Guillaume Bruère: DEAD & ALIVE. Alte Meister
Museumszeichnungen
COME, GIVE ME A HUG: (Un-)schuld & Kreuze
DEAD & ALIVE: Alte Meister
Epilog
DEAD & ALIVE: VORWORT
Ist christliche Ikonografie im 21. Jahrhundert thematisierbar und ein Thema für zeitgenössische Malerei? Seit dem Ende des Zeitalters der Alten Meister wurde sie schon oft – und auch begründet – für tot erklärt: Ausgemalt sei alles, was dazu zu erzählen sei, am Ende kraftlos und schwach, eine Programmkunst, die man höchstens noch als Kitsch bezeichnen kann. Wiederbelebungsversuche gab und gibt es bekanntlich viele, viele endeten im Binnenmilieu kirchlicher Selbstausstattung, nicht wenige sind ideologiegeleitet, noch immer (und immer mehr) sind sie verbunden mit einer Kampfrhetorik gegen die Verirrungen der Moderne. Für die „Kunst“, die, wie es heißt, „autonom“ geworden war, kann derartiges – wir müssen ehrlich sein – fortan nicht mehr reichen. Das Feld der zeitgenössischen religiösen oder sakralen Kunst ist, auch das ist hier vorab zu sagen, sehr vermint.
Der Autor hat sich in den letzten Jahrzehnten vielfach dieser Frage sowohl kuratorisch wie auch wissenschaftlich gestellt, in Form internationaler und ganz kleiner Ausstellungen und sie begleitender Reflexionen, doch bei keinem der von ihm gezeigten Künstlerinnen und Künstler war das Thema „Religiöse Malerei“ so dicht und zerbrechlich zugleich wie beim französischen, in Berlin lebenden Künstler Guillaume Bruère. Insofern ist diese Publikation auch ein unersetzlicher Nachtrag zu bereits an anderer Stelle vielfach Geschriebenem und ein bedeutender Neuzugang für ein Museumsprojekt, das der Autor zunächst als virtuelles Buchmuseum in Form von zehn unterschiedlichen Räumen ausgerufen hat, während gleichzeitig zu diesen Aspekten von Gegenwartskunst und Religion auch eine reale Sammlung entsteht.1
Ein großer Dank gilt an dieser Stelle Diözesanbischof Wilhelm Krautwaschl und Walter Prügger, Ressortleiter für Bildung, Kunst und Kultur der Diözese Graz-Seckau, die einen großzügigen Ankauf vieler der hier vorgestellten Bilder für das KULTUM als Museum für Gegenwart, Kunst und Religion ermöglicht haben: Die Publikation hat auch die Dokumentation dieser neuen Museumsbilder zum Inhalt.
In Momenten akut erlebter gesellschaftlicher Krisen ist der Autor dem Künstler intensiv begegnet: in der so genannten „Flüchtlingskrise“ um 2015/16 und der „Corona-Krise“ im Jahr 2020. In der Flüchtlingskrise, als im gesättigten Wohlstand plötzlich flüchtende Menschenmassen auf den Autobahnen und Bahntrassen nach Österreich und Deutschland kamen, denen so viele in einer unmittelbaren Reaktion von Menschlichkeit helfen wollten und die sodann in rasch zu errichtenden Unterkünften unterzubringen waren, war Guillaume Bruères erste Reaktion die Empathie, er gab den namenlosen „Flüchtlingen“ ein Gesicht. Bruère zeichnete sie in einer zum Flüchtlingslager umgewandelte Turnhalle in Berlin oder, wenige Monate später, in einer eben eingerichteten Flüchtlingsunterkunft und Wochen später dann in einer öffentlichen Performance am Hauptplatz in Graz.2 Die im Anschluss gezeigte Ausstellung, kuratiert von Roman Grabner, war in der Folge an bedeutenden Orten wie dem Historischen Museum in Berlin, der ständigen Vertretung des Deutschen Bundestages in Brüssel und anschließend in Paris zu sehen. Anlässlich dieser Ausstellung und der dort erlebten enormen Empathiefähigkeit Bruères fremder Not gegenüber „passierte“ sozusagen ein Gespräch des Künstlers mit dem Autor, wo dieser davon erzählte, dass er viele Bilder religiösen Inhalts gemalt habe, die er aber so noch nie gezeigt habe, denn diese religiösen Sujets seien für ihn „auch mit Scham behaftet“.
