"Paradise is temporarily closed." ninavale
Am Anfang dieser Ausstellung stand ein versperrter Raum, auf dessen Boden in Form einer Raumprojektion Vögel flogen und so den Betrachtenden eine höher gelegene Position zuwies. Das Band, das ihn verschloss, dokumentierte den kurzzeitigen Schließungsgrund: „… due to a private party“ erinnerte zwar eher an Zeus und an seinen feiernden Götterhimmel als an das christliche Himmelsbild, nur dachte man in Zeiten des säkularisierten Himmels zur Ausstellungzeit im Herbst/Winter 2020/21 vor allem an die „Gott-sei-bei-uns-Szenen“ von Nähe und Umarmung, die weltweit die Regierungen den Menschen untersagten und sie stattdessen zu neuen Verhaltensregeln zwangen, mit Masken und sozialer Distanz in allen Lebens-, Lern- und (ehemaligen) Genussbereichen. Doch wer ordnete diese Schließung an? Die Ankündigung auf der Absperrschnur war offensichtlich aus höchster Stelle: Der verschlossene Himmel war von Gott selbst unterfertigt, freilich nur auf einer Art von Notizzettel. Aber immerhin: Auf offiziellem Firmenpapier. Denn der Zettel hatte ein Wasserzeichen mit einem Auge in einem Dreieck und einem Kreis. Es vereinte somit Trinitätsvorstellungen des christlichen Gottesbildes aus der späten Barockzeit und die Zeichenidentität der Freimaurer ebenso wie jene des ersten Nationalkonvents der französischen Revolution, ja sogar jene der Dollarnote. „Es gibt viele Götter“, so Valentin Stefanoff im Skype-Interview in seiner typisch freundlich-ironischen Kommunikationsart seines Gesichts, das in der Fernsehsendung ORF-Orientierung anlässlich dieser Ausstellung gesendet wurde, „Regierungen, Politiker etwa, die ihre private Party veranstalten…“[1]
Ein Verkehrsschild an der rechten Wand dieses verschlossenen Raumes, auf dessen Boden die Vögel flogen, wies sogar die Richtung in das Paradies. Zwar gibt es solche Straßenschilder auch in Wirklichkeit – zumindest in historisch so von der christlichen Religion determinierten Ländern wie in Österreich – aber es gibt sie freilich auch als Gegenteil: Da lauten sie nicht etwa „Himmelreichweg“ oder „Paradiesespforte“, sondern „Hart“, „Einöd“, „Höllboden“ oder „Gottesgraben“. Hier aber: „Paradies“. Das schreitende Männchen war mit einer kleinen Irritation versehen, denn es schritt nicht einfach, es trug auch ein Kreuz auf seinen Schultern: Ein zum Bild gewordener Rest der christlichen Himmelseinweisung, die nicht nur das beständige Gehen, sondern auch das Kreuztragen mit im Gepäck hat. „Wir wollen in dieser Ausstellung die Frage stellen, ob man wirklich immer das Kreuz braucht, um ins Paradies zu kommen“[2], erläuterte die Künstlerin in dem besagten Interview, allerdings unmittelbar darauf unterbrochen von ihrem Partner: „Ich glaube schon, dass man das Kreuz braucht, um ins Paradies zu gelangen…“[3]. Demonstrative Uneinigkeit, erneut Lächeln über den Bildschirm.
Die Richtung des Schildes wies auf eine verschlossene Tür, aus der optisch schwaches Licht, akustisch aber deutlich Straßenlärm, Einsatzfahrzeuge, Gewitterdonner drangen. Das aber waren nur Momente, die vorbeigezogen waren. Man hörte 20 Minuten lang die lauten Tritte eines Pferdes, anfangs umgeben vom Autolärm, zunehmend aber wurden diese einsamer; das Pferd gelangte offensichtlich in die weite Landschaft hinein. Schließlich überraschte ein heftiges Gewitter das Pferd und seinen Reiter. Allmählich war auch ein Husten vernehmbar. Zwischenzeitlich fuhr ein Einsatzwagen mit Folgetonhorn vorbei. Der Regen hörte nicht auf, die Schritte wurden langsamer, ein Schrei war vernehmbar. Längst waren es unterschiedliche Untergründe, nicht mehr die Härte des Asphalts, später die Steine, dann das Gras...
