufspüren wollen
ein Bild ums andere wird aus gehöriger Entfernung betrachtet
oder in überraschender Nähe dem Bilderbildmacher auf die Schliche gekommen
aber welche ist die jeweils adäquate Distanz oder könnte sie sein: das wird versuchsweise vor und zurück schnellend ermittelt
doch bei einer einzigen quasi Idealdistanz wird es nicht bleiben
was sich da teppichmusterhaft anbietet, könnte bei näherer Betrachtung einen handfesten Wirklichkeitsausschnitt präsentieren
einerseits möchte die Betrachterin wohl wissen: aus welcher BildRealie ihrer aktuellen Umwelt setzt sich das energetische Tableau zusammen
welches ihre und unsere Aufmerksamkeit fesselt
andererseits könnte sie und könnten wir mit ihr
bei voreiligem NaheTritt und überraschendem Aha,
gar enttäuscht darüber sein
wie man einem gefinkelten Arrangeur
nicht zuletzt der eigenen täuschenden Anschauung
glatt auf den Leim gegangen ist
und daß man also jetzt schnell wieder zurücktritt
zur Sicherheitsdistanzlinie
um sich in die beruhigende Musterhaftigkeit
der quasi hängengebliebenen Digitalbilder zu retten
lang können wir vor dergleichen Vexierbildern verweilen, vor jeder einzelnen Tafel, jeder eizelnen Box, um nach einem ausgiebigen ersten Durchgang gleich wieder das gesamte Angebot retour zu schauen oder zumindest inselspringend auf unsere mittlerweile Favoriten zurückzukommen, gewiß auch um ein durch vieles Absehen, Beiseitesehen, Ausblenden verkümmertes Bildgedächtnis zu üben: hab ich das jetzt schon gesehen oder nicht und ist das nicht ein Bild aus der WUNDERKAMMER DES SEHENS, wie sie uns etwa ein Werner Nekes vor Zeiten im Joanneum angeboten hat, oder haben wir uns jetztzeitlich in der Adresse geirrt und sind anstatt in religiös-meditativ-innigem Zusammenhang gar in den verblüffenden Physikalismen eines Museums der Wahrnehmung gelandet
lang können wir vor jeder dieser Tafeln verweilen, die uns zeilenweise, streifenweise, zonenweise, in Serie oder gespiegelt-in-Serie sowie getreppt-herunterkopiert einzelne Bildelemente (quasi Identitäten) anbieten, deren Umrisse an den Rändern der wohl Vierecke ohne Hilfsmittel (Lineal, Durchblickrahmen) kaum exakt bestimmbar sind, so geht eins ins andere über, und wir halten uns jetzt einmal einfach an zumindest einige der Bildtitel, bevor uns vor dem Raum- und FarbChaosmos schwummelig wird:
am Eisen rennen, geschwind (da soll schon jemand Ameisen unterwegs gesehen haben), Art of noise at ease (noch unbeschadet und straight die Ansicht der Walt Disney Concert Hall in L.A., wobei sich die architektonischen Seiten- und Obergründe gefährlich spiegelnd auf diese Schwingflächen-Architektur des Frank O. Gehry hereinneigen, man will sogar davon gehört haben, daß am segelschiffartigen Gebäude vorbeifahrende Autmobilisten gefährlich geblendet und umliegende Wohnungen brennpunktartig erhitzt worden seien), Neun Quadrate, narzissenblau macht uns wie andere Varianten des klassischen Themas wie beiläufig mit dem Standardbild des Kreuzes im Quadrat wiedervertraut, in einer Versammlung der besten Köpfe wagen wir gar nicht nach den Namen der identischen Kapazunder und Experten zu fragen, und ob es sich bei Biot_doublé wirklich um eine Ansicht von Legers Alterssitz oder eine verzerrte Hallstattpiazza handelt, tut wohl schon auch nichts mehr zur Sache, Landschaft schafft, meinetwegen schafft man offensichtlich ohne Realgrund mit einer Überlagerung gefüllter wie gefühlter Farbwerte, Aria d’Honfleur undSiegberg mag in dem einen oder anderen Beschauer Assoziationen eigener Individual-Reisen hervorrufen, die streng geformten Gewänder der Menschheit in einem Kreuzweg 14 monumentaler Buchstaben (alter Ts) lassen einen erhobenen Hauptes den langen Gang nach Golgotha auf dem Parkettboden entlangschreiten, oder auch (bei auf die Hälfte verkürzter Länge) zuerst hin und nach der 7. Station andersseitig wieder zurück, soweit ist es inzwischen gekommen, könnte jemand denken, wenn er den Trenched Coat als unumgängliches männliches Kleidungsstück hinter hier barcodeähnliche Balken eingesperrt (gesichert) sieht, in maison carée st das Prinzip des Fachwerkbaus wörtlich genommen, und sei es in der Anmutung binnendeutscher Hansestädte wie Lemgo und Lage am Teutoburger Wald, dernier cri zeigt eine Reihe von Kleiderpuppentorsos, und bei ganz nahem Herantreten wird man erkennen, daß auf die weiblichen Formen multiplizierte Kreuzigungsbilder projiziert wurden, ob es sich dabei um die Darstellung der Kümmernis oder der hl. Julia handelt, sei hier nicht verraten,
