Till Velten: DIE ANDERE MARIA. Ein Zeichenspiel zu Stigmata in vier Akten
Was ist an dem dran, was unsere gewöhnlichen Vorstellungen von Leben übersteigt? Wie kann man diese im Medium Kunst zur Sprache, ins Bild bringen? Solche Fragen sind zwar eine allgemeine Triebfeder für die Imagination (auch jeder Kunst), bei dem in Zürich lebenden Künstler Till Velten haben sie aber noch einmal eine ganz besondere Note: Er, der in Düsseldorf bei Gerhard Richter und Fritz Schwegler Malerei studierte, ist längst das geworden, was man einen „Gesprächskünstler“ nennt. Seine Gegenüber? Menschen, die „Seelensysteme“ weben: Prostituierte etwa, die davon erzählen, wie sie in ritueller Gleichheit zu Therapeuten oder Priester Nähe herstellen. Oder Mitarbeitende in einer Demenzklinik oder von fortschreitender Demenz Betroffene, die vom schwindenden Gedächtnis und von beinträchtigter Sprache erzählen. Oder Seelsorger, die in ein Burnout geschlittert sind und therapeutisch betreut werden – in der Therapie entstanden „Seelenräume“, die in Münsterschwarzach vergoldet wurden (und auch Teile der Sammlung des KULTUMdepot sind). Oder geistig Behinderte, deren schöpferisches Potential er sichtbar machte. Oder die Swarowski-Erben, die er in ein Gespräch über Glanz und Verantwortung verwickelte. Oder Flüchtlinge, die in einem Orchester Beethoven spielen. Immer sind es „Projekte“, die ganz an die Grenze gehen, von ihm und seiner Umgebung das Äußerste fordern, oft hart an der Grenze zum Voyeurismus tänzeln und dann doch von einer unendlichen Herzenswärme des Künstlers gleichsam „gerettet“ werden.
Was ist am Phänomen der Stigmatisierung dran?
Nun wagt sich Till Velten an die übersinnliche, ja religiöse Welt: Was ist am Phänomen der „Stigmatisierung“ dran? Seit dem Heiligen Franziskus, der die Wundmale Christi gegen Ende seines Lebens am 14. September 1224, dem Fest der Kreuzerhöhung, in La Vema empfangen (und zeitlebens geheim gehalten) hat, waren es viele mystisch lebende Menschen, die diese radikale Transzendenzerfahrung der Stigmata an ihrem Leib getragen haben (sollen). Legenden und Bilder transportierten diese Idee freilich nachhaltig weiter. Pater Pio wurde dadurch in den letzten Jahrzehnten zum populärsten Heiligen Italiens. Veltens Initialikone
in seinem jüngsten Kunstprojekt war die aus dem Umkreis der Anthroposophie Rudolf Steiners stammende „Stigmata-Expertin“ Judith von Halle, die sich selbst als stigmatisiert bezeichnet und zahlreiche Schriften zur Stigmatisierung herausgegeben hat. Und die er aber dann doch nicht, trotz mehrjähriger Versuche, zu einem Gespräch gewinnen konnte.
Velten befragte dafür Expertinnen aus dem Bereich der Medizin und der Theologie (u.a. mit dem Abt von Einsiedeln Urban Federer) und realisierte diese Erkundungen in vier stark ritualisierten Veranstaltungen (und gleichzeitig an religiösen Feiertagen wie Gründonnerstag, Ostern oder Maria Himmelfahrt) im Cabaret Voltaire 2019 seine Reihe, die für ihn eine Mischung aus leichtem Volkshochschul-Vortrag und Varieté-Abend werden sollte. „Alles sehr humorvoll, aber ernsthaft”. Die Zuseher wurden mit Maria-Callas-Klängen (die auch in der Ausstellung zu hören sind), Live-Musik, viel Nebel, ausgewähltem Blumendekor, Bloody Marys, Vorträgen und Aktionen zu Stigmata aus den Bereichen Wissenschaft, Religion und Esoterik bespielt. Im Hintergrund immer wortlos die „Andere Maria”, die Hauptakteurin (Claudia Fellmer) die im Hoodie und Arbeitsmantel mit Farbe und Apfelhälften Drucke anfertigte. Im Vordergrund Till Velten, als Gastgeber.
„Die andere Maria“ begleitet als „Hintergrundfigur“ und „Stellvertreterin“ die Diskursveranstaltungen zu Stigmata im Cabaret Voltaire in Zürich Foto: Studio Velten
Sie steht sozusagen als andere Stellvertreterin der echten Maria Judith von Halle. Diese Drucke, die auf dem ersten Blick wie Blumenbilder aussehen und im Franziskussaal zu sehen sind, sind der ästhetisch „schöne“ erste Akt dieses Zeichenspiels im KULTUM. Diese (weiß gekleidete) Frau war auch jene Darstellerin, die bei jeder dieser genannten Veranstaltungen in einem kurzen Filmtrailer ihre Hände zeigte – stigmatisiert, wie der Film zu erkennen gab. Und ein Ausschnitt dieses Trailers ist denn auch das Cover der Kunstedition, die zu dieser Ausstellung in der Auflage von 50 Exemplaren vom Künstler signiert, erscheint. Darin befinden sich acht Apfeldrucke im Format 255 x 360 mm, die Plakate der Veranstaltungsreihe und dem Textbeitrag „Das Bild als Stempelabdruck des Seins“ von Angelika Affentranger. Sie erschienen im Verlag für moderne Kunst, Wien.