Dieses Gespräch in der Grazer Mariahilferstrasse war der Anfang einer besonderen Beziehung zwischen Autor und Künstler zum Thema der christlich codierten Malerei. Dieser Dialog mündete in die Gruppenausstellungen „VULGATA. 77 Zugriffe auf die Bibel“3 2017 in Graz und 2019 im Dom- und Diözesanmuseum in Mainz4, „Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum“5 im Kunsthaus Graz 2018 sowie in die parallel laufende Einzelausstellung „En dehors de moi cette chose n’est pas faite“ in der QL-Galerie in Graz und 2021 in die Personale „DEAD & ALIVE: Alte Meister“ im KULTUMUSEUM Graz.
International bekannt geworden ist Guillaume Bruère ja vor allem durch seine „Museumsbilder“, die er vor Ort in unterschiedlichen Museen Europas angefertigt hat: Im Musée Picasso Paris, der Fondation Vincent Van Gogh Arles6 oder dem Van-Gogh-Museum in Amsterdam, im Kunsthistorischen Museum in Wien, in der Gemäldegalerie in Berlin, der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, der Staatsgalerie in Stuttgart und im Kunsthaus Zürich7, um nur einige zu nennen. Doch während der plötzlich hereinbrechenden Corona-Krise 2020 und der darauffolgenden öffentlichen Ausgangsbeschränkungen in den Lockdowns waren Zutritte zu Museen auch für Künstler verwehrt. Guillaume Bruère malte damals erstmals aus Büchern.
Der erste Lockdown und die dabei entstandenen Bilder sind der Auslöser für die in dieser Publikation dokumentierte Ausstellung, in der sich der Künstler nach einer ersten Phase um Ostern 2017 erneut religiösen Themen zugewandt hatte und die schließlich 2021 zum ersten Mal gezeigt werden konnten. Dabei entstanden durchaus „radikale“ religiöse Bilder, aber im ursprünglichen, nicht fundamentalistischen Sinne: Sie gehen insgesamt an die Wurzel der zentralen Figurationen des Christentums: Kreuzigungen, Adams und Evas, Marien, Apostel. Und Varianten von Hieronymi ...
War Bruère bislang durch seinen exzessiv-expressiven Malgestus bekannt, reihte er sich nun in die Schatten seiner malerischen Vorbilder dezidiert ein. Sie sind Giorgione, Piero della Francesca, Dürer, El Greco, Caravaggio oder Rembrandt. „Ich lerne malen“, sagte er dem Autor lakonisch über seine neue Phase, als dieser Bruère unmittelbar nach dem ersten Lockdown in Berlin besucht hatte: Ein ziemliches Understatement angesichts der Menge an Bildern, die er bereits gemalt hat.
Guillaume Bruère zählt zu jenen nur ganz wenigen Künstlern im internationalen Kunstgeschehen, die sich mit Durchsichtigkeit und Zerbrechlichkeit der „alten“ Gestalten des Christentums annehmen. „DEAD & ALIVE. Alte Meister“ gerät nicht selten zu einer Neuformatierung der alten christlichen Ikonografie; vieles von ihr wird dadurch erst wieder neu lesbar und lebendig. Und damit auch das in ihnen gezeigte Mysterium einer (Heils-)Geschichte, das darzustellen man gemeinhin höchstens noch der historischen Kunst zuschreibt. Von einer derartigen Ausnahme handelt diese Ausstellung.
[1] Vgl. Johannes Rauchenberger: GOTT HAT KEIN MUSEUM. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts (IKON. Bild+Theologie. Hg. von Alex Stock und Reinhard Hoeps) 3 Bde., Paderborn 2015.
[2] Video der Zeichenperformance, Graz, 8. Mai 2016: https://www.youtube.com/watch?v=dUYYmk7DE4U
[3] Vgl. Johannes Rauchenberger: Vulgata. 77 Zugriffe auf die Bibel – 77 Hits on the Bible (IKON. Bild+Theologie), Paderborn 2017, 291–305.
[4] Vgl. Birgit Kita, Johannes Rauchenberger (Hg.): Vertraut und fremd. VULGATA 77 zeitgenössische Zugriffe auf die Bibel im Dommuseum Mainz, 6. März – 8. Juli 2019, Mainz 2019, 18–107.
[5] Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum. Hg./Ed. Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, Katrin Bucher Trantow, Paderborn 2018.
