EINATMEN – AUSATMEN
Dem alten Gebäude einen neuen Atem einhauchen.
Orientierungsplan
und Kurzführung durch die Ausstellung
Mariahilferplatz und Kreuzgang, Innenhof und Treppen, das ehemalige Refektorium, frühere Klosterzellen, das ehemalige Oratorium, die Mariahilferkirche: Historisch schwer atmende Orte des Grazer Minoritenklosters werden zu Räumen, über Atem nachzudenken. Seufzen und Atemnot, Windstoß und Wolken, Atem und Atemlosigkeit, Atem, Liebe, Leben und Hauch. Letzter Atem und ein Wehen von Trost: So weit spannen sich die Felder auf, mit denen Kunst nach diesem besonderen Jahr der Atemnot und dem besonderen Jahr der Erneuerung des Minoritenklosters dem Publikum nun entgegen kommt.
Mariahilferplatz und Kreuzgang: Ein Windstoß für Eden, ein Seufzen für Mariahilf
Mit einem leisen Wehen eines weißen Vorhangs aus den alten Fenstern (einer Arbeit von Nina Schuiki (01)) beginnt diese Ausstellung zur baldigen Wiedereröffnung des Minoritenzentrums. Im Kreuzgang versinkt eine Bank von Markus Wilfling (02). Das Baugerüst im Kreuzgang zeigt ein Baustellentransparent von Christiane Peschek (03) und lädt dabei nach Eden ein, wenn man den QR-Code scannt. Doch nur einmal. Ein Seufzen ist aus dem zweiten Minoriten-Hof zu hören. Seufzen, sagt Daniel Amin Zaman (04), ist ein Stoßlüften der Seele. Wir befinden uns in Mariahilf.
Auf der Treppe – Bedrohtes Atmen
Auf der Treppe ist schon der Notausgang: Mit einem bedrohten Atmen
(Agnieszka Kalinowska (05)) beginnt die Ausstellung, bevor sie begonnen hat. Oder mit der Einladung, „tief Atem zu holen und die Luft in den nächsten Raum zu tragen“ (Werner Reiterer (06)). „Was wir geben, was wir nehmen“: Auch daran wird erinnert. Dass es aber eine Erneuerung des Atems, der Luft, auch der sozialen Luft geben muss, zeigt der berühmte "Kuss" (der eigentlich ein gegenseitiges Beatmen ist) von Marina Abramovic und Ulay (07): Am Ende geht ihnen der Sauerstoff aus.
Franziskussaal – Ambivalentes Relaxans
Die Schwellen zum Franziskussaal bestehen aus einer Girlande aus Stroh. Geister entweichen sonst. Es ist ein Ort der Ruhe und des Aufatmens, den Liesl Raff (08) hier gebaut hat. Oder doch nicht? Das „Einlassen“ ist ganz eng verbunden mit der „Fragilität der Osmose“.
Im „Steingang“ – Über das Auflösen
Der Steingang ist bestimmt vom Auflösen und der virtuellen Wolke (Christiane Peschek (09)). Dahinter befindet sich der Minoritensaal mit seinem offenen Himmel, den Engeln und der emporschwebenden Maria. Hier aber sieht man buchstäblich den Wind für die Vorhänge, die den Windstoß nach außen tragen (Nina Schuiki (01)).
Im Südgang und in den Zellen: Corona – und eine Gesellschaft der Anpassung
Was die Corona-Zeit mit uns als Gesellschaft der Anpassung gemacht hat, wird im Südgang und in seinen Zellen verhandelt: im Grunde ist es aber vielmehr auch die Zukunft und die Angst vor der neuen Normalität. Michael Endlicher (13) stellt sie als eindrucksvolle Frage im Gang: WHO IS AFRAID OF NEW NORMAL? („Wer hat Angst vor der neuen Normalität?“). Nicht nur schlecht eingepackte Menschen (Anna Jermolaewa (16)) sind zu sehen, sondern auch eingepackte Monumente (Julie Hayward (12)). Einer mit einer Frauenstimme (Michael Endlicher (14)) entschuldigt und distanziert sich in der ersten Zelle eine halbe Stunde lang. Seine Stimme dominiert hier alles. Wohin driften wir eigentlich – als Gesellschaft und in unseren Beziehungen? Eine große Rutsche von Julie Hayward (15) – in der dritten Zelle – hat keinen Boden mehr. Ein gerollter Wohnzimmerteppich ist noch ihr Gegengewicht am Boden. In der letzten Zelle lässt Maria Lassnig (17) in einem frühen Zeichentrickfilm überhaupt die Stühle tanzen, während sie selbst mit einer Gasmaske sitzt.
Im Westgang und seinen Zellen: Atem als Lebensspender – zwischen Arbeit, Liebe und Vergänglichkeit
Atem ist Leben: Im Westgang und seinen Zellen haucht die junge VALIE EXPORT (11) (aus dem Jahre 1970) mit ihrem Atem ihr „Ich liebe dich“ auf die Glasscheibe. Heribert Friedl (21) hat in der Zelle alte, sehr alte Kleider längst Verstorbener gehängt – und lässt deren Seele nach mehr als 100 Jahren geichsam weiteratmen. Daniel Amin Zamans (18) „Atempause“ lässt umwickelte Seile (deren Inneres in der Fachsprache der Seiler „Seele“ heisst) quasi balancieren. Man hört seinen Atem im rituellen Tun des Umwickelns, das Wochen gebraucht hat. Diese balancierenden Seile werden von zwei Linienzeichnungen Isabella Kohlhubers (20) gerahmt. Sie zeichnet diese in unregelmäßigen Abständen – quasi als Vorübung zur Kunst – mit möglichst gleichem Abstand: Diese dehnen sich wie Gradmesser von Erschütterungen seismografisch in den Raum aus. Wie beiläufig erhebt sich daneben eine fliegende Figur, doch bedeckt mit Schleier in die Höhe: „Deus absconditus“ von Michael Triegel (19) weist hin auf den verborgenen, (abwesenden ?) Gott. Der kniende Büßer davor merkt es nicht. Christiane Pescheks (09) Figuren am Ende des Ganges erzählen vom Auflösen – in Zeit, Identität und Geschlecht. Jahrzehntelang hat Ferdinand Penker (22) nichts anderes gemacht, als den Atem des Lebens mit rituellen Strichen zu bewältigen: „I must draw every day“ („Ich muss jeden Tag zeichnen“) war sein Mantra. Seine Bildinstallation ist ein „TATAMI“, ein Bett, eine Reismatte, auf dem sich das Leben, das Lieben, das Sterben ebenso abspielen wie die Meditation. Wo immer man das Leben und seine Zeit sucht – Heribert Friedl (23) verkleinert die vielen Bände von Marcel Proust‘s „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf einen Twitter-Satz zusammen: „In the search of lost time.“ Ist das Erinnerung? Ein Lebensresümee? Eine Verkürzung?