Die Drucke der „Anderen Maria“, die in der Ausstellung im KULTUM Graz zu sehen sind, entstanden während der Diskursveranstaltungen im Cabaret Voltaire in Zürich: Sie sind der ästhetisch „schöne“ erste Akt dieses Zeichenspiels
Im Franziskussaal sehen wir diese "andere Maria" (Claudia Fellmer) als lebensgroße Rückprojektion wieder.
Zuvor aber werden die Besucherinnen und Besucher begrüßt – von einem unscheinbar wirkenden Mann, der „wie ein Ausrufer in St. Pauli” (Till Velten) die Sensationen anpreist, die er selbst nicht alle so ganz versteht, aber trotzdem gut findet. Es war ein ständiger Besucher dieser Abende in Zürich. In der Ausstellung im KULTUM setzt Till Velten diesen Mann (Nenad Nevadovic) in eine Hauptrolle, denn er steht stellvertretend für alle treuen AusstellungsbesucherInnen. Vielleicht auch stellvertretend für die BildungsbürgerInnen, die Ausstellungen besuchen.
Was sagt die Wissenschaft zu derartigen Phänomenen?
Es folgt in der Ausstellung – als zweiter Akt des Szenenspiels – ein Video zur wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Phänomens durch Professor Gerd Overbeck, stellvertretend verlesen durch den Sprecher Oskar Moser der über viele Jahre der Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität war und mit dem Jesuiten Ulrich Niemann mit „Stigmata. Geschichte und Psychosomatik eines religiösen Phänomens“ im Jahr 2012 ein Standardwerk zu diesem Thema herausgegeben hat. Overbeck war, so Velten, "der letzte Lehrstuhlhaber, der sich mit religiösem Wahn auseinandergesetzt hat. Dieser wurde aufgelöst."
Im zweiten Akt liest der Schauspieler Oskar Moser, als Stellvertreter ebenso lebensgroß gebeamt, aus den Schriften des Psychiaters und Klinikleiters Professor Dr. Gert Overbeck, Frankfurt, der ein Standardwerk zum Phänomen "Stigmata" herausgegeben hat.
Franziskus' Stigmatisierung in der Kunst und ein sinnlicher Tropfenraum
Der dritte Akt nennt der Künstler ein „Maschinenraum“, den Velten als visuell-auditives Bild inszeniert, in dem das Geräusch des Tropfens und bildliche Elemente sich sinnlich vereinen. Eine rote Flüssigkeit tropft auf eine am Boden installierte rosafarbene Membran.
Kombiniert ist dieses höchst analoge Bild mit Drucken historischer Stiche der Stigmatisierung des Heiligen Franziskus. Auch im neu renovierten Minoritensaal ist ein Gemälde der Stigmatisierung des Povorello gewidmet.
JACOPO PALMA IL GIOVANE: Studienblatt mit dem Heiligen Franziskus, einer Verkündigung und drei Kopfstudien, 267 x 188 mm, Feder in Braun über Rötel, allseitige Einfassungslinie in Braun, auf Büttenpapier, altmontiert, mit Goldrahmung; Städel Museum, Frankfurt am Main
Und was stimmt davon?
Schließlich begegnen uns im Cubus zwei lebensgroße Figuren und erzählen ihre Wahrnehmungen auf dieses Phänomen aus Religion und Kunstgeschichte: Nenad Nevadovic, ein ständiger Besucher dieser Veranstaltungen und Förderer der Aktivitäten der Malerei der ,,Anderen Maria“, und erneut die „Andere Maria“ selbst.
Videoinstallation im Cubus: "Die andere Maria" wird von einem Ausstellungsbesucher befragt: "Kann man es glauben?", "Was ist an ihrem Wunder dran?"
Hier tauschen sie sich in einer abschließenden Begegnung über die Unlösbarkeit dieses Phänomens auf und man erlebt, dass in der Rätselhaftigkeit von Wissenschaft, Religion und Kunst die Kunst immer bildhafte Zeichen bieten kann. Es ist und bleibt ein „Zeichenspiel in vier Akten“, wie der Künstler diesen einjährigen Parcours in Zürich nannte und deren ruhigere museale Präsentation, zusammengefasst durch die aufwendige Editionsmappe mit acht Original-Drucken, nun in Graz im KULTUM das erste Mal zu sehen ist.
Es wird in all diesen vier Akten kein Urteil gefällt, die Frage nicht definitiv beantwortet, wohl aber ein flirrendes Milieu erzeugt, das die Sicherheit definitiver Antworten zu destabilisieren weiß.
Johannes Rauchenberger