GEHEN & VERGEHEN: Wilhelm Scheruebl
Ausstellungsplan
Eröffnungsansprache
Künstlergespräch mit Wilhelm Scheruebl bei aktuelle kunst in graz, 13.5.
Gehen und Vergehen: Wilhelm Scheruebl arbeitet in und mit der Natur, die ihm zur unbändigen Transformationsquelle von Energie, Kraft und Leben wird. Aus dem Gehen heraus entstehen künstlerische Arbeiten, sie werden daraus entwickelt und daraufhin reflektiert. Gehen ist aber auch Thema und Titel ganz konkreter Arbeiten. Ver-Gehen, dieses Verb, das ein Verschwinden, eine Verirrung oder aber auch eine Transformation anzeigt, hat das „Gehen“ in sich enthalten: Es beschreibt einen Prozess, dem sämtliche Arbeiten und die gesamte Existenz ausgeliefert sind. Diesen Prozess, diese Vorgänge des Lebens, macht Wilhelm Scheruebl speziell mit Pflanzen sichtbar. Seine Kunst steht metaphorisch für die Existenz, ja für die Schöpfung insgesamt. Beide – so ungleich die beiden Worte auch sind – sind einem permanenten Verwandlungsprozess unterworfen.
Jedenfalls, diese Ausstellung war in all ihrer Größe – es waren über 42 Einzeltitel (und ungleich mehr Einzelwerke) in den alten Räumen des KULTUMUSEUM Graz positioniert.
Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Wilhelm Scheruebl bei Bruno Gironcoli diplomiert. Als junger Künstler machte er mit einem von ihm entwickelten Skulpturbegriff auf sich aufmerksam, der (schon damals!) die Pflanzen ins Zentrum von Kunst stellte: Vor allem die Photosynthese war bei Scheruebl ein Gestaltungsprinzip. Des Künstlers Versuchsanordnungen von Sonnenblumen waren gleichermaßen ästhetisch wie auch naturwissenschaftlich artifiziell. Was ihm über Jahrzehnte dabeigeblieben ist: Die Faszination für die Verwandlung. Natur ist im ständigen Verwandeln begriffen. Auf lange Zeit wies seine Biografie einen doppelten Wohnsitz aus: „Lebt in Radstadt und Wien.“ Das Rurale und das Urbane sollten damit dokumentiert werden, wobei Letzteres auch signalisiert, an der jeweiligen Entwicklung von Kunst immer noch teilzunehmen: Dass zeitgenössische Kunst sich in der Stadt abspiele, wird Wilhelm Scheruebl im Laufe seines künstlerischen Arbeitens über fast vier Jahrzehnte freilich substanziell entkräftet haben. Ein Weiterschreiben des Begriffes von Skulptur ist bei Scheruebl so zu erzählen, dass das urbane Nachdenken über Kunst durchaus als arm zu bezeichnen wäre, hätte es nicht – neben der Materialerfahrung von Stein und Felsen – von den Spuren (im Schnee), den (Atem spendenden) Aussichten und den Wetterkapriolen des alpinen Hochlandes zu berichten. Die lang geübte Doppelexistenz ist beim Künstler seit einigen Jahren einer expliziten Verwurzelung gewichen: Wer jemals in Scheruebls Atelier hoch oben in den Bergen von Radstadt gewesen ist, wird die so entstandene Kunst anders einzuordnen wissen.
Wer ein zerschlissenes Schuhband in die Ausstellung brachte, erhielt bei wärmsten Frühlingstemperaturen ein Kunstwerk, genauer gesagt: ein „Minus-Aquarell“, vorausgesetzt man war mit den eigenen Schuhen so weit gegangen, dass den Schuhbändern das Zeitliche winkte. Die mitgebrachten Schuhbänder wurden im Austauschverfahren zu den kleinen, (am Beginn der Ausstellung insgesamt 144) Minus-Aquarellen, die die Geberinnen und Geber vom Künstler erhielten, auf einem Holzring aufgehängt und formierten sich in der Ausstellung zu stillen Botschaftsträgern von vielfältigen Geschichten von Gegangenem, deren Spuren die Füße gezeichnet haben. Titel der Arbeit „WEGE“.
Die „Minus-Aquarelle“ zählen zu den „Markenzeichen“ des in den Bergen von Radstadt lebenden Künstlers. Es gibt sie auch in Form großer Formate. Gemalt hat sie nicht der Künstler, sondern die Temperatur. Die blaue Farbe ist am Papier so gefroren, dass diese Muster entstanden. Wobei das Wort „Muster“ leicht untertrieben ist: Es sind meist florale Ornamente von vollendeter Schönheit. Wilhelm Scheruebls Kunst ist unter anderem daran wiederzuerkennen: an der Schönheit von „Eisblumen“ – gebannt auf Papier.