Letzter Atem – Im ehemaligen Oratorium
Den „letzten Atem“ hören wir im ehemaligen Oratorium. Dirck Möllmann hat seine Atemnot als Aufnahme seiner Partnerin Isabella Kohlhuber (24) am Handy überlassen, nur weinige Tage, bevor er verstarb. Die paar Sekunden der Aufnahme loopt Kohlhuber nun aber ins Unendliche (in die Ewigkeit).
Epilog – Erinnern. In der Mariahilferkirche
Nur eine Mauer entfernt ist der Hochaltar vom Oratorium, doch die Besucherinnen und Besucher gehen noch einmal durch die Ausstellung zurück, um schließlich in der Mariahilferkirche zwei Mal am Tag eine 10-minütige Komposition von Heribert Friedl (25) zu hören. In ihr geht es um Trauer, um Tränen, um den Blasebalg einer Orgel, um Trost mit dem fernen Klang eines Hackbretts.
ORF-Orientierung: KULTUM in Graz: Atmen in schwierigen Zeiten, 5.12.2021. Gestaltung: Christian Rathner
Mariahilferplatz, Kreuzgang und zweiter Innenhof:
Ein Windstoß für Eden, ein Seufzen für Mariahilf
Nur ganz wenige Tage bevor die Welt im Vorjahr jäh aufgrund von COVID-19 einen Stillstand ausrief, wurde die erste Mauer bei den Minoriten durchgebrochen. Es folgte das Schweigen des ersten Lockdowns, völlig einsame Begegnungen im Kreuzgang im durchbrochenen Homeoffice, gefolgt von einer stillen Paradiesesausstellung im alten Kloster. Fast zeitgleich durchbrach das Dröhnen der Pressluftbohrer den Boden des franziskanischen Kreuzgangs. Allein der Kirschbaum blühte in gleichbleibender Pracht wie jedes Jahr. Es folgten Bagger, tiefe Löcher, Dreck, Hitze, Sturm – und Monate der Kälte, in denen der schöne Kreuzgang mit Plastikplanen verhüllt wurde. Und nun: das leise Wehen eines weißen Vorhangs aus den alten Fenstern. Die in Berlin lebende, aus der Steiermark stammende Künstlerin Nina Schuiki haucht mit Store (Windstoß) dem Gebäude Leben ein.
Sie verleiht ihm schon von weitem sichtbar einen eigenen Atem und verweist auf sein Innenleben. Im Innern sorgen Ventilatoren für die Bewegung des leichten Textils und streifen die vorbeigehenden BesucherInnen mit einem spürbaren Lufthauch. Die Geste schafft eine Verbindung von Innen und Außen, von Objekt und Subjekt. Sie ist ein fast feierlicher Beginn für eine Ausstellung, die nicht nur ein Ende eines Renovierungsprojekts „einwehen“ soll, sondern auch eine gedankliche Nachschau auf dessen Renovierungszeit, die untrennbar mit der globalen Erfahrung der Angst, den Atem zu verlieren und im beengten Atmen stecken zu bleiben, verbunden ist.
Der wie zufällig nach außen wehende Vorhang kündet den Aufbruchswind im Gebäude schon am Mariahilferplatz an. Das historische Klostergebäude, das sich in den letzten Monaten mancherorts erneuert und über die Jahre hinzugekommene Adaptionen und Zubauten abgeschüttelt hat, lässt am offenen Fenster auch Frischluft hinein. Zur Ausstellungseröffnung weht eine weitere Reihe von Vorhängen auch aus den Fenstern des zweiten bereits fertig sanierten Innenhofs und verortet auch hier ein Innen mit einem Außen.
Im ersten Hof – dem Kreuzgang – ist das Gerüst für die Fassadenerneuerung sichtbar: Ein großes Baustellentransparent beschreibt eine Diagnose: „BODIES AND WORLDS DRIFTING APART – Körper und Welten driften auseinander“ ist dort als Beobachtung zu lesen. Der groß angebrachte QR-Code will gescannt werden. Dieser Schnappschuss führt weniger zu einem Imagefilm für das neue Veranstaltungszentrum, sondern in die andere Welt, die die Künstlerin Christiane Peschek anbietet: Passend zum Kreuzgang mit Paradiesbaum ist es EDEN, der virtuelle Paradiesgarten, in den man übers Smartphone eintauchen kann.
Wie die romanische Löwin, die sich federleicht vom Transparent löst, bietet EDEN einen Ort, wo analoges und digitales Sein in ihrer Auflösung zusammenkommen. Entlang der eigenen Atmung nimmt eine salbungsvolle Stimme einen mit auf den imaginären Weg zur endgültigen Übereinkunft zwischen analoger und digitaler Erfahrung. Eintreten darf man aber nur ein einziges Mal. Das verweist nicht nur auf die Endgültigkeit eines Eintritts ins Paradies, sondern auch auf die Endgültigkeit und Unausweichlichkeit einer solchen, längst stattgefundenen Verschmelzung von digitalen und analogen Atmungsrhythmen. Daneben taucht Markus Wilfings Bank im umgegrabenen Garten vor der unter dem markanten Kirschbaum platzierten historischen Johannes Nepomuk-Statue mit seinem prägnanten Putto, der zur Stille aufruft, entweder ab oder auf. Im Winter war die Statue einfach mit einem Plastiksack überstülpt worden. Als Plastik ist sie in Bewegung, auf und ab; sie entzieht sich und ist gleichzeitig im Begriff herauszutreten. Das Beichtgeheimnis, auf das der Begleitputto des so zentralen Propagandaheiligen der Habsburger hinweist, hat in dieser Stadt ja eigentlich fast nur mehr in der Mariahilferkirche Relevanz.
Vor dieser historischen Reminiszenz also diese sinkende Bank: Wilfings Spiel mit der Illusion schafft eine Form der Animation. Das Durchdringen der Erdoberfläche, lässt nicht nur grobe Schwankungen zu, sondern auch Durchlässigkeiten und Verbindungen, wo man sie nicht erwartet. Eine zweite Bank wird über die Projektlaufzeit im Hof Passanten zum Niederlassen einladen. Doch auch diese wirkt wie ein Akt der Täuschung. Entgegen des ersten Augenscheins bietet sie kein Schutzdach gegen Regen, Hagel oder Sonne, sondern besteht nur aus einem Metallgitter, das den Blick der Sitzenden – und nur vermeintlich Geschützten – direkt nach oben lenkt. Der Blick wird durch das Gitter zum fragmentierten und gerasterten Bild des Himmels, der Weite und Freiheit hinter Gittern nur mehr perforiert.