Ein Reiter in Richtung Paradies: Im Kontext von Kunst wird in einem derartigen thematischen Setting freilich der „apokalyptische Reiter“ aufgerufen. Im 6. Kapitel des letzten Buches der christlichen Bibel werden sie als Boten des nahenden Jüngsten Gerichts in Stellung gebracht. Die Kapitel zuvor (Offb 4–5) sind bestimmt vom Buch mit den sieben Siegeln, das zu öffnen weder Mensch noch Engel, sondern nur dem Lamm Gottes zu öffnen möglich ist. In ihm sind die verschlossenen Geheimnisse der Weltgeschichte, die Unergründlichkeit von Ungerechtigkeit, der Gewalt, der Kriege – eine literarische Metapher des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (in bereits eintretender Verfolgung), dass der Sinn der Geschichte verschlossen bleibt. Das Pferd und sein Reiter sind in dieser Ausstellung auch mit dieser Last des Unwissens beladen. „Wir haben uns verlaufen“, bekannte NINA Kovacheva in dem Gespräch zur Ausstellung. „Immer schneller, immer rasender… Für mich ist diese Zeit auch ein Signal für ein Innehalten.“[4]
Das ewig anmutende Traben der Pferdehufe in dieser Akustikinstallation wird schließlich auch immer langsamer, und gegen Ende hin schreit der Reiter in die Landschaft hinein: „God, where are you?“
[1] Graz: Paradiesverweigerung und irdischer Lockdown. Valentin Stefanoff und NINA Kovacheva im Gespräch mit Christian Rathner, ORF 2 – Orientierung, 6.12. 2020, in: https://religion.orf.at/tv/stories/3203370/
[2] Ebd. [3] Ebd. [4] Ebd.
ninavale: Paradise is temporarily closed, 2020, Rauminstallation: VIdeo, 2 Akustikräume, Engelsflügel, Monitor, Verkehrsschild. KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Im Setting des ersten Ausstellungsraumes schien er wohl im gegenüberliegenden Raum zu sein. Aus dieser ebenfalls geschlossenen Zelle des historischen Minoritenklosters in Graz aus dem beginnenden 17. Jahrhundert ertönten ebenso Stimmen, Töne eines Glockenspiels etwa, wie wir es aus der Kindheit kennen. Melodien der Sehnsucht und des Wohlgefühls wie „Stille Nacht“. Aber auch ganz einfache Fetzen fröhlicher Gespräche, mitunter Lacher. Das war, folgte man der Logik der Rauminstallation und ihres Titels, die geschlossene Gesellschaft im Himmel, von der uns eine verschlossene Tür, und, vorher schon, eine Kordel mit ihrem Notizzettel Gottes trennte.
Doch auch wenn ein kleiner Monitor zwischen einem realen Flügelpaar an der Wand zum Eingang in diesen verschlossen Raum immer wieder zaghaft ein „Welcome“ sendete, die weitaus überwiegende Sendezeit auf diesem Bildschirm bestand aus einem weißen Rauschen. Doch auch der Absender für ein „Welcome“ war deutlich: Das „Kingdom of God“. Daran bestand kein Zweifel. Dennoch: die Funkstörungen zu diesem überwogen. Dabei machte uns der Blick in diesen Raum zu Betrachtenden aus einem anderen Seinszustand, denn wir blickten auf fliegende Vögel, wohl Tauben, in der Nacht. Wir schwebten.
ninavale: Paradise is temporarily closed, 2020, Rauminstallation: Blick auf das VIdeo mit fliegenden Vögeln
Der verschlossene Himmel hatte in diesem ersten Ausstellungsraum einen Grund: die Party. Der verschlossene Himmel hat in der Bibel einen Grund: der Biss in den Apfel, zu dem die Schlange der Eva und diese dem Adam geraten hat (Gen 3). Daran wurde man beim Zugehen auf den genannten Raum am Ende des ersten Ausstellungsganges erinnert. Es empfingen uns „Adam & Eve“, doch nicht in der vertrauten Lebensphase von jungen, erotischen Körpern, sondern als Kinder. Das Sujet hatte bekanntlich seine Hochblüte, als man auch in der christlichen Kunst den menschlichen Körper, seine Anatomie, seine Anmut und seine Reize entdeckte: in der Renaissance. NINA Kovacheva verfremdete dieses Motiv nicht mit jugendlichen Körpern, sondern mit Körpern von Kindern. Und sie verstörte dabei – ähnlich wie einst Rembrandt van Rijn das Paar als altes, vom Leben gezeichnetes Paar dargestellt hatte. Das Durchscheinen der Fragilität des menschlichen Körpers, sein Ausgesetzt-Sein durch Gewalt, Missbrauch und Einsamkeit kommt in Kovachevas Werk immer wieder vor. Hier aber besonders. Das corpus delicti war auf diesem Bild ein Plastikeis, also eines von vielen Plastikspielzeugen heutiger Kinder. Weitere derartiger „Früchte“ lagen am Boden. Es geht (auch), wie in der ganzen Serie, um die Überforderung heutiger Kinder in einer Konsumgesellschaft. Die Rückprojektion in eine erotische Atmosphäre, mit der das Sujet durch die Künstler, unterstützt durch eine fatale Erbsündentheologie der Theologen über Jahrhunderte hinweg aufgeladen worden ist, versetzt die beiden Kinder auch als vulnerable junge Menschen im Horizont sexuellen Missbrauchs.
NINA Kovacheva: Adam & Eve, (Five Biblical Stories), 2012. Foto, 140x140 cm, KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Auch wenn das Plastik-Eis auf der inszenierten Fotografie „Adam&Eve“, das aus der fünfteiligen Serie „Biblical Stories“ stammt, den angebissenen Apfel ersetzte, in einem dritten Arrangement im Kontext des verlorenen – oder: geschlossenen – Paradieses ist dieser am Firmenlogo von Apple wieder aufgenommen. Das Innenleben eines iMacs zeigt den Schriftzug von „iHeaven“. Ist es also doch nicht verloren? Als semantisch längst für unsere Gegenwart unverwechselbares, vertrautes Icon leuchtete die iCloud auf, also jene „Wolke“, wo wir im digitalen Nirgendwo unsere Daten ablegen: Geheimnisse, Erkenntnisse, Erinnerungen, Leidenschaften. Wolken sind in der Geschichte der beginnenden Säkularisierung am Beginn des 19. Jahrhunderts der Ort, der als unbesiedelter Ort die Erbfolge zum einst besiedelten angetreten hat, wo man die Jahrhunderte zuvor eben noch Gott-Vater mit seinem Hofstaat oder eben die Dreifaltigkeit mit Maria, den (Erz-)Engeln und den Heiligen wähnte. Auf der Wolke ist nicht mehr Gott, dafür sind dort wir mit unseren Daten: Die Algorithmen, die uns als mit unseren eigenen Daten eingespeiste Allmacht immer mehr entgegenkommen, sind in diesem kleinen „iHeaven“ wohl auch angemahnt. Sind wir damit nicht längst viel unterwürfiger als es eine fehlgeleitete Gottesvorstellung von Abhängigkeit je vermochte? Zwar war die Auslagerung ins Digitale gerade in Zeiten der Pandemiebeschränkung eine Kommunikationsmöglichkeit und -form, die Zeit und Raum zu überwinden vermochte. Doch das Fehlen von Präsenz, von Leiblichkeit und ihrer Aura wurde gerade in dieser Kollektiverfahrung prägend. Und ein „Himmel“ ist der „iHeaven“ noch lange nicht. Die Lösung für jene Fragen, die der Himmel im Gedächtnis der Menschheit seit Adam und Eva versprochen hat, noch weniger.
ninavale: iHeaven, 2020, Bildschirm, Neon, KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Der Übergang zum zweiten Ausstellungsflügel, in der eine Antwort für die im verschlossenen Paradies aufgeworfenen Fragen entworfen wurde, wurde von zwei Werken überbrückt, die gleichzeitig auch die ersten Werke bildeten, die die Besucherinnen und Besucher beim realen Besuch, der eben nur wenige Tage möglich war, empfingen. „We, the poor of this world“, ein Video von Valentin Stefanoff, und „enjoyment“ von ninavale in Form von einzelnen Leuchtbuchstaben, in Kartonschachteln aufbewahrt.
In „We the poor of this world“ (2014) lässt Valentin Stefanoff mit einfachen Bildern und kleinen Verfremdungen die „Armen der Welt“ sprechen. Sie wenden sich gegen den „Logos“, das Synonym abendländischen Wissens, sie beschwören die Oberfläche, zitieren Robinson Crusoe und decken mit ihm das immanente koloniale Machtgefälle von Helfern auf, das neoliberale System der Kundenbindung als die reziproke Falle von Ermächtigung durch Konsum, den Wahnsinn alljährlicher Stauberichte in Urlaubszeiten. Sie lassen auch Francis Fukayama und sein „Ende der Geschichte“ sprechen, auch Platon aus seinem Staat, selbst Jesus von Nazareth aus der Bergpredigt.
In der Zeit, in der diese Ausstellung stattfand, war diese Erzählung wie eine Ballung ins Jetzt. Nur zwei Szenen bestimmen das fünfminütige Video, in dem nach kühner Sampling-Methode einzelne Sätze höchst unterschiedlicher Bedeutung, Zeiten und Autoren verschnitten werden. Ein die Tauben fütternder Obdachloser – es ist dieselbe Person (in Paris), die auch die Tauben im ersten Ausstellungsraum geleitet hat – und ein verfallener Friedhof Osteuropas mit glagolitischen Schriftzeichen.
Gleich zu Beginn verweigern sich die Armen dem „Logos“ – denn er ist dort das Synonym für die Macht, die Zeit zu definieren: „We don’t have the logos, for the logos was at the beginning of time; whoever has the logos is in possession of time.“ Valentin Stefanoffs Videoarbeit lässt die Armen mit dem abendländischen Logos abrechnen: Sie wollen nichts mit ihm zu tun haben, denn es ist Mittag, es ist der Mittag der Geschichte! „No, we don’t want anything to do with the logos, for it is also at midday, the midday of history“, sagt die Stimme im Video.
Irgendwann aber fallen auch Sätze aus der Predigt Jesu: „Euch ist das Geheimnis des Gottesreichs gegeben, aber zu anderen spreche ich in Form von Gleichnissen – weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen.“ (Mt. 13,11).
