Fein bist du, Sicht! 1000 Kunstkarten von Reinhild Gerum
Als Installationskünstlerin ist Reinhild Gerum eigentlich für das schonungslose Aufzeigen der conditio humaine bekannt. An sich thematisiert sie die menschlichen Abgründe in Gewalt und Sexualität. Gerum arbeitet seit Jahrzehnten zwei Tage die Woche auch als Kunsttherapeutin in der Psychiatrie bzw. in der Haftanstalt und ist so mit allen nur erdenklichen Abgründen der menschlichen Existenz vertraut.
Im KULTUM Graz zeigte sie im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 „Die Blumen der anderen“ (2016). Es waren eindrucksvolle Gegenbilder in einer damals bald aufgepeitschten Gesellschaft. Es ist durchaus hilfreich, dieses Vorwissen mitzunehmen, wenn man sich diesen 1000 übermalten Karten nähern möchte. Umso poetischer, zarter sind diese Übermalungen, die plötzlich neue Einsichten und Feinsichten ermöglichen.
Ein aussterbendes Medium
„Ich wusste, als ich damit angefangen habe, dass die Ansichtskarte aussterben wird.“ Das war vor 15 Jahren, als die digitale Revolution längst alle zu erfassen begann, Facebook oder Twitter dennoch noch nicht existierten, von Snapchat ganz zu schweigen. „Jetzt bin ich froh, dass ich damit fertig bin. Unsere Kommunikationskultur ist in nur zwei Jahrzehnten vollkommen anders geworden. Wir schicken keine Karten mehr. Wir sind in einer Kommunikationskultur des Sich-selbst-Zeigens. Das Selfie hat die Karte abgelöst. Das Selfie braucht nur mehr die Kulisse des Hintergrunds, aber am Ende ist alles auswechselbar. Die Globalisierung und die digitale Kommunikationskultur hat uns die Aura dieser Ansichtskarten genommen.“ Und im Nachsatz: „Interessant wäre, 1000 Selfies diesen Karten gegenüberzustellen.“
Ansichtskarten sind Teil eines biografischen Archivs und Gedächtnisses. Reinhild Gerum greift in diesem Projekt auf ein großes Reservoir derartiger Karten zurück, viele davon beschrieben und verschickt, viele davon wurden ihr geschrieben, viele stammen aus ihrer eigenen Biografie, viele aus den Reisen der Künstlerin. Nicht wenige dieser Karten entstammen schließlich aus dem Nachlass ihrer Mutter. Was macht man am Ende mit diesen Karten, die Erinnerungen abspeichern sollten?
Vernissage zur Ausstellung: "Fein bist du, Sicht! 1000 Kunstkarten von Reinhild Gerum", KULTUM Graz, 30.11.2019 - 6.1.2020, Kurator: Johannes Rauchenberger, Foto: KULTUM/Adnan Babahmetovic
1000 übermalte Karten
Mit diesen Fragen ergab sich 2005 eine Entscheidung, ein Projekt über Ansichtskarten zu beginnen, Motive zu bezwinden, sie zu verändern, sie schlicht neu zu sehen. Die Nummer 1 trägt das Siegestor in München. Ölkreiden wird Gerum auf Reisen immer dabei haben, eine kleine Karte ist auch so ein zu bewältigendes Medium für „zwischendurch“. Doch im Rückblick ist die Künstlerin streng: „Wenn sich im Bearbeiten Beiläufiges eingestellt hat, habe ich sofort damit aufgehört.“ Es entstanden überraschende Neusichten, mitunter auch mit viel Humor, wenngleich die Künstlerin bestreitet, dass sie sich jemals „über das Motiv lustig machen wollte“. Da erscheinen etwa plötzlich kindliche Tiere – als Schildkrötenpanzer aus einem romanischen Kapitell, als Zebra aus den Säulen eines griechischen Tempels, als Tarantel aus einer romanischen Fassade, als Igel aus einem römischen Theater, als langer Hundskörper aus dem englischen „Houses of Parliament“. Oder aber als Haartrachten aus gotischen Decken. Gesichter legen sich plötzlich über Räume, die man dort nie erwartet hätte. So gilt für jede dieser kleinen Miniaturen doch am Ende das, was man von einem Kunstwerk erwartet: eine Form mit höchster Dichte zu beanspruchen. Manchmal gelang der Künstlerin schnell etwas, mitunter arbeitete sie auch drei Tage daran. Aber tausend Karten – das ergeben dann doch Jahre der Bewältigung. Im Rückblick fünfzehn. Aus dem Konvolut der bearbeiteten Karten haben sich für diese Präsentation Motivkreise ergeben, um die sich die Ausstellung aufbaut: Highlights von Kunstwerken, Madonnen, Details, Monumente, Innenansichten, Landschaften, Tiere.