Aus dem anderen Hof dringt ein lautes Seufzen. Der Wiener Künstler Daniel Amin Zaman, von dem diese Akustikinstallation stammt, nennt das Seufzen ein „Stoßlüften der Seele“. Wir tun es im Schnitt alle fünf Minuten, meist unwillkürlich und unbewusst, dann wieder als ganz bewussten Akt: Wir seufzen. Was früher als angelerntes Verhalten galt, hat mittlerweile eine wissenschaftliche Erklärung als lebenswichtige Körperfunktion erhalten. Durch den tiefen Atemzug werden abgelegene Lungenbereiche belüftet, die bei normaler Atmung nicht mit genügend Sauerstoff versorgt würden. Seufzen dient also einer positiven Kalibrierung – und das nicht nur auf physischer, sondern insbesondere auch auf psychischer Ebene. Dennoch assoziieren wir das Seufzen vordergründig als Ausdruck von Sorge, Kummer und Schmerz sowie Müdigkeit oder unerfüllter Sehnsüchte und Wünsche. Was wir dabei oft übersehen, ist, dass wir auch bei Glück, Lust, Zufriedenheit und Entspannung seufzen. Ja mehr noch, dass das Seufzen gerade als temporäre Schlussformel eines „Aus-Atmens“ in einer „Erlösung“ resultiert; wenn auch nur für einen Augenblick. In diesem Sinn ist die von Daniel Amin Zaman dramaturgisch komponierte Soundinstallation aus an- und abschwellenden und pausierenden Seufzern durchaus auch ein wortlos-geatmetes Mantra der Hoffnung. So gesehen wird auch die unmittelbar angrenzende Mariahilf(!)er-Kirche in diese Bewegung mithineingezogen.
Auf der Treppe
Bedrohtes Atmen
Der erste Treppenlauf, der nach dem renovierten Kreuzgang in den ersten Stock führt, endet gleich mit einem Notausgang: Der mit einem hohen Pfeifton einhergehende „Emergency Exit“ (Notausgang) der polnischen Künstlerin Agnieszka Kalinowska ist hier an den Anfang gesetzt.
Die Drei-Kanal-Video-Installation von Kalinowska zeigt eine, wie für die Arbeit im Büro gekleidete, kriechende Frau in einem klaustrophoben Entlüftungsrohr. Sie erinnert an berühmte Filmausschnitte von Verfolgungsjagden oder Meisterdiebstählen. Anders als die HeldInnen der Leinwand verbleiben die Frau und auch die Filmmusik in steter Alarmbereitschaft. Sie kommt – als Repräsentantin des weiblichen Alltags (?) – nie am rettenden Ausgang an. Statt der Polizei bemüht sich am Ende des Lüftungsrohrs eine große Ratte, ebenso im steten, unendlichen Rennen gefangen. Aus dem aktuellen Dialog liest sich Kalinowskas Arbeit von 2005 weniger als feministische Auseinandersetzung mit den Kränkungen weiblicher Einengung, denn als Auseinandersetzung mit der bedrängten Atemlosigkeit einer durch einen Krankheitserreger bedrängten Gesellschaft. „Wie kommen wir da raus?“, das ist die Frage, die sich nicht nur Frau und Ratte, sondern auch politische EntscheidungsträgerInnen und deren WählerInnen weiterhin stellen müssen.
Ein neuer Eingang, der seit Jahrzehnten mit seiner metallenen Eisentür versperrt ist, führt rechts in die Ausstellung. Als der angrenzende Raum Museum war, galt die höchste Sicherheitsstufe. Hier, im ersten eigentlichen Museumsraum, werden wir, so scheint es auf den ersten Blick, zu ZeugInnen eines sich küssenden Paares. Wortgleich mit dem Ausstellungstitel „EINATMEN – AUSATMEN“ heißt die historische Arbeit „Breathing in – Breathing out“. Die beiden Künstler Ulay und Marina Abramovic beatmen sich hingegen gegenseitig. Sie teilen ihren Atem, solange bis nur noch ein Austausch von Kohlendioxid stattfindet. Gleichzeitig sind Mikrofone an die Kehlen geklebt und geben die zunehmende körperliche Anstrengung akustisch wieder, bis beide Akteure die Aktion schließlich nach großem Kampf abbrechen und die Performance damit beenden. Breathing in – Breathing out wurde erstmals 1977 in Belgrad performt, in einer politischen Situation im ehemaligen Jugoslawien, in der Redefreiheit ein wesentliches Ziel künstlerischer Aktionen war. Ebenso ästhetisch wie beängstigend loteten die beiden über den Akt gegenseitiger Beatmung einmal mehr nicht nur die physischen und mentalen Grenzen des Körpers und des symbiotischen Paares aus, sondern schufen ein ebenso anziehendes wie schmerzliches Bild gegenseitiger Abhängigkeiten.
Solche Abhängigkeiten – bezogen auf Globus und Klima – zeichnet Werner Reiterer auf T-Shirts, die auf einer Stange im aufgeklappten Kasten hängen: Was ich gebe, was ich nehme – Urin, Exkremente und Kohlendioxid zum einen, und Wasser Pflanzen, Fleisch, Sauerstoff zum anderen. Eine zum Nachdenken bringende Mode, die der Künstler imaginiert. Mit HOLEN SIE TIEF ATEM UND TRAGEN SIE DIE LUFT IN DEN NÄCHSTEN RAUM! bricht
er einmal mehr Erwartungshaltungen, bzw. Vorstellungen von richtig und falsch. Luft zu holen hat schon mehrmals in der Geschichte fatale Folgen gehabt. Zwangsläufig hält das Publikum kurz verunsichert inne. Sollen wir der Anweisung nun folgen? Oder trauen wir solchen im Befehlston vorgetragenen Aufforderungen eben besser nicht? Ob es hier oder dort besser ist?
Im Refektorium (Franziskussaal) –
Ambivalentes Relaxans
Es scheint, es wird besser. Sogar so, dass sich im nächsten Raum eine fast mystische Stille entfaltet. Die in Wien lebende Künstlerin Liesl Raff baut eine Art skulpturales Relaxans ins ehemalige Refektorium (lat.: Ort der Erquickung!), den ehemaligen (Winter-)Speisesaal: Schattendächer, schwer hängende Latexseile, große, „übersinnliche“, gepuderte Latexbeutel sind Ebenbilder ihrer organischen Eigenschaften.