Valentin Stefanoff: We the poor of this world, 2014, Video, KULTUMdepot Graz, aus: VULGATA. 77 Zugriffe auf die Bibel (2017)
Im Klang eines derartigen Ausstellungsbeginns lagen Schachteln am Boden, die rosa leuchteten, fast so, als ob das Kloster ein Freudentempel geworden wäre. Dabei war es zusätzlich mitten im Umbau, wenige Tage später wurde gestemmt und gestaubt, Leitungen verlegt und verputzt: Ausnützung der geschlossenen Party sozusagen…
Mindestens ebenso stark als eine rosarote Vergnügungswelt war die Assoziation zu Versandboxen, in denen diese Buchstaben aus geformten Neonröhren lagen. Ihr Licht definierte diese Boxen neu. Was auch immer man in Schachteln birgt, verstaut, versendet: Hier ging es nicht nur um das bald wieder massiv anschwellende Online-Shopping aufgrund geschlossener Geschäfte, sondern auch um die Kreierung von Sinn durch Laute und entstehender Sprache. Wenn man sie „richtig“ arrangierte, entstand das Wort „enjoyment“. Genuss, Erbauung, (Lebens-)Freude. Der einzige Ort, das Paradies zu finden, sagt NINA Kovacheva, sei das eigene Innere.
Eben dieses „enjoyment“ – Bedeutet dieses Wort im Deutschen Sehnsucht? Genuss? Die Kunst, sich am Leben zu erfreuen? – war das Thema des zweiten Ausstellungsflügels. Bevor man dieses Wort als einen kleinen Schriftzug aus Messing an der Wand entdeckte, waren die Besucherinnen und Besucher mit einem großen Fernrohr konfrontiert. In der Mitte des Ganges stand auf der Transportbox das Künstlerpaar als ein kleiner 3D-Ausdruck. Was so viel hieß wie: Ninavale nahmen die BetrachterInnen in die Sternenschau mithinein. Der Teil dieser Ausstellung war mit „The temptations of ninavale“ betitelt. Versuchungen also der beiden. Versuchungen nicht der Schlange aus Genesis 3, sondern Versuchungen zur Lebensfreude und zum Genuss des Lebens. Eine Aufforderung zur Versuchung eben für alle, die Teil dieser Ausstellung werden.
ninavale: The Temptation of ninavale, 2017, 3D-Druck, Fernrohr, Schild, 7 Monitore. KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Der Ausstellungsteil war eine Weiterentwicklung von Installationen, die ninavale im Museum for Contemporary Art in Taipeh (Taiwan), in der Nationalgalerie von Mazedonien in Skopje und im Museum for Contemporary Art in Sofia (Bulgarien) gezeigt hatten. Darin waren es das „Surplus Enjoyment“ bzw. die „Versuchungen von ninavale“ zu einem „guten Leben“, die in der Grazer Ausstellung ursprünglich auf das Jahresleitmotiv der Ausstellungen im KULTUM erweitert wurden. Doch dann kam die Pandemie und das Konzept dieser Schau wuchs mit ihren Anforderungen und Konsequenzen. Bekannte „Indikatoren“ des guten Lebens – wie der „persuit of happiness“, die Sicherung des Wohlstands, die Vermehrung von Gütern und Besitz, die Macht, etwas durchsetzen und gestalten zu können, die gesellschaftliche und berufliche Anerkennung – können bis zur Lächerlichkeit verkommen, wenn der Verlust der Freiheit oder der Gesundheit auf dem Spiel steht. Insofern bildete die Pandemieerfahrung eine völlig neue Folie, auf die hin die Ausstellung nun gelesen wurde.
ninavale: the temptations of ninavale, 2017, Installation: Video, Neon, 3D-Objekt, KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Was also, wenn man den temptations of ninavale nicht und nicht folgen will und kann? Die Aufforderung auf den kleinen Monitoren entlang des Ganges mit dem Fernrohr und dem digital ausgedruckten Künstlerpaar brachte Verhaltenheit, stoische Ruhe aber ebenso auch Unverschämtheit, Ironie und Zynismus zugleich zum Ausdruck. „ENJOY THE SOCIETY! ENJOY THE DREAMS! ENJOY THE LIGHT! ENJOY THE LIBERTY! ENJOY THE END! ENJOY THE LONELINESS! ENJOY THE ANONYMITY“, las sich auf den kleinen Monitoren, auf denen in Filmminiaturen unterschiedliche Landschaften mit Schafherden, die Pariser Metro bei Nacht, Häuserfassaden im Regen oder Nebelschwaden abgebildet waren.