Kunstkarten
Als Karten von Kunstwerken entstanden sind, hat man bald die technische Reproduzierbarkeit des Orignals (W. Benjamin) bedacht. Wo würde in Zukunft die Kunst anzusiedeln sein? Würde sie ihrer Aura beraubt werden? Wie kann man diesen Karten wieder eine Aura verleihen? Wie auch immer: Der Erfolg der kleinen Kunstkarten aus Museen ist selbstredend; als BesucherIn sucht man im Shop nicht selten noch nach Karten von herausragenden Werken, die als Erinnerungskarten für das Erlebte etwas von der Aura des Moments in die private Biografie tragen sollen. Die Künstlerin, sehr nüchtern: „Sie sind meist in schlechter Manier gedruckt, aber sie sind dennoch allemal besser, als wenn man sie selbst fotografiert“. Für Reinhild Gerum ist es primär auch ein „Reiben an den Highlights der Kunstgeschichte“. Die Namen gehen quer durch die Zeiten; sie erzählen auch von den ausgiebigen Reisen der Künstlerin in verschiedene Museen und Baudenmkmäler Europas. Feierlich blau deckt sie das „Het Lam Gods“-Bild von Jan van Eyck in Gent zu, nur die Taube des Geistes am oberen Ende und ein verschränkter Armgestus sind noch frei geblieben, auch ein Rest von einer Gewandsfalte. Vom Königsportal von Chartres, wo die dort Dargestellte deutliche rote Beulen erhält, über Piero della Francescas bekannter „Auferstehung“, die bei Gerum zu einem roten flackernden Kreis mutiert, bis zu Auguste Renoirs „Frau mit Rose“ ist ein breites Spektrum aufgemacht: Erweiternd, einengend und damit konzentrierend, die Motive erfinden sich neu. Gerum nennt es freilich auch „Abarbeiten“ an diesen Stars, mitunter mit Augenzwinkern, etwa, wenn die Schlangen im Medusenkopf Caravaggios äußerst lebendig – und vor allem: deutlich länger werden. Der feurige Nolde erhält ein Auge mit deutlichem Nazi-Kainsmal an die Stirn. Als Münchnerin sind es Stars der dortigen Museen, etwa August Macke, Alexej Jawlensky oder Wassily Kandinsky und Franz Marc, die beiden Vertreter des „Blauen Reiters“. Das „Blaue Pferd“ des letzteren (1911) wird aus dem Kunstmuseum Bern gezeigt, das deutlich rosa geworden ist, ebenso sein Ausfluss aus seinem Hinterteil. Dafür erhält es ein züngelndes Gesicht in Menschengestalt. Wer hier wohl der „blaue Reiter“ ist? Aber auch Albrecht Dürers „Betende Hände“ oder Rogier van der Weydens Verkündigung aus der Alten Pinakothek fehlen nicht.