Sie erinnern an Körperzustände und Spiegelungen innerlicher physischer Bedingungen von Anziehung und Abstoßung, von Kontraktion und Extraktion. Not yet titled oder Transitions („Noch nicht gekippt”, „Übergänge”) führen in eine Zwischenwelt aus Entspannung und Bedrohung, aus lyrischer Verwendung von Sprache und physischem Übergriff. Was ein Blatt ist, könnte auch eine Schlangenhaut sein. Oder eine lange, überlange und schwere Zunge. Hängende Behältnisse erinnern an eingefallene Lungen. Puderweiche Oberflächen und die fühlbare Schwere der aufgehängten Latexmaterialien bewirken einen Spiegelreflex im Sinne von Lacan: Er lässt in die eigenen Eingeweide blicken. Irgendwo in dieser verführerischen Sinnlichkeit wird man als BetrachterIn seinen oder ihren Ort zu finden haben. Die Möglichkeiten des eigenen osmotischen Eintauchens oszillieren zwischen dem Angebot der Entspannung und des Niederlassens und den leisen Bedrohungen des fragilen Gegenübers beim tastenden Umwandern. Neben sinnlicher Verbundenheit bewirken die organischen Materialien auch einen Reflex des vorsichtigen Rückzugs. Im Angesicht von assoziativen Erinnerungen scheinen die Objekte mit ihren ausgestreckten Gliedern und langen Zungen wie fleischfressende Pflanzen zum leicht übergriffigen Verschlingen bereit.
Im „Steingang“ –
Über das Auflösen
Christiane Peschek tapezierte (in der ersten Phase der Ausstellung im Sommer) einen Himmel auf die für den ersten Teil der Ausstellung errichtete Trennwand zum dahinterliegenden barocken Minoritensaal, dessen Inneres und dessen „Umfeld“ nicht nur umfassend saniert wurden, sondern auch dessen paradiesische „Himmelsbilder“, von jeder Verunreinigung befreit, bald für alle sichtbar in hellem Glanz erstrahlen werden.
Himmelsbilder als Begriff des Befreiten und Grenzenlosen sind auch ein zentrales Thema für Christiane Peschek, doch erzählt sie diese auf dem Hintergrund der Gegenwartserfahrung digitaler Bildwelten und aktueller Geschlechts- und Körperdiskurse. Sich eine Traumwelt zu erstreamen gehört heute zu einem täglich praktizierten Lebensgefühl. Vielleicht ist es auch die einzige Erfahrung von „Trans-Zendenz“ von jungen Menschen in der Gegenwart. „Young soul, fluid spirit“ steht denn auch bezeichnender Weise auf ihrem Instagram-Account. Christiane Pescheks Kunst ist an dieser Grenzwelt angesiedelt. Sie malt mit dem Handy, wischt und bläst auf, ob es Lippen, Gesichter, Körper sind. Sie verlagert geschlechtsneutrale Körper ins Innere der Smartphones. Der Generation der permanenten Selbstrepräsentation auf diesen und den dort abrufbaren Plattformen fügt sie ihre ästhetisch schönen, aber nicht minder zeitdiagnostisch-kritischen Bilder hinzu. Die Erweiterung des Körperbegriffs von feministischen und queeren Körperdiskursen spannt einen mächtigen zeitgenössischen Bogen zum – hinter Pescheks Himmel sich befindenden – Deckengemälde des Minoritensaals auf, wo zwischen luftigen Wolken die barocken, geschlechtsneutralen Putten im Geleit einer entrückten Maria durch das irdische Dach aufsteigen.
Die „alten“ Leitfiguren der christlichen Heilsgeschichte, die dort auf den gemalten Himmel gebannt wurden, sind, das sollte man aus historischer Perspektive in den Wochen der Freude über ein renoviertes Kloster nicht ganz vergessen, in einer Zeit gemalt, deren Sicherheiten auch nicht ganz so sicher waren, wie sie heute manchmal erscheinen: In einer Zeit konfessioneller Kämpfe Anfang des 18. Jahrhunderts waren sie Ausdruck eines identitätsspendenden katholischen Triumphes, die vor allem auch mit Bildern und Architektur operierten. Der künstlerische Vordenker und „Illustrator“ am Anfang dieser Epoche war am im frühen 17. Jahrhundert in Graz Pietro de Pomis. Und eben dieser liegt in der von ihm erbauten Mariahilferkirche sogar begraben! Von ihm stammt auch das Gnadenbild von Mariahilf, das 150 Jahre nach seiner Entstehung zur „Stadtmutter von Graz“ erklärt wurde. Gleichzeitig aber wurde begonnen, entsprechend der damals zeitgenössischen Welterklärungsmodelle, den einst im Barock so bevölkerten Himmel leer zu räumen. „Wir wollen“, so wird Heinrich Heine etwas später formulieren, „hier auf Erden schon das Himmelreich errichten. Den Himmel überlassen wir getrost den Vögeln und den Spatzen.“ Den Himmel auf Erden in einer retuschierten, technisch erweiterten Datendimension erkundbar zu machen, schickt sich die Künstlerin Christiane Peschek nun an, wenn sie ihn, als zweite Ebene auf Glas gedruckt, vor den in die Höhe reichenden Himmel legt.
Der Eintritt ins Paradies erfolgt durch den Screen. „Ich habe ein Faible für sakrale Räume“, sagt sie über sich. Inspiriert von mehrfach rezipierten und adaptierten ritualisierten Bildprogrammen schafft sie neue, sowohl kulturell wie auch digital und analog fluide Kompositionen eines Lebens zwischen hier und da.
Hier taucht Nina Schuikis Store noch einmal auf. In der Innenansicht der bereits von außen sichtbaren Geste der bewegten Vorhänge als offene Atmung des Gebäudes zeigt sich die ganz profane, technische Lösung: schlichte Ventilatoren hauchen dem tanzenden Schleier vor dem Gebäude sein – nun auch hör- und fühlbares – Leben ein.
Nicht weit davon finden wir die konzeptuelle Arbeit Dimensional sketch for a possible move. Eine nüchtern wirkende Hörstation, die begleitet von der sanften Stimme der Künstlerin, den Raum in Relation zum eigenen Sein Körper werden lässt. Der Raum wird darin mit den für die Durchquerung notwendigen Schritten vermessen. Körperlänge und eigene Atmung werden zum Maß seiner Länge, Breite, Höhe und Volumen. Sachlich wird beschrieben, wie das Bewältigen der im Raum befindlichen Stufen mehr Luft benötigen wird. Wie sich das Volumen des Einatmens und Ausatmens und seiner Verdrängung zueinander verhält. Und wie das Durchschreiten des Ganges im Vergleich zu möglichem Laufen eine notwendige Steigerung des Luftvolumens nach sich zieht. Und das alles wird als vitruvsches Bild der maximalen Verbundenheit zwischen Körper und Raum, zwischen Mensch und Architektur, berechnet. Ebenso intim und poetisch wie geradezu zwanghaft objektiviert und maximal distanziert.
Im Südgang und in den Zellen:
Corona – und eine Gesellschaft der Anpassung
Im Südgang des ersten Stocks des Minoritenklosters und in den Zellen versammeln sich Arbeiten, die sich spezifisch mit einer von Covid-19 geprägten Gegenwart einer „Gesellschaft der Distanzierung“ auseinandersetzen. Als Auftakt dienen Julie Haywards fotografische Arbeiten von 2008: Denkmäler aus dem Belvedere, die für den Winter eingepackt wurden. Es sind grob gekörnte Analogfotografien, die, wiewohl am hellen Tage aufgenommen, durch die zu kleine Kamerablende wie Nachtaufnahmen im Mondschein wirken. Verhüllt und wie Bilder von vermummten Verschleppten, ragen sie geradezu unwirklich vor einem dunkelblauen Abendhimmel auf. Das Bild des zufälligen Augenblicks und seines starken Motivs, erscheint heute – Jahre später – geradezu als Metapher einer dumpf wahrgenommenen, abgeschotteten Gegenwart.
Dominierend ist Michael Endlichers jüngstes Schriftbild am Ende des Ganges: WHOISAFRAIDOFNEWNORMAL?
Die ersehnte Normalität, die uns Politiker in unzähligen Presseauftritten versprachen, hat sich brutal verschoben. Zählen Masken in Hinkunft einfach hinzu? Eine permanente Kontrolle und Ausweise von Tests, Gesundung, Impfung? Bleibt der erlernte Abstand erhalten? Kehren der Händedruck, die Umarmung, das Küssen wieder? Oder beginnt vielleicht eine Anarchie? Endlichers jüngstes Schriftbild hat ein Pendant am Beginn dieses welthistorischen Ausnahmezustands einer gemeinsam erlebten Pandemie. Während des ersten Lockdowns und der plötzlichen Erfahrung des wirklichen Eingesperrt-Seins hatte sich die damalige Kommunikation in einem Quantensprung ins Netz verlagert. Eines dieser Lebenszeichen aus den ersten Tagen waren seine ersten Versionen der „Buchstabenbilder“. Es sind Variationsmöglichkeiten des Schriftkünstlers, die auf Räume, Zeiten und kairotische Momente reagieren Und eines der ersten Bilder im März 2020 lautete schlicht: „STAYINGALIVE“. Das war im Rückblick herrlich naiv, aber nichts desto trotz Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Schocks. Die neue Normalität darf zurecht befürchtet werden, ist es doch die Kontrolle, die unser zukünftiges Leben bestimmen wird. In den vier Zellen wird die Spannung, aber auch die Absurdität individueller und gesellschaftlicher Atemnot – auch im Lichte einer kontrollierten und zur Selbstkontrolle aufgerufenen Gesellschaft - ausgelotet. Endlichers unendliches Distanzierungs- und Entschuldigungsvideo "Ich möchte Folgendes klarstellen", das wenige Monate vor (!) der Pandemie fertig geworden ist, handelt von einer Angepasstheit, die im Sinne der political correctness der Maskierung ganzer Gesellschaften das Wort redet.
Sonor vorgetragene Distanzierungen suchen in den vergangenen Jahren immer häufiger die öffentlichen Reden heim. Ihre Inhalte laufen dabei Gefahr, als leere rhetorische Gesten einer Versicherung zu gelten, die nichts mit der eigentlichen, eigenen Haltung zu tun zu haben, sondern zu einem allgemeinen Verhaltenskonsens zu werden. Seine Arbeit behandelt pointiert und durchaus bissig von einer angepassten Entschuldigungs- und Distanzierungskultur, die man in öffentlichen Diskursen pflegt oder zu pflegen hat, aber gerade in der mehrfachen Repetition ihre inhaltlose Farce und oberflächliche rhetorische Geste offenbart: Eine unendliche Liste führt Endlicher als unermüdlicher Entschuldigender an. Seine Stimme ist eine weibliche Synchronstimme. Er entschuldigt sich in aller nur erdenklichen political correctness bei allen möglichen gesellschaftlichen (Rand-)Gruppen, die, in der Menge angeführt, längst zur breiten Masse verschmelzen. Es scheint gleichsam niemanden zu geben, der keine Entschuldigung oder Distanzierung verdient hätte. Das überraschende Ende des im Nachrichtensprecherdesign inszenierten Videos, welches im Hintergrund das Zeichen einer ansteigenden oder abfallenden Diagonale – je nachdem ob Entschuldigung oder Distanzierung – zeigt, lässt die permanent gehaltene Spannung in den persönlichen Atemstillstand kippen: Am Ende distanziert er sich auch von Dir!
Julie Haywards neue Skulptur – unmittelbar zur Ausstellungseröffnung fertig geworden – verdankt sich auch den Erfahrungen im Lockdown 2020/21. Mit der Umrissform einer leeren Rutsche versetzt das schwarze Objekt Out of Control die Ausstellung in einen seltsam bedrohlichen Spielplatz. Die Bahn der Rutsche fehlt, dem freudigen Tun ist buchstäblich der Boden entzogen. Was folgt, wäre der freie Fall. Ob der eingerollte Teppich augenzwinkernd diesen in ein sanftes Fliegen über den Wolken übersetzt, oder ob er einfach nur zufällige Stütze fürs allzu leichte Kippgerät ist, bleibt dahingestellt.
Humorvoll absurde Poesie spielt auch bei den Nasen von Anna Jermolaewa in der dritten Ausstellungszelle eine wesentliche Rolle. Die Bilder von maskierten Menschen, deren Nasen regelwidrig, aber ganz selbstverständlich aus der Maske ragen, hat die Künstlerin im Winter 20/21 auf Instagram unter dem Namen The Nose (after Gogol) gepostet. Die in sich gekehrten Seitenporträts sind Zeitdokumente der beginnenden Maskenpflicht des Jahres 2020 in Europa, aufgenommen in ihrem heimatlichen St. Petersburg, wo die berühmte Erzählung, von dem die Arbeit den Titel leiht, sich abspielt. Bei Gogol entwickeln die Nasen alptraumhaft ein Eigenleben, mischen sich in Alltagssituationen, so als sei ihr absurdes Verhalten normal. Das Vorspielen von Normalität – hier über die Serie der karikaturähnlichen Bilder – gilt für Jermolaevas Schaffen als Taktik eines Widerstands gegen die unreflektierte Macht der Gewohnheit. Dabei sind die Aufdeckung und das Nutzen des Absurden aus Situationen des Alltags für die Künstlerin wesentlich.