Derartige Aufforderungen riefen in dieser kollektiven Erfahrung der Corona-Pandemie fundamentale Erschütterungen hervor: Wurden zu Beginn des 1. Lockdowns im Frühling 2020 noch naive Solidaritätsvisionen ausgerufen, Balkonkonzerte, ein Klatschen für die systemrelevanten Berufe, so war das in den folgenden Lockdowns spürbar anders: Überforderte PflegerInnen und Ärzte, überfüllte Intensivstationen am Rande des Kollapses. Es konnte und durfte niemand mehr die Gesellschaft genießen. Die Anonymität war ebenfalls kein Genuss mehr, sondern ein zunehmendes Los. Ebenso die Einsamkeit. Die Lichter der Autos in der Nacht verschwanden. Die persönliche Freiheit war auf eine bis dahin in westlichen Wohlstandsgesellschaften nie geahnte Weise beraubt. Überraschend schnell übernahm die einstige Pastoralmacht der Kirche nun der säkulare Staat. Doch auch Verschwörungstheoretiker schossen aus dem Boden, eine rationale Unterscheidung, was richtig, wahr oder falsch ist, schwand mehr und mehr dahin. Die Felle des gesellschaftlichen Zusammenhalts begannen allmählich fortzuschwimmen. Einsamkeit, Armut und existenzielle Ängste verstärkten sich. Das „gute Leben“ schränkte sich für viele nicht nur dramatisch ein, es stand und steht auf dem Spiel.
Und dennoch: Bereits am Ende der Eröffnung wiederholte die Künstlerin NINA Kovacheva ihre Aufforderung: „Enjoy this life!“ Diese Aufforderung zum Leben, zu seiner Freude und seinem Vergnügen wollte das Künstlerpaar ninavale nicht als zynische Kritik am Hedonismus verstanden wissen, wenngleich es freilich auch eine Lesart ist. Vielmehr sollte es eine Aufforderung für eine wirkliche Suche sein, wie Leben gelingen soll und kann. Auch in der Lockdown-Erfahrung des Stillstands, der Einsamkeit, der temporären Freiheitsberaubung und der zunehmenden Anonymität. Dabei ist NINA Kovacheva und Valentin Stefanoff gerade die geistige und auch spirituelle Dimension besonders wichtig, die Momente hervorruft, „in denen unser Bewusstsein erregt und erleuchtet wird, in denen wir klar sehen und unsere Umgebung mit Wertschätzung beurteilen können. Es ist ein Zustand, der uns auch spirituelle Stabilität verleiht, eine Innensicht, die uns erlaubt, angemessen und begründet auf unser Leben einströmende Ereignisse zu reagieren“[1] (ninavale).
[1] Ninavale im Gespräch mit dem Autor.
Um diesen Zustand herzustellen setzen ninavale freilich immer auch bewusst auf destabilisierende sinnliche Erfahrungen und Eindrücke. Die beiden letzten Ausstellungsräume wurden von Videoinstallationen besetzt, die den „Lebenslauf“ von Anfang bis zum Ende erstaunlich sinnlich zu übersetzen vermochten. In „Alone – The other is no one other than the self“ wurden zwei junge Menschen, in Zeitlupe beim Laufen aufgenommen, durch eine große Glasvase projiziert. In ihr fing sich der Körper ein, ja er wurde gleichsam zum „Geistkörper“ auf der Vase. Die Wölbung des Glases bewirkte auf den Projektionswänden eine Verzerrung dieser jungen Frau und dieses jungen Mannes, die engelhafte Züge annahmen, einmal davor, einmal dahinter, einmal voran, einmal im Schatten: „Der andere ist niemand anderer als das Selbst“.