[6] Van Gogh Live! Exhibition catalogue: Fondation Vincent Van Gogh, 4 April—31 August 2014. Published by Fondation Vincent Van Gogh, Arles, France, 2014 (French / English edition)
[7] Guillaume Bruère – Kunsthaus Zürich: Exhibition catalogue, Kunsthaus Zurich, 24 May—8 September 2019. Published by Zürcher Kunstgesellschaft, Kunsthaus Zurich and Verlag Scheidegger & Spiess AG, Zurich, 2019.
Existenzielle Betroffenheit
Mit einem fremden und zugleich ungeheuer anteilnehmenden Blick des Künstlers sind religiöse Themen bei Guillaume Bruère zu charakterisieren. Sie sind ohne Auftrag entstanden. Sie entbehren der sonst üblichen Distanz, sind ohne Ironie, aber auch ohne Affirmation. Dennoch sind sie ungeheuer radikal. Es bricht sich eine existenzielle Betroffenheit die Bahn, die dieses Werk im zeitgenössischen Kontext von Kunst und Religion singulär erscheinen lässt.
Religious Themes
„Religious Themes“ – beim 1976 im französischen Châtellerault bei Poitiers geborenen, aber seit vielen Jahren in Berlin lebenden Künstler Guillaume Bruère sind sie eine Bezeichnungskategorie in seinem Gesamtwerkverzeichnis, das mittlerweile mehr als 40.000 (!) Einträge umfasst. Eine wichtige Vorbemerkung also vorweg: Die folgenden Seiten dokumentieren nur einen minimalen Ausschnitt von Bruères gewaltigem Oeuvre, das nicht nur in den oben erwähnten Museen entstand, sondern das dort vielfach auch zu sehen war. Seine zeichnerischen Partner sind durchaus die genannten Größen der Moderne. Aber es sind eben – auch – die Alten Meister. Von manchen von ihnen wird in diesem Buch die Rede sein und sie schlagen eine merkwürdige Brücke zwischen vergangenen Welten und dem Künstler von heute. Nicht ganz von ungefähr lautet ein Bildtitel aus 28.01.2017 – ein Selbstportrait – „I married Dürer or Vincent“.
Ein kleiner Ausschnitt nur aus seinem Oeuvre sind die „Religious Themes“, wie Guillaume Bruère sie auf seiner Homepage bezeichnet. Doch diese sind, was eine aktuelle Auseinandersetzung eines zeitgenössischen Künstlers mit der Bildwelt des Christentums angeht, herausragend, ja singulär. Man merkt ihnen an, dass Religion bei Bruère keine akademisch malerische Bildreflexion, auch keine Ironie oder Persiflage ist, sondern durchzogen ist von ihren Ansprüchen, Ambivalenzen, Abgründen und Hoffnungen. Oder, um es in Bruères Worten vor seiner mächtigen blauen Kreuzigung zu sagen: „Manche denken über die Religion nach und manche leben, er-leben sie.“1
Was heißt „er-leben“? Sieht man auf den Befund des hier Gebotenen, so ist es die Auseinandersetzung mit dem existenziellen Zweifel, die Erfahrung von Not, die Konfrontation mit einer längst verlorenen, aber in ihrer bildlichen Darbietung offensichtlich den Künstler faszinierenden Bildwelt: die Behauptung unschuldiger, aber ebenso geschundener, verletzter, versehrter und unversehrter Körper, in die der Künstler beim Akt des Zeichnens schlüpft und sich ihnen dann auch wieder entzieht. Und es ist die unbedingte Empfindung von Empathie.
Dokumente persönlicher Krisen hat Guillaume Bruère zu Kunst gemacht. Ewa ein altes Aszetik-Buch christlicher Erbauungsliteratur, dessen Buchdeckel er mit abgeschnittenen Fingernägeln versieht, im Zentrum der Titel: PRÉCIS DE THÉOLOGIE ASCÉTIQUE ET MYSTIQUE. In unmittelbarer Nachbarschaft findet sich ein Gebetsbuch, das er mit einem Schloss verschließt. So sieht keine Auftragskunst aus. Und genau das – Auftragskünstler im Sinne einer ideologischen oder gar propagandistischen Funktionalisierung des Bildes – ist Bruère nicht. Zwar ist er ein grandioser Portraitzeichner. Aber seine ausgesuchten Gegenüber sind eher die Museumswärter als die Direktorinnen oder Direktoren. Kennengelernt hat der Autor Guillaume Bruère, wie bereits erwähnt, genau so: Als Zeichner von in Not geratenen jungen Menschen, denen er – im Kontrast zum Kollektivbegriff – ein individuelles Gesicht verleihen wollte.