Die plötzliche Pastoralmacht des Staates, die im Frühjahr 2020 schlagend wurde, hatte man in einer freiheitlich geprägten Gesellschaft bis dahin nicht einmal leise erahnt. Über Nacht quasi bestimmte der Staat, was erlaubt war und was nicht, wie und ob man spazieren gehen durfte – bis hinein in Meterabstände. Diese Erfahrung bleibt ein Schock. Irgendwie tröstlich, dass die Männer und Frauen – oder eben ihre Nasen –, die Jermolaewa wohl mit dem Handy in der U-Bahn fotografiert, ganz offensichtlich ein Problem haben, den Anweisungen ganz Folge zu leisten: Sie atmen wieder durch die Nase ins Freie – und nicht in die Maske.
Wie ein seltsam historischer Kommentar dazu mutet der Kurzfilm Chairs (1971) von der bedeutenden Malerin und Selbstanalytikerin Maria Lassnig an. Der Film, der zwischen Zeichentrick und Analogfilm abwechselt, lässt Stühle wie Menschen bewegen. Eingebettet in einen realgefilmten, kleinen Pro- und Epilog wandeln sich animierte Bunt- und Filzstiftskizzen von Sitzmöbeln zu bockigen Dingwesen. Das Atmen und auch die Verankerung mit der Umgebung fällt ihnen schwer. Maria Lassnig selbst taucht dabei einmal mit Gasmaske auf. Genauso wie Jermolaewa nutzt Lassnig pointierten Humor, um Verbindungen, aber auch Wahrnehmungsverschiebungen zwischen Körper und Geist, zwischen Umgebung und Mensch, als Unterströmung einer (selbst-)kontrollierten Gesellschaft wahrzunehmen.
Im Westgang und seinen Zellen:
Atem als Lebensspender – zwischen Arbeit, Liebe und
Vergänglichkeit
Der Westflügel des Minoritenklosters, dessen 2010 adaptierte Galerieräume mit der architektonischen Figur der Klosterzellen spielen – mit denkerischem Rückzug und sichtlicher Öffnung – wird in dieser Ausstellung mit dem Atem als rhythmischem Lebensspender besetzt. Geprägt von Zurückhaltung, Konzentration und meditativer Verdichtung ist der Atem begleitende Geste des tätigen und aktiven Lebens – im Sinne Hannah Arendts auch als Definition des notwendigerweise produktiven Lebens, das das eigene Sein überdauert. Am Ende – im letzten Raum, dem ehemaligen Oratorium – wird das verdichtete Zurücknehmen im minimalen, hochkonzentrierten Hören des letzten Atems dann zum Wahrnehmen der Lebensarbeit selbst.
In HAUCHTEXT. LIEBESGEDICHT haucht VALIE EXPORT in diesem historischen Video aus dem Jahr 1970 als damals 30-Jährige ihren Atem aus, ihrem Gegenüber zu. Das Video zeigt VALIE EXPORT von vorne hinter einer Glasscheibe, auf die sie haucht. Der Text, den sie spricht, „Ich liebe Dich“ ist ein Liebeshauch, somit der zärtlichste Ausdruck, das ganze Innere dem anderen liebevoll hinüber zu hauchen. Die Scheibe im Video und die Scheibe des Monitors suggerieren eine übereinstimmende Oberfläche, sodass der Eindruck einer „unmittelbaren“ Berührung von Apparat und Atem entsteht.
Skulptural steht im Westgang eine Ansammlung von handgewickelten, dicken Seilen, die straff da liegen – als ob Ihnen eine besondere Anspannung gegeben wäre. Daniel Amin Zaman hat die einzelnen Stränge, die an Taue von schweren Tankern erinnern, in mühevoller, ritueller Wiederholung über viele Wochen gewickelt, gedreht, angezogen und letztlich in einer ungefähren menschlichen Körperlänge in Form gebracht. Sie liegen aufgebahrt, auf einfachen Kartonröhren. Das Innere eines solchen Seils nennt man übrigens „Seele“. Aus den Kartonröhren dringen die Geräusche der vergangenen Arbeit. Ein Einatmen, ein Ausatmen – und eine kurze Stille – die Atempause. Sonst hört man nur das Geräusch des von Hand immer wieder stückweise in Rotation versetzten, innerhalb von Kartonrohren laufenden Seils, um das Millimeter für Millimeter der Faden mitternachtsblauer Wolle geführt wird und es umwickelt. Der Atem folgt dem Rhythmus der Handlung, die Handlung folgt dem Rhythmus des Atems – und hier verbinden sie sich nach Zaman „zu einem ritualisierten, ununterscheidbar künstlerischen wie kultischen Akt, der gezielt ins Leere geht“. Er ist eine „Leerformel“, der Handlungsrelikte ohne Signifikat schafft, ganz bewusst nicht mehr und nicht weniger ist (oder sein will) als sein Vollzug, eine Einübung in die Absichtslosigkeit und eines Handelns des Nicht-Handelns.
Daniel Amin Zamans Arbeiten markieren entgegen unserer kulturellen Denkmuster bewusste „Leerstellen“, die dem „negativen Raum Raum geben“. Sie wollen das Große und Ganze wahrnehmen, das Große und Ganze fassen, in ihrer Anwesenheit auf das Abwesende verweisen. Zamans Arbeiten (die er im Rahmen seines ironisch-ernsthaften Habitats und kulturanthropologisch über Ordnungsmodelle reflektierenden Feldversuchs des „Zamanismus“ inszeniert) thematisieren die „Leere“ einerseits als epistemologische Haltung, Weg und Lehre (Finden im Finden) und andererseits als künstlerische Praxis materialästhetischer Werke und Verortungen, die auf ihren „negativen Raum“, ihren „Umraum“ verweisen und jene Leere (physisch wie geistig) plastisch werden lassen.