Destabilierend schließlich wirkt auch der letzte Ausstellungsraum: Die Betrachterinnen und Betrachter wurden von NINA Kovacheva in ein Karussell mitgenommen, man stieg aus der Position des Stillstands ein; das Gegenüber des Vergnügungsparks aus Masken und Gesichtern begann sich zu drehen, unterbrochen wurde die Fahrt durch kurze Interruptionen einer EKG-Kurve, die wieder und wieder erschien. Die Welt begann sich zu drehen, so sehr, dass einem das Herz zu stehen kommt. Und am Ende verriet das Lebenskarusell, dass die Kurve auch nicht mehr oszilliert. Das ist das Ende. Das ewig sich wiederkehrende Warten auf jemand, wird zum am Ende zum Warten auf das unbestimmte Etwas („Waiting for Someone or Something“) – das ist der Tod.
NINA Kovacheva: Obscured by the Mind, 2012, Lichtinstallation, Neon, Glas, KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Auf diesem Hintergrund vertiefte sich im Rückgang die Aufforderung zum „enjoyment“ noch einmal in einer anderen existenziellen Dringlichkeit als es die aktuelle Ausstellungszeit mit ihren Tücken der Beschränkung vermochte. „Letzte Dinge“ wurden schließlich im Vorbeigehen bereits in Form von Neonskulpturen an der Wand wahrgenommen: des Teufels Gesicht und ein halb reales und ein halb gespiegeltes Engels-Flügel-Paar. „Die Antagonisten stehen sich gegenüber, erinnern aber ebenso gemeinsam an quietschvergnügtes Leben – an nächtliche urbane Lichtlandschaften, die Zerstreuung und die so kostbar gewordene menschliche Gesellschaft verheißen und die jetzt zu einer bestimmten Stunde erbarmungslos ausgeknipst werden müssen.“[1]
NINA Kovacheva erinnerte in dieser Arbeit auch an die Urprinzipien von gut und böse, deren Erkenntnis und Unterscheidung einst die Schlange im Garten des Paradieses versprochen hatte. Der Titel aber lautete: Verdunkelt vom Geist. Oder vom Denken – „OBSCURED BY THE MIND“. Das Scherenschnitthafte der Emblembe ließ auch daran denken, in Zeiten alternativer Fakten diese Urprinzipien wieder zu erinnern. Denn wir „leben derzeit irgendwo verloren zwischen Wahrheiten und Lügen“[2], konstatierten Kovacheva und Stefanoff. Für sie ist dieser Impuls der Unterscheidung von gut und böse gerade auch in der „Saturiertheit der Gesellschaft“ und in der täglichen „Trivialisierung der Gewalt“ und in der „Banalisierung des Bösen“[3] besonders angezeigt.
[1] Kulturzeitung Achtzig, Nov./Dez. 2020, 7 [2] Ninavale im Gespräch mit dem Autor. [3] Ebd.
NINA Kovacheva: Obscured by the Mind, 2012, Neon-Objekte. KULTUMdepot Graz, aus: ninavale: Paradise is temporarily closed (2020/21)
Derartige Fragestellungen haben NINA Kovacheva und Valentin Stefanoff in ihren großen Museumsausstellungen weltweit (von Frankreich, Großbritannien über Ungarn, Bulgarien, Mazedonien, bis nach China und Taiwan) auch in Einzelpositionen immer wieder eindrucksvoll gezeigt. Beide Künstler waren schon bislang mit einigen Werken im KULTUMdepot Graz vertreten. Es ist nun – auch dank des Entgegenkommens von ninavale – gelungen, die gesamte Ausstellung für die Sammlung des KULTUM zu erwerben. Sie ist damit auch ein kultureller Gedächtnisspeicher einer für die gesamte Welt so historischen Situation und ihres künstlerischen Umgangs. Darüber hinaus schreibt sie die Grundfragestellung des sich in zehn virtuellen Räumen aufgestellten Museums weiter, wie sich Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts weiterschreibt – als ein offener Prozess.
Johannes Rauchenberger