zug um zug aufgetürmt erscheinen mehrere Doppeldeckergarnituren (Vorortezüge), wie sie hinter Schallschutzwänden durchs atompilzwolkige Bild fahren (oder im uniformen Gelände stehengeblieben sind), eine Bürstenschleifmaschine ist ganz fein quadratisch unterlegt, wie aus der künstlerischen Kunststopfwerkstatt, mm. de nouveauzeigt ein attraktives Frauenportrait im Viertelprofil, allerdings vielfach männerkopfbesetzt, auch kopfüber, und nicht einmal der Halsausschnitt der Madame Matisse bleibt von so einem paßgenauen eng anliegenden Verhüllungstuch unbedeckt, im keposepiskopou betitelten Gärtner von Cezanne ist der Titelgeber von einer multipeln Serie großformatiger Zentralmeditationsbilder bedeckt und man könnte sich dabei eine computergesteuerte Webstube wünschen, die eben solche unintendierte Muster zu neuer künstlerischer Arbeitskleidung erzeugt, der west-östliche Diwan ist auf überraschende Weise als Möbelstück wörtlich genommen, und auf seiner einen Halbseite könnte man auf dem Vielfachbild des hl. Georg von Tintoretto und auf der anderen DiwanHälfte auf einer gleichermaßen vervielfältigen Drachenkampfdarstellung einer Mogulhandschift Platz nehmen, wobei die sonst so leidige mittlere Trennfuge als verbindender (wenn auch nicht auf- und abzippbarer) Reißverschluß dieser beiden Bildelemente gestaltet erscheint, entblößt, erlöst und enthoben verwoben ist der Langtitel eines Diptychons zu Mariä Verkündigung (wobei der Betrachter selbst zum Verkündiger wird, zumal er vielleicht sowieso Gabriel heißt, insofern nämlich, daß im linken Webbild Niki de St. Phalle mit Courbet verwoben erscheint und im rechten die Verkündigung des Antonello da Messina mit Ferdinand Waldmüller (muß einem das gesagt werden?), gewiß, all diese scheinbaren Auflösungen der einzelnen Bildbestandteile können nur sehr wenig über die Wirkung solcher Bilderbilder und GroßKleinGefüge aussagen, evozieren in etwa sogar eine Irreführung und voreilige Beruhigung des Betrachters an der Oberfläche der Bedeutungen, in der kreuzerstehung, ausgepreßt sieht man die gar nicht so bekannte Auferstehungsfigur El Grecos mit einem Gefüge aus multiplizierten Kreuzigungsdarstellungen überzogen, vor einem hölzernen, in den Himmel gespiegelten Spindelgerätrest positioniert, und wer noch nie etwas von der mystischen Kelter, wo eben statt aus den Trauben Wein aus dem Leib Christi Blut gepreßt wird, so jemand wird sich wohl auch über die anderen apokryphen Marterdarstellungen der Tradition kundig machen wollen…
gewiß: allerorten sind Bilder über Bilder zu sehen und sie schauen uns öffentlich wie privat von solcher Oberfläche her an, welche als fixer oder mobiler Bildträger dienen kann, auch im besiedelten Außenraum knallen dem Passanten Generationen von Plakatbildern entgegen, in vergessenmachender Schnell-Abfolge: wer entsinnt sich etwa noch der Stigmatisierungs-Strahlen, die in franziskanischer Manier aus den Handflächen und Fußristen der tänzelnden Palmers-Models hervorstachen, allenthalben stößt der Blick entweder auf mehr oder minder ansprechend-trostlose Originalkunst oder auf so und so gerahmte zigfache Klassiker-Reproduktion: Bildüberfluß, optische Wandverschmutzung, auftrumpfend, horror vacui in Auslagen, Ämtern, Büros, Speisesälen, Cafés, Warteräumen, überall macht sich eine Unbedarftheit des elektronisch Möglichen in der Grafik breit und überzieht die Bildflächen der Welt mit trostlos klischeehaften Lösungen, tröstlich zu sehen und zu wissen, daß sich ein formbewußter Künstler wie Hartwig Bischof des Reproduktiven auf produktive Weise annimmt und es versteht, nicht nur dem Ornament, sondern auch der Bildtradition der Jahrhunderte in seinen Gefügen und Ursprungsbildern zu einer zeitgenössischen Präsenz zu verhelfen
(Bodo Hell)