Am Fassen einer spirituellen Verschränkung von Inhalt und Leere setzt Zaman an, wenn er fragt: „Liegt die Bedeutung eines Satzes nicht gerade auch in dem, was nicht gesagt oder formuliert wurde? Ist eine Tonfolge nicht gerade auch eine Frage der Pausen zwischen den Tönen? Ist nicht gerade das bedeutungsvoll, das als vermeintlich unbedeutend „über-sehen“ wird? Ist es nicht gerade jenes geheimnisvoll „Anwesend-Abwesende“, welches das Ganze erst zum Ganzen vervollständigt? In allen seinen Dimensionen zwischen und zueinander – vom Kleinsten bis zum metaphysisch Höchsten? Ist Gott nicht erst da Gott, wo er nicht ‚Gott‘ ist?“
Das ist im Grunde auch die Position des Leipziger Malers Michael Triegel. Seine Bilder verweisen auf den ersten Blick auf Affirmation und Eindeutigkeit. Sie erinnern an Geschichte, an das Erstreben des meisterlichen Beherrschens eines Handwerks. Sie schließen an bekannte Erzählungen, Zeichen und Symbole an, die in Referenz an eine von Vasari bis Gombrich formulierte Kunstgeschichte der Meister anschließt. Als Schüler der „Leipziger Schule“ ist Triegel im gegenwärtigen Kunstgeschehen eine Einzelposition, gerade auch, was seinen Umgang mit christlicher Ikonografie angeht. Ohne Scham oder Kritik der Moderne misst er sich mit der künstlerischen Perfektion eines Jan van Eyck, Rogier van der Weyden oder Francisco de Zurbaràn. Und dennoch ist sein Malen mehr auch ein Akt des Widerstands, als ein Wunsch der Anpassung: Als Künstler in der ehemaligen DDR aufgewachsen, war für ihn das Lesen der Bibel im Jugendalter gelebtes Ausscheren gegen das Regime. In der neuzeitlichen Religionskritik und in der Bestreitung des (christlichen) Gottesbegriffs kennt er sich aus. Sich dementsprechend der tradierten Kunst anzunehmen und in ihr eine zeitgenössische Bedeutung als Fortsetzung von menschlichen Urthemen zu suchen, ist dabei eine Art Suche nach handwerklicher Erfüllung im TUN, aber auch Referenz an das Kontinuum von Geschichte. In dieser Ausstellung ist Triegel sozusagen der (einzige) „Vertreter“ dieser ikonografisch aufgeladenen Welt, die uns dennoch tagtäglich in allen Medien begegnet, versteckt zwar, nicht immer deutlich, aber nichts desto trotz voller Botschaften von tiefsitzender Moral. Der Titel der kleinen Grafik lautet: „Deus absconditus“, also „verborgener bzw. abwesender Gott“. Es ist eine kleine Nacharbeit (2014) in Form einer Schablitographie zu einem gleichnamigen, ein Jahr davor entstandenen großen Ölbild, das 2016/17 schon im KULTUM zu sehen war. Hier ist es nur ein Schleier, nicht wie beim großen Bild an Zurbaràn erinnernd, sondern vielmehr an das Wehen einer fliegenden oder schwebenden Figur dahinter. Himmelfahrt, Pfingsten, Entzug – was auch immer hier erinnert wird. Gott ist nach der Auferstehung auch im Entzug, das ist die eine Seite der christlichen Inkarnationsidee, die andere ist das erneute Senden des Atems, der Luft, des Feuers: Pfingsten als Anfang.
Einzig die in Bedeutungsperspektive verkleinerte kniende Figur mit Büßermütze ist bedrohlich gleich wie beim großen Bild: ihre fixe Devotionsrichtung, ihr Schleier, ihr Gewand macht sie schlicht und einfach blind für das Ungeheure, das neben ihr passiert.
Man könnte ja dieses Ungeheure ganz unpathetisch die Mystik des Alltags nennen. Diese Assoziation kommt auf, wenn man vor den Wellenbildern von Isabella Kohlhuber steht. Die aus der konzentrierten und mehrfach wiederholten Zeichnung der waagrechten Linie gewachsenen, wellenförmigen Flächengebilde versteht die Künstlerin als eine Übung entlang ihres künstlerischen Tuns, das sich mit der formalästhetischen Bedingtheit von kommunikativen Zeichensystemen, wie Buchstaben, Leitlinien, Gesetzen aber auch Klangmuster handelt. Der Versuch, eine „Nulllinie“ über eine Blattlänge von mehr als einem Meter möglichst gerade zu zeichnen, ist allein durch die notwendige Atmung von kleinen, „menschlichen“ Abweichungen ausgezeichnet. Man könnte diese auch eine „manuelle seismographische Äußerung“ (Dirck Möllmann) nennen. Der Versuch – oder die Bildregel –, in der nächsten Zeile mit dem gleichen Abstand fortzufahren, löst nach und nach eine Welle aus, die immer sichtbarer und sichtbarer wird, sich ausbreitet in den Raum der Imagination und der Erkenntnis, der Erinnerung und der Vorausahnung auch.
Diese Spanne scheinen die getragenen Kleider von Heribert Friedl hinter sich zu haben. Seine "Wearable Works" in der Mittelzelle sprechen ebenso von Zeit, Vergänglichkeit und Erinnerungen. Jahrelang getragen, sind sie mehrfach geflickt, haben den Körper ihres Trägers nicht nur in ihrer Form, sondern wohl auch in allen Fasern auf- und angenommen. Lapidar über eine bäuerlich anmutende, hölzerne Trocknungsstruktur gelegt, sind sie hier anrührende Dokumente einer vergangenen Zeit mit Menschen, deren Atem schon lange verstummt ist und die gerade dadurch mit einem seltsamen Atem vibrieren.
Raum und Zeit mit tätiger, immer gleicher, in markanten Strichen sich vollziehender Malarbeit zu verbinden, zeichnen die Arbeiten des 2014 verstorbenen Künstlers Ferdinand Penker aus. Aus seinem umfangreichen Nachlass haben wir für diese Ausstellung die vierteilige Arbeit Tatami ausgewählt, in der die Bedingungen der (malerischen) Bewegtheit mehrfach evident werden. Eine großflächige Leinwand scheint über dem Boden zu schweben, zwei schmale Leinwände lehnen an der Wand, und eine kleinere führt in Verbindung mit ihren Linienformen in einen Zustand der flüssigen Schwebe. Der Titel weist auf eine besonders in Japan verwendete, dämmende und dämpfende Matte aus Reisstroh, die auch als Schlafstätte dient. In Penkers Tatami legt sich eine grün leuchtende Leinwand als in fließenden Linien bemaltes Zeichensystem in den Raum hinein, an die Wand und, an sie angelehnt, weitere Leinwände. Sie machen aus ihm ein bewegtes Bezugsfeld, in dem der ganze Raum als System von fließenden Linien erkennbar wird. Hier findet sich Architektur als gefrorene, körperliche Bewegung wieder, ihr Stillstand ist nur einer des Moments. In seinen malerischen Kompositionen begleitet Penker die Zeit als Linie. Sie bildet sich darin ab und sie begleitet den Zeichnenden auf seinem Weg. Im Zeichen und im Zeichnen selbst hält er sie räumlich fest. Penker zeigt Raumzeit als Abhängigkeiten. Zeit ist das räumliche sich entspannende Muster von verstreichenden Entwicklungen und schafft dabei eine Meta-Zone des Dazwischen: hier sind Bewegung und Raum, die auf ihre ständige, implizite Veränderbarkeit verweisen, im Balanceakt zwischen Sein und gleichzeitigem Nicht-Sein gefangen.