Madonnen
Dessen Verkündigungs-Maria belässt die Künstlerin nicht in der keuschen Haltung, die in der Zeit der Entstehung dieses Bildes diesen Marienblick typisch werden lässt, sie verwandelt sie in eine geschminkte, schöne, nackte, sinnliche Frau. Madonnen sind demnach eine weitere Abteilung dieser Ausstellung. Sie sind für Gerum ein durchaus ambivalentes Motiv. Ein Stapel dieser Madonnen-Motive entstammte dem Nachlass ihrer Mutter, die „sehr mariengläubig war. In allen ihren Taschen fand ich nach ihrem Tod jeweils ein Marienbild.“ Was mit diesem Erbe tun? Der „Keuschheit“ mit Sinnlichkeit begegnen? Gerum geht es in einigen Durchgängen an. Ihre „Ursprungs-Madonnen“ sind von osteuropäischen Ikonen bis tief in die romanischen und gotischen Madonnen des Hochmittelalters angesiedelt, gefolgt von den Meistern wie Fra Angelico, Piero della Francesca oder Bellini. Durch das viele Blau dieser Bearbeitungen schimmert am Ende „die Beziehung von Mutter und Kind, die die westliche Kunst in allen Varianten dargestellt hat“ durch, die die Künstlerin in Übermalung und Sichtbarmachung neu zu konzentrieren suchte: Das war die jahrelange Übung von Reinhild Gerum in der Beschäftigung mit den Madonnen. Einmal ist es Nähe, dann Distanz, einmal Liebkosung, dann förmliches Losreißen. Im Gegensatz zur östlichen Ikonografie kennt die Madonnenikonografie der westlichen Kunstgeschichte beinah keine Grenzen. Gerum malt zu, kratzt aus, öffnet wieder den Schleier, um das Gesicht von Kind und Madonna, um Beziehungen sichtbar zu machen. Ihre Ölkreiden gestalten Vertikalen, Diagonalen, Wirbeln. Einmal, bei Stefan Lochners berühmter Kölner Tafel der Madonna in der Rosenlaube, sind es sogar Kreise, in denen sich der Kindsbick des musiziernden Engels sogar zu Farbpaletten vervielfältigt.
Monumente und Innenansichten
Für Gerum war es in ihrer persönlichen Reisebiografie immer selbstverständlich, den Besuch einer Stadt mit dem Kauf einer Ansichtskarte zu verbinden: „Ich gehe in das Zentrum, schaue mir die wichtigsten Bauwerke an und kaufe Ansichtskarten.“ Ob es die romanischen und gotischen Highlights Italiens, Spaniens oder Frankreichs sind, die Fachwerkhäuser des Nordens oder der bayrische Barock: Gerum führt immer neue Sichten ein. Es wird in den Stadtansichten auch deutlich, was in der Kommune wichtig ist. Die Kathedralen des Glaubens, die Tempel der Kunst, die Kathedralen des Geldes, was auch immer. Es machte für sie einen großen Unterschied, eine Karte von Städten aus Europa oder aus Amerika zu bearbeiten, sagt sie. Man sieht beispielsweise die Kuppel von Florenz, die im Meer von Farben untergeht. Man sieht gotische Kreuzrippengewölbe, die sich zu Haaren oder sogar zu Turbanen oder zu einem prächtigen Kopfschmuck eines Eingeborenen formen. Man sieht alte Obelisken, die sich bei ihr plötzlich in der Horizontalen üben. Und man entdeckt sogar die Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg, die zur Haartracht einer venezianischen Maske wird. Viele dieser Motive beschreiben also die „Bezückungen“ (R.G.) vor einem Kunstwerk, einem Meisterwerk von Museen, von Kathedralen als Identifikationspunkt einer europäischen Stadt, von Monumenten und Wahrzeichen, von bezaubernden Landschaften, von denen man Urlaubsgrüße schickte. Manchen von ihnen lagen „Details“ zugrunde, „Wunderwerke, die einem plötzlich begegnen“, wie die gotische Rosette von Reims, die sie einem Schneegestöber gleich rund herum zumalt. Oder der Löwe von Sant‘ Antimo, der von ihr eine Zunge verpasst bekommt.
Das erstmals in dieser Ausstellung präsentierte Gesamtwerk dieser 1000 übermalten Ansichtskarten zeigt also nicht einfach überarbeitete Monumente, Kunstwerke oder Landschaften. Vielmehr eigenständige Miniaturen, die auf der Basis des Grundes dieser Bilder neue Welten entstehen lassen. Sie intensivieren und machen sichtbar. Mitunter erscheinen dabei Tiere und Gesichter. Immer wurden die Karten mit Ölpastell überarbeitet, ausgekratzt, dabei verfremdet. Reinhild Gerum treibt ein Spiel mit dem Motiv, indem sie es versteckt oder betont. Die mitunter empfundene „Kindlichkeit“ der entstandenen neuen Motive ist einem grenzenlosen Zutrauen zum kreativen Akt geschuldet, der nicht selten auch den Abgrund zu bannen weiß.
Johannes Rauchenberger