Bruère ist, noch einmal, kein kirchlicher Auftragskünstler, die Auseinandersetzung mit Religion ist bei ihm eine zutiefst biografische. Man findet in seinen frühen existenziellen Auseinandersetzungen mit dem Thema etwa einen abgetragenen Laufschuh auf einer Immendorff-Bibel, also einer jener Auftragswerke (deutscher) Bibelgesellschaften an berühmte, am Kunstmarkt hochdotierte Künstler. Die Geste ist klar: Das ist auch ein Tritt, nicht nur eine mögliche Assoziation eines vom Evangelium Getriebenen: „Nehmt nichts mit, keine Vorratstasche, keine Schuhe!“ (Mt 10,10); oder: „Wer euch nicht aufnimmt, dort schüttelt den Staub von Euren Füßen“ (Mt 10,14).
Bruère bezeichnet sich als „religionslos aufgewachsen“ – sein Vater wollte seinen Kindern seinen Worten nach „die Sache mit der Religion ersparen“2. Doch was ihn, wie er sagt, dennoch prägte, „zutiefst prägte“, war ein uraltes Steinkreuz auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela, das in der Nähe des Hauses seines Großvaters stand. Bruère zeichnet sich zum einen als jemand, der mit der steinernen Substanz christlicher Kultur implizit aufgewachsen und zugleich ein Kind der französischen Laicitè ist. Später wird er die gegenwärtigen akuten Probleme Frankreichs mit dem Verlust des Glaubens verknüpfen: „Ich komme aus einem Land, wo man nicht so gläubig ist ... Der Grund, warum mein Land in einer solchen Krise ist, hat aber auch mit dem Verlust des Glaubens zu tun, das glaube ich ganz fest.“3
Doch seine „Antwort“ ist eben keine dogmatische, sondern ein existenziell getriebenes plastisches Gestalten, ein Nachbuchstabieren längst verblasster Bilder, die den suchenden und buchstäblich dabei fiebernden Künstler bewegen.
[1] Guillaume Bruère im Gespräch mit Johannes Rauchenberger am 5. März 2021, in: https://www.youtube.com/watch?v=RtC4w-6t2V0&t=548s (9 min, 7sec)
[2] Guillaume Bruère im Gespräch mit Johannes Rauchenberger in seinem Berliner Atelier, Tonbandaufnahme. 11. 11. 2016.
[3] Guillaume Bruère im Gespräch mit Johannes Rauchenberger am 5. März 2021, in: https://www.youtube.com/watch?v=RtC4w-6t2V0&t=430 (7 min 30 sec)
Kreuze
Tatsächlich findet sich in seinem Atelier eine ganze Reihe plastischer Kreuzgestaltungen, einige davon sind eng mit seiner persönlichen Auseinandersetzung verbunden. Etwa die hier gezeigte Plastik, die aus einem typischen Berliner Fensterkreuz aus der Zeit um 1900 besteht.
Diesen in der Stadt oft anzutreffenden Kreuz-Typus hat Bruère während einer unter dem Zeichen der Krise stehenden Lebensphase in einem Ritual mit Stoffen und eigener Kleidung umwickelt und als solchen zu einem existenziell aufgeladenen Kreuz geformt. „Ich wollte ihm einen Körper geben. Das wirkt auch irgendwie wie etwas Fleischliches.“4
In einem Interview zur – 2018 im Rahmen von „800 Jahre Diözese Graz-Seckau“ in der Grazer QL-Galerie gezeigten – Ausstellung: „En dehors de moi cette chose n’est pas faite“ („Außer mir macht das keiner“) bekennt Guillaume
Bruère: „Ich habe vor zehn Jahren begonnen, mich mit dem Kreuz als Skulptur zu beschäftigen. Das Kreuz hat eine sehr starke Anziehung auf mich. Aber gleichzeitig ist es auch immer so, dass man es loswerden möchte. Das Kreuz sitzt so tief und fest in unserem kulturellen Gedächtnis als Europäer*innen, dass es mir unmöglich erscheint, eine Skulptur zu machen, in der das Kreuz nicht eine Rolle spielt. Irgendwie dreht man sich als Künstler immer um das Kreuz. Ich möchte das vergleichen mit der Malerei: Auch wenn man abstrakte Bilder malt, hat das immer irgendwie mit Landschaft zu tun, zumindest für Menschen der westlichen Kultur. Das sind uralte Muster, die uns als Europäer*innen definieren.“5
