VULGATA. 77 zeitgenössische Zugriffe auf die Bibel im Dommuseum Mainz
VULGATA. 77 Zugriffe
Zugreifen und lesen: Die uralte Aufforderung („Tolle lege!“), eine Bibel in die Hand zu nehmen, ist nicht das Erste, wenn wir heute an „Zugriff“ denken: Vielmehr ist es das Abzählen der Aufmerksamkeit in der virtuellen Performance im Netz. Auch eine Färbung von Gewalt wird im „Zugriff“ sichtbar. Fundamentalismus ist dabei nicht weit. Die Anklänge verleihen dieser Ausstellung einen Hauch von Ambivalenz.
VULGATA – der Titel – rührt an die Verständlichkeit. Diese war das Markenzeichen schon der ersten Übersetzung durch den Heiligen Hieronymus zwischen 380-400 am Rande von Bethlehem in die damalige Volkssprache des Lateins. Die VULGATA hielt über 1100 Jahre. Sie war für die abendländische Glaubens- und Bildkultur die zentrale Quelle. Martin Luthers geballte Sprach- und Wortschöpfungskraft am Beginn der Neuzeit hat sie schließlich abgelöst. Im heutigen öffentlichen Diskurs ist die Bibel erneut wieder fremd. Das Bibelwissen sinkt rapide. Der öffentliche Umgang mit der Bibel erschöpft sich meist nur mehr in Zitaten. Er rutscht nicht selten ins Vulgäre ab. Sind die Mythen, Geschichten und Erzählungen der Bibel mit der derzeit gültigen Welterklärung, ja mit dem heuten Leben in Verbindung zu bringen?
Potential der Brüche
Die Heilige Schrift ist für Gläubige ein Text, der bindend und inspirierend für das eigene Leben ist – trotz allen Wissens, dass er historisch entstand, vollkommen unterschiedliche Textgattungen enthält, höchst unterschiedlich in seiner literarischen Qualität und immer weniger kompatibel mit einem modernen, durch die Erkenntnisse der (Natur-)Wissenschaft determinierten Weltbild ist. Dort befinden sich allerdings die Brüche, die Abbrüche, die Ironien und zugleich die kreativen Energien ihrer mythischen und spirituellen Kraft. Gerade dort ist auch der Ort einer Kunst, die daraus ihr kreatives Potential bezieht. „Vertraut und fremd. VULGATA. 77 zeitgenössische Zugriffe auf die Bibel im Dommuseum Mainz“ setzt nicht auf „Programmkunst“. Sie ist keine Bebilderung der Bibel, wie sie es jahrhundertelang war. Keines der in der Ausstellung gezeigten Werke ist als kirchlicher Auftrag entstanden, sondern aus eigenem Antrieb von Seiten der Künstlerinnen und Künstler. Die Ausstellung setzt vielmehr auf das Potential der Brüche, das sich mitunter in den Werken zeigt.
Zwischen Bibelwissen, Wissen und Glauben
Künstlerinnen und Künstler setzen in ihrer Auseinandersetzung mit der Bibel dort an, wo sie etwas zu verarbeiten, sich abzusetzen haben oder eben durch die Erzählungen, ihre Texte oder Einzelsätze neu inspiriert werden. Grassierender Fundamentalismus ist dabei ebenso ein Thema, wie die biblische Poesie, ihre Matrix, ihre Texte über Anfang und Ende, Leben und Liebe, Schuld, Schmerz und Gewalt, Schönheit und Lobpreis. Was an der Bibel fremd ist, was neu glänzt, was neu zu entdecken ist und was sich dem gegenwärtigen Denken auch kreativ widersetzt: Das wird in dieser Ausstellung mit Werken der Gegenwartskunst beleuchtet.
Gott hat kein Museum
Die Ausstellung wurde in einer ersten Fassung erstmals 2017 als Beitrag des KULTUM Graz – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Gegenwartskultur und Religion zum 500-jährigen Reformationsjubiläum gezeigt. Sie geht zurück auf eine jahrelange Beschäftigung des Autors mit dem Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Religion, aus der viele vertrauensvolle Zusammenarbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern zu diesem spezifischen kuratorischen Blick entwachsen sind. Daraus wurde im KULTUM in Graz eine Sammlung für zeitgenössische Kunst und Religion aufgebaut, aus der ein großer Teil der Arbeiten für diese Ausstellung entstammt. Die Werke, die hier real gezeigt werden, sind zudem Teil eines (virtuellen) Museums für Aspekte von Religion im beginnenden XXI. Jahrhundert, das sich in weiteren Ausstellungen erweitern wird und erstmals 2015 im dreibändigen Buchmuseum „Gott hat kein Museum. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts. | No Museum Has God. Religion in Art in the Early 21st Century.“ (Schöningh-Verlag) publiziert worden ist.
Im Dom- und Diözesanmuseum in Mainz mit seinen herausragenden Werken des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit treten zudem viele von ihnen in einen fruchtbaren Dialog. So scheinen auch die zeitgenössischen Arbeiten in einem anderen Licht.
Dank
Frau Bundesministerin a.D. Annette Schavan, der Stiftung „Bibel und Kultur“, dem Direktor des Dom- und Diözesanmuseums Mainz, Dr. Winfried Wilhelmy, sowie allen finanziellen Unterstützern, die diese Ausstellung ermöglicht haben, sei ausdrücklich gedankt. Besonders danke ich Co-Kuratorin Birgit Kita und dem gesamten Team des Dommuseums Mainz, sich auf diese Ausstellung mit einer so großen Anteilnahme, einem wirklich inspirierenden Mitdenken, ja Begeisterung eingelassen zu haben.
Johannes Rauchenberger