Manfred Erjautz: DINGE / THINGS
ORF 2 - Kulturmontag, 13.6.2022 TV-Beitrag: Harald Wilde
Manfred Erjautz hat in einem unglaublich zu nennenden Schaffensrausch eine Erzählung von Dingen vorgelegt, die zu erfahren, zu enträtseln, zu lesen dem Parcours einer Wunderkammer gleichkommt. In ihrem Dickicht werden die Werke in der Ausstellung grob sortiert: Drei schwebende Tafeln in den Ausstellungszellen des alten Klosters fassen Tischskulpturen ein: Bronze, Aluminium und Holz sind die Basis einer bildhauerischen Meisterschaft des Künstlers, deren Gebilde feingliedrige Erzählungen über den Zustand der Welt bilden. Man kann sich dabei als barocke Tafelteilnehmerin oder als armer Bruder fühlen – die Tischgemeinschaft dieser Art eint alle. Die Besucher*innen sind – in Anlehnung und zugleich in Abgrenzung zur hohen Tischkultur barocker Tafeln – aufgefordert, ihr Verhältnis zur Welt, zu den gesellschaftlichen Krisen, zur eigenen (Lebens-)Zeit zu definieren. FUCK YOU ist das eine extreme Zeigersystem seiner zahlreichen Uhren, die Gliedmaßen Jesu Christi das andere. Zeitmessung wird einmal vergoldet, dann – gerade, wenn es darum geht, sein eigenes Schicksal künstlerisch in einem Selbstporträt zu bearbeiten – zu einem Bannstrahl aus dem Jenseits, wie es nur Verkündigungsdarstellungen kannten. Zeit als verrinnende Zeit und Zeit als wiederkehrende Zeit: Erjautz hat dafür großartige Modelle in seiner Kunst entwickelt, oft aufwändigst konzipiert, in technischer Hinsicht aber mit einer unglaublichen Akribie hergestellt. Das jüngste seiner Zeitmodelle ist ein riesiger Kreis, auf dem ein (chinesischer) Drache rotiert. Dieser ist mit einem ehemaligen Christbaum verschmolzen. Das Werk trägt den Titel „Heavy sun“. Erjautz‘ Auseinandersetzungen mit Zeit transzendieren zeitgenössische Fragestellungen ins Überzeitliche, nicht selten Metaphysische. Dort kommen christliche, aber auch antike, buddhistische und fernöstliche Versatzstücke vor.
Alles in Manfred Erjautz‘ Wunderwelt schreit nach Bedeutung. Sein Handy und das Lexikon in ihm sind ihm ein ständiger Begleiter, mitunter sogar Werkzeug. Auch die Dokumentation seiner Werke und Gedanken auf Instagram, wo man Tage verbringen kann, um seine künstlerische Ding-Welt zu durchwandern. Die Lingua franca seiner Kommentare ist Englisch. Nicht selten sind es auch seine Titel. Über Jahre war es zum Beispiel „shelter“: Dieses Synonym für „Zuflucht“ bezeichnete eine ganze Generationenfolge, die mit der Vermarktung von Frauen als Schaufensterpuppen begann, mit Kindern fortgeführt wurde und mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine neue Generation erreichte. Es war eine Anklage gegen die Vermarktung des Körpers unter kapitalistischen Werbebedingungen.
The closer I get, the more I drift far ist ein weiterer solcher Titel. Er benennt Paddeln, die kraft ihres Gebrauchs weich geworden sind. Sie hängen am Beginn der Ausstellung an der Decke. Doch so weich, abgetragen oder welk sie erscheinen mögen: Sie sind aus Bronze. In der Nähe dazu schwebt einem auf Augenhöhe ein Skelett entgegen. Die Ausstellung ist auch als Beitrag des KULTUM zur Wiedereröffnung des renovierten Minoritenzentrums in seiner barocken Theatralik konzipiert. Das Skelett hat Erjautz immer wieder bearbeitet. Schon vor Jahrzehnten. Doch dieses hier, aus Aluminium gegossene, kann man anstupsen und es beginnt einen entsprechend anmutigen Wirbelsäulentanz. Dieser Totentanz ist als eine Referenz an die Zeit der Corona-Pandemie, in der mittelalterliche Denkmuster in Form von Verschwörungstheoretikern drastische Wiederauferstehungen erleben, gedacht. Es trägt den Titel: „Blindflug“.
Einen mittelalterlichen Totentanz, den „Basler Totentanz“ hat Manfred Erjautz in den letzten Monaten, ja bis in die Fastnacht 2022 hinein bearbeitet und fertig gestellt. Was im Spätmittelalter ein ikonisch vertrauter Umgang mit dem Tod war, unterzieht Erjautz mit dem Massenmedium des 21. Jahrhunderts einer Relecture: Jedes dieser etwa 50 Blätter hat er mit einer Handybearbeitung durch den Drucker geschickt. Das zeitgenössische Bildelement, das Erjautz mit dem Verdikt der Korrekturmöglichkeit versehen hat, wird zum starken Statement für die Unverfügbarkeit des Moments und der gesetzten Tat durch den Künstler.
Eine kurze biografische Rückblende: Vor mehr als 30 Jahren absolvierte Manfred Erjautz an der HTBLA Ortwein das Department Bildhauerei und anschließend die Meisterschule Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste bei Bruno Gironcoli. Seither zählt er zu den führenden Vertretern dieser Bildhauergeneration, die in unterschiedlichsten Medien in bedeutenden Ausstellungen und Arbeiten im öffentlichen Raum Meilensteine gesetzt haben. Zeichenwandel und Multiperspektivität sind mit Manfred Erjautz als Person und Künstler untrennbar verbunden, am stärksten ist diese Spiegelung wohl in seinem bekannten, 1996 entstandenen ME, 2018 in der Ausstellung „Glaube Liebe Hoffnung“ im Grazer Kunsthaus gezeigt, nachzuvollziehen: Seine Initiale wird durch eine externe Beleuchtung im Schattenbild zum WE.
Spiegelung ist auch ein Element dieser Ausstellung: Im Franziskussaal sind unter der gewölbten Decke riesige Spiegelflächen montiert, die die Betrachter*innen nicht nur multiplizieren, sondern vor allem reflektieren (lassen): Tonight the mistakes of my youth are gone, but the failures of the future will come.
Zurück zum Kleinen, zu den Tischskulpturen, die auf hängenden Tafeln ihren Aufstellungsort gefunden haben. Sie behandeln das Große. Um aus der Unzahl an Werken eines herauszuzoomen: Da ist ein Floß – the raft – aus der Serie Solettigiacometti. Es ist eine Referenz an den Schweizer Bildhauer, es erinnert aber auch an das Sitzen im Sofa, mit der wir Soletti essend die Schreckensnachrichten der Flüchtlingstragödien über den Bildschirm wahrgenommen haben. Es entstand 2014, kurz vor der so genannten „Flüchtlingskrise“, die diese Gesellschaft verändert hat. Und jetzt, März 2022, wo erneut die Massen flüchten müssen? Es ist (hoffentlich) alles anders. Erjautz' spontane Reaktion auf die Schrecken der Gegenwart ist als temporäre Installation seit dem Aschermittwoch in der St. Andrä-Kirche zu sehen: Ein Fenstergitter liegt auf den Kirchenbänken, an einer Seite hautfarben bemalt. Es soll an eine Panzerkette erinnern – jenes entsetzliche Kriegsgerät, das uns jetzt nicht als game, sondern als Ernstfall im Live-Modus täglich auf die Handys gespült wird. Des Künstlers einst so origineller Beitrag in Hermann Glettlers Kirchenfenster-Serie (2008) hat in den letzten Februartagen 2022 wieder den Blick auf das Original geschärft: Zur eindringlichen Visualisierung der horizonalen Kraft wurde dieses Fenster samt Gitter damals ersetzt und aus- und eingewölbt: Wie eine Einbeulung von außen wirkte die Kraft vor dem vertikal ausgerichteten barocken Dreifaltigkeitsaltar und zeichnete ein neues imaginäres Kreuz in den (Kirchen-)Raum. Eben jenes Gitter, das jetzt auf den Bänken liegt, hatte er zugunsten seiner gewölbten Fenster aus dem Jahr 2008 einst weggerissen. Niemals hätte man eine derartige Zeichenverschiebung für das Entwendete zugelassen. Jetzt ist alles anders.
Kommt man da irgendwie raus? Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Im Durchgang durch die Ausstellung scheint alles mehr und mehr ein Blindflug zu werden. Man geht an diesem so betitelten schwebenden Skelett vorbei. Man wird die Bilder der letzten Wochen nicht los. Man geht schließlich in einen Raum, wo Steine schweben. Als ob wir aus dem existenziellen und politischen Grauen in ein Universum gebeamt würden, das uns diese Ängste vergessen lässt. Die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Die Angst zu sterben. Die Angst vor der totalen Zerstörung. Das Einschmelzen jeder Sicherheit – man erinnert sich an eine weitere „Tischskulptur“ im Zellentrakt: Auch der Zweifel wurde eingeschmolzen.
Manfred Erjautz: Your Own Personal Jesus, 2012–16. Durch das Funksignal (DCF 77) des Langwellensenders in Mainflingen gesteuerte Turmuhr mit schleichender Sekunde; Christus-Corpus, geschnitzt, mit Bier getönt, Allgäu um 1880.
KULTUMuseum Graz, aus: Manfred Erjautz: DINGE / THINGS (2022)
Foto: J. Rauchenberger
Am Ende der Ausstellung – und für die überzeitliche Fragestellung dieses Museums ist es wohl das zentralste Stück – kommt man zum Raum einer „Christus-Uhr“ – der Künstler nennt das Werk „Your Own Personal Jesus“. (Es war schon mehrmals zu sehen, zuletzt (2020) im Grazer Forum Stadtpark bei der Christoph-Schlingensief-Schau. Ein Jahr zuvor in der Spitalskirche in Innbruck, wo sie viel öffentliche Erregung erzeugte. Auch im Kunsthaus Muerz und in der Wiener Konzilgedächtniskirche war diese Uhr schon ausgestellt. Sie hat also schon einige Stationen durchlaufen. „Your Own Personal Jesus“ wird schließlich seinen Platz in der Sammlung des KULTUMdepots finden.) Das Werk nahm eine vierjährige Auseinandersetzung des Künstlers mit einem historischen Christus-Corpus in Anspruch. Erjautz verwandelte den historischen Corpus aus dem 19. Jahrhundert, den er unrestauriert in einem Depot gefunden hatte, mit enormem technischen Aufwand, beinahe liebevoll zu nennender Zuwendung, mit exakt protokollierten Restaurierungsschritten und mithilfe unglaublicher Präzisionsarbeit der beteiligten Firmen zu einer großen Uhr. Erjautz wäre nicht Erjautz, hätte er die Zeitmessung nicht exakt an die Atomuhr elektronisch rückgebunden. Der Stundenzeiger ist der Corpus mit den Beinen, die Arme sind jeweils der Minuten- bzw. der schleichende Sekundenzeiger. Für den Künstler wird das hochkomplexe Uhrwerk selbst gar zur Pietà, das den toten Jesus hält. (An dieser Stelle ist es vielleicht gut zu wissen, dass Erjautz in einer Mesnerwohnung, die exakt hinter dem Hochaltar einer Grazer Kirche liegt, aufgewachsen ist.) Die Zeitmessung wird in die Figur des Gekreuzigten eingeschrieben – ein weiterer Meilenstein des Bildhauers Manfred Erjautz, bei seinem Unterfangen, religiöse Bedeutungsträger mit einer künstlerischen Zeichensetzung völlig neu zu definieren. Der Titel freilich ist einem bekannten Song der englischen Synthie-Pop-Gruppe Depeche Mode angelehnt. Eigentlich war dieses ein ziemlich religionskritisches Lied gegen evangelikale Gruppen, die Geschäfte mit Jesus machen. Freilich, der gläubige Johnny Cash hat es später gecovert und es sich angeeignet. Erjautz wäre nicht ein (österreichischer, ergo weitgehend säkularisierter) Künstler, würde er der Gefahr der Vereinnahmung nicht Entsprechendes entgegensetzen. Aber selbst da sind feine Nuancierungen nicht zu übersehen: YOUR OWN personal Jesus nimmt die Marketingstrategien von heute mit und preist die mit der objektiven, genormten europäischen Funkuhrzeit (MEZ) versehene Uhr als deinen persönlichen Jesus an. Freilich ist das paradox. Was also treibt diesen hier in einem Kreis gebannten Jesus, dem wir unsere Zeitrechnung verdanken und dessen Religion eigentlich eine lineare Zeitmessung in unsere Vorstellung von Geschichte eingesetzt hat, an? Die ewige Wiederkehr des Gleichen? Das beharrliche Anzeigen, dass unsere Zeitlinie zu Ende ist? Das Versprechen, dass in ihm – wie in der Osterkerze – Anfang und Ende eingeschrieben sind?
Es sind nur Dinge, die zu sehen sind. Und doch ...
Johannes Rauchenberger