Den uralten Mustern fügt Guillaume Bruère in seinen gestalteten Kreuzskulpturen auch dort, wo sie scheinbar ganz geometrisch erscheinen, etwas Imperfektes hinzu. Er fordert die exakte Hängung – er nennt das Haltung. Er bemalt die geometrischen Formen, aber „bewusst nicht ganz perfekt, da gibt es auch andere Farben am Eck. Im Nicht-Perfekten kommt etwas Menschliches in die Skulptur. Religion muss für mich etwas Menschliches beibehalten. Ich komme aus Poitiers. Dort hat mich immer die viel kleinere romanische Kirche Notre-Dame la Grande mehr fasziniert als die große gotische Kathedrale – nicht zuletzt, weil sie menschliches Maß hat. Die Fassade der Kirche ist unglaublich faszinierend, da gibt es viele kleine Szenen in Stein, fast wie mit Ton gemacht. So sollte für mich Religion sein, immer mit einem menschlichen Maß.“6
Um Ostern 2017 hatte Bruère (unmittelbar nach seinem Aufenthalt in Graz anlässlich der Ausstellung „VULGATA. 77 Zugriffe auf die Bibel“, bei der er 30 seiner Museumszeichnungen religiösen Inhalts das erste Mal zeigte), eine besonders intensive Schaffensphase von Werken religiösen Inhalts, speziell von Kreuzesbildern, die auch ein zentraler Abschnitt dieses Buches sind. In jenen Tagen entstanden aber nicht nur Bilder von Kreuzen, sondern auch Skulpturen. Auf einer von ihnen sind Versatzstücke von rohen Baumstammelementen auf ein T-Kreuz montiert, die die Fragmente eines gekreuzigten Körpers bilden. Der Balken dieses Kreuzes „besteht aus einem Holz, das mich über Jahre begleitet hat, nämlich mein eigenes Bett. Darauf habe ich Fundstücke aus dem Wald montiert. Sie sind ganz unbearbeitet, wie Readymades. Kreuze werden auch nie zur Serie bei mir, da will ich mich bewusst nicht wiederholen.“7
[4] Alois Kölbl im Gespräch mit dem Künstler Guillaume Bruère, in: Last&Inspiration. 800 Jahre – 8 Fragen. Ausstellungen zu „800 Jahre Diözese Graz-Seckau“, hg. von Heimo Kaindl, Alois Kölbl, Johannes Rauchenberger, Wien 2018, 72–79, 78.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
Ohne Titel (Agnus Dei), 2007
Oder ein knallgelbes Lamm aus dem Jahre 2007, das auf eine Bank hingeworfen ist, mit seinen Beinen hält es ein Kreuz. Das gelbe Lamm zählt zu den frühen Skulpturen des Künstlers, die eine oft surreale Bildsprache christlicher Ikonografie mit Staunen, Befremden und Faszination nachzubuchstabieren scheinen: Opferlamm, Osterlamm, apokalyptisches Lamm – die Symbolwelt dafür ist übermäßig groß.
In der Karfreitagsliturgie heißt es in der Lesung: „Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, / und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, / so tat auch er seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7). Mit „Christus ist unser Osterlamm“ feiert die christliche Liturgie ihr Ostermysterium. In der katholischen Messe wird vor der Kommunion ausgerufen: „Seht das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünde der Welt.“ In der biblischen Apokalypse des Johannes (Offb 5,9) vermag allein das Lamm die sieben Siegel (der Weltgeschichte) zu lösen. Guillaume Bruère rüttelt angesichts der Fremdheit dieser Bilder auf und interpretiert die „Theriomorphie“ der Figur Christi (A. Stock), die lange – neben dem Fisch, dem Löwen, dem Phönix oder Pelikan – im Lamm ein zentrales Bild gefunden hat, zeitgenössisch.9
Das Material hat der Künstler seiner unmittelbaren Umgebung entnommen: Das Kreuz ist ein Keilrahmen, die Bankunterlage ein Katalogbuch, das Lamm Papiermaché.
[8] Alex Stock: Poetische Dogmatik. Christologie, 4. Figuren, Paderborn 2001, 285–313.
[9] Vgl. Johannes Rauchenberger: Guillaume Bruère – Ohne Titel | Untitled (Agnus Dei), in: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum | Faith Love Hope. Christianity Reflected in Contemporary Art. Hg./Ed. Johannes Rauchenberger, Barbara Steiner, Katrin Bucher Trantow, Paderborn 2018, 248.