Viele seiner Skizzen, aber auch sein kurzer Film Doing The Lines (A Dream Comes True) sprechen davon, täglich zeichnen zu müssen. Immer wieder schreibt er darin denselben Satz („I must draw every day“). Zwischen Lust und Strafe oszilliert diese Repetition für den Künstler Ferdinand Penker, der unerwartet während des Umzugs ins neue Haus im malerischen Lavanttal am Eröffnungstag der heurigen Ausstellung vor genau sieben Jahren verstorben ist. Zeit seines Lebens ein präziser Gestalter und Beobachter seines gesamten Umfeldes, war es für ihn undenkbar, seine Arbeit – das Ziehen der Linien als Grundbedingung seiner „vita activa“ – nicht zu tun. Ein Teil davon bleibt in seinem Schaffen – aber auch im eindrucksvollen Gesamtkunstwerk seines Hauses, Schloss Farrach bei St. Andrä, das er gemeinsam mit seiner Frau Dor Leitner gestaltet hat – über die Leinwand hinaus bis in den Raum gegenwärtig.
Heribert Friedls an Marcel Proust angelehnte Schriftarbeit In search of lost time (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), nimmt an dieser Stelle Bezug auf den Abschied und die Endlichkeit des Lebens. Der auf hellem blau in Versalien platzierte Titel des berühmten Buches wird in der englischen Übersetzung zur schwerelos daherkommenden Botschaft einer social-media-geprägten Jugendkultur. Was bei Proust ein siebenbändiges Werk über die Macht des Unbewussten, über ungewolltes Erinnern und die Prägungen der Erlebnisse der Jugend ist, fasst Friedl im Stil unserer Zeit kurz und knapp im Hinweis auf die melancholisch schöne Notwendigkeit des eigenen Erinnerns zusammen.
Im ehemaligen Oratorium (Cubus):
Letzter Atem
Ganz zum Ende dieser Ausstellungsebene füllt der Klang eines gedrückten Atems das abgedunkelte, mit großem Raumvolumen gefüllte ehemalige Oratorium des Minoritenklosters (der seit zehn Jahren so genannte „Cubus“). Das Atmen ist nur unterbrochen vom leichten Piepsen einer Maschine, von weit entfernten Stimmen und einem leisen Knistern zerplatzender Bläschen. Die Klangarbeit Atemnot hört – in Anlehnung an John Cage´s berühmtes Stück 4´33´´– hinein in die vermeintliche Stille und handelt vom Prozess des Sterbens selbst. Es ist die sachliche Aufnahme des eigenen, angestrengt ringenden Atems, unterstützt vom Beatmungsgerät. Aufgenommen von Dirck Möllmann, wenige Tage vor seinem Tod. Der zwischen 2012 bis 2018 in Graz aktive Kurator und Partner der Künstlerin Isabella Kohlhuber hat sie – als einzige Aufnahme am Gerät – mit einem Titel versehen, seiner Partnerin bewusst oder unbewusst zum Finden am Telefon überlassen. In der intimen Klangkulisse, die den gesamten Raum erfüllt, macht Kohlhuber mit der Offenlegung der privaten Aufnahme den Atem ganz allgemein als Fingerabdruck des Seins und als Zusammenspiel innerer Produktionsvorgänge erfahrbar: in seiner Bedrängnis zeigt er sich auch als der primäre Energiespender der Arbeit des Körpers selbst. Unmittelbar und schonungslos verständlich wird hier, dass „der letzte Atemzug“ mehr als eine Floskel ist. Die Präsenz der Atmung zeigt sich als das Wunder des Lebens selbst.
Epilog – Erinnern–
bis in die Mariahilferkirche
Mit diesem stillen und radikalen memento mori schickt die Ausstellung das Publikum wieder zurück, am eigenen Erinnern vorbei: das schwebende Bett von Ferdinand Penker, der zweimalige Hauch von VALIE EXPORT und Nina Schuiki, der Kuss von Abramovic/Ulay, aber auch die anderen Arbeiten bekommen nun eine erweiterte, noch existenziellere und persönlichere Note. So handelt die Ausstellung vom Atmen in einer Zeit der Atemnot. Von notwendigen Distanzieren und durchaus ebenso notwenigen kritischen Hinterfragen. Sie handelt auch vom Leben eines historischen Gebäudes, dem aufbauend auf seiner Geschichte der engen Verbindung zu spiritueller und ritueller Lebensführung neuer Atem eingehaucht wird. „HIERHIN, ATEM!“, die Anrufung von Huub Oosterhuis in der Pfingstvigil, wird hier nicht nur für die Fassade und alten Mauern, sondern auch für alle erdenklichen Etappen des Lebens herbeigesehnt. Das ehemalige Oratorium, in dem wir Atemnot von Möllmann/Kohlhuber hören und der Hochaltar der Mariahilferkirche trennen nur eine Mauer. In früheren Zeiten konnte man auch in den Altarraum sehen. Dort – in der auch heute von Gläubigen viel besuchten Pilgerkirche Mariahilf – ist eine appellative Klangarbeit zu hören. Der zweite Ausstellungsbeitrag von Heribert Friedl ist zwei Mal am Tag, um 11.45 Uhr und um 15.45 Uhr, zu hören. Auch Friedl behandelt darin den Tod und die Sorgen in Zeiten der Pandemie. Mit einer zarten, zurückhaltenden Weise hat er eine Klanginstallation komponiert, deren Bauteile der Blasebalg einer Orgel, ein Wassertropfen, Regen und ein Hackbrett sind. "Tears of c" versucht sich dem Thema des Lebensatems klanglich und metaphorisch anzunähern. Das Atmen der Wind-Instrumente ist musikalisch verwoben mit dem Klang von rhythmisch vergehender Zeit. Die Tränen, die Trauer, der Schmerz in der Form der Wassertropfen und des Regens sind, so der Künstler und Komponist, der jetzigen Zeit geschuldet. Intensiv und existenziell verbindet sich die Musik mit dem Ort und dessen über die Jahrhunderte aufgefangenen Gebete, Ängste und Hoffnungen. Gleichzeitig ist es, als füge Heribert Friedl mit den Obertönen des Klangs eines Hackbretts der Schwere etwas Versöhnliches hinzu. Was auch immer es ist – ein Requiem, eine Anrufung, ein Gebet: Atem wurde immer auch – dum spiro, spero – mit Hoffnung verknüpft.
Katrin Bucher Trantow und Johannes Rauchenberger