Gehen ist das aktive Moment, das wir in die Ausstellung mitzubringen haben und vom Gehen erzählen die Werke Wilhelm Scheruebls in dieser Schau. Dabei ist nicht der Innovationswert der Punkt für die Präsentation, sondern die Erzählung der letzten Jahrzehnte, die Wilhelm Scheruebl konsequent und kohärent weitergetrieben hat. Im letzten Raum rattern Diaprojektoren mit Kleinbilddias, die von einer zweitägigen Wanderung über die Bergkämme des Zauchtales erzählen; die Wegmarkierungen, die nicht rot-weiß-rot, sondern gelb markiert sind, hat der Künstler auf Dias festgehalten. Durch die unterschiedlich groß projizierten Bilder und Zeiteinheiten der einzelnen Projektionen entsteht ein Bild- und Tonablauf, der dem Zufall geschuldet ist. Eine Installation, die in ihrem zufälligen repetitiven Rhythmus an die Minimal Music erinnert. Entstanden war sie 2005 für das Projekt „accessing the sublime“ (Zugang zum Erhabenen).
„Gehen“ kann in der Ausstellung freilich auch „Fahren“ bedeuten. In der Zelle im Südtrakt zeigt der Künstler mit „Sveti Jakob“ eine Reiseroute, die aus Stahl geschnitten wurde. Das Objekt, das anlässlich eines Symposiums in einem gleichnamigen kroatischen Ort entstanden ist und dessen Ergebnisse wiederum im Anschluss in einer Ausstellung im Künstlerhaus Wien gezeigt worden sind, ist aus der Linie einer Fahrradtour, die der Künstler von seinem Lebensmittelpunkt Radstadt aus nach Kroatien und zurück nach Wien gemacht hat, zu einem skulpturalen Objekt geformt. Die Dokumentation dieser Reise in Form von DIN-A4 Blättern ist an diesem, von der Decke hängenden Linienobjekt nachzuvollziehen. Sie weist die zurückgelegten Kilometer, die bezwungenen Höhenmeter, die passierten Orte aus. Und die Erfahrung der schutzlosen Reise in einer vielfältig gestaleten Landschaft.
Mit „Solarfinger“ zeigt Wilhelm Scheruebl fünf Kupferdrucke, die sich in ihrer zentralisierenden Form Aufnahmen von Bäumen verdanken. „Ahornwipfel“ wurden aus der Vogelperspektive fotografiert; ihr verzweigtes Geäst bildete die Basis für Druckstöcke, die, wie vorhin als Reiseroute, in Kupfer geschnitten wurden. Die Verästelungen sind im Relief desr Papiers nachfühlbar.
Gleichzeitig formte der Künstler aus den Resten dieser Wipfel ein kinetisches Objekt, das in seiner langsamen Drehung an fernöstliche Meditationstechniken erinnert.
„Gehen und Vergehen“ gilt auch für Samenpflanzen und deren Ort, sich fortzubewegen: Am Ende der Ausstellung finden wir die Arbeit „Flugversuch“, ein Objekt mit einem Bündel aus vielen schmalen Stoffsäcken, in denen sich getrocknete Mariendistelköpfe mit ihren Samen befinden. Begleitet wird dieses Objekt von einem Video in Endlosschleife, in dem sich reife Mariendistelköpfe leicht im Wind bewegen, bevor dieser sie in alle Richtungen verstreut. Die Samen in den Fruchtständen/Köpfen wurden in den Säcken aufgefangen und zum Trocknen aufgehängt. (So ist „Flugversuch“ entstanden.) Ursprünglich wollte der Künstler nur Samen für zukünftige Projekte ziehen; doch im Laufe der Arbeit wurde das Auffanglager zur Skulptur.
Es ist die Natur, in der Wilhelm Scheruebl immer wieder seine symbolischen Formen findet: kosmische Strukturen, oder Stäbe der Vernetzung, der Kommunikation und des Chaos. Mit „Die Worte, die Welt“ ist die Installation im Hof des Minoritenklosters betitelt. Hunderte von verwitterten Fichtenholzstäben wurden in einem geschalten Cubus verbunden, vernetzt, gekreuzt: Die Arbeit umhüllt eine Säule des Korridors zum Minoritensaal.
In der Ausstellung selbst ist in der ersten großen Barriere zum Gang des Südtraktes des Gebäudes ein weiteres, derartiges „Geäst“ aufgebaut. Beide Objekte sind eine Referenz an eine große Installation, die der Künstler im Vorjahr im Hof des Salzburg-Museums realisiert hat. Es trug damals den Titel „OIKOS“ – Haus. Hinter dieser Ansammlung von Stäben ist ein zweites Strukturobjekt sichtbar, es hängt von der Decke, es IST ein Haus, doch ohne Wände oder Schutz (die Wände dienten zum Aufbau als Schablone, doch sie sind weggenommen). Die Substanz dieses Hauses, hier erneut „OIKOS“ genannt, sind Sonnenblumenstängel.
Die Sonnenblume zählt zu den wichtigsten symbolischen Formen, die Wilhelm Scheruebl in seiner künstlerischen Arbeit gefunden hat. Er hat sie gemalt, gezeichnet, gesät, gezogen, gegossen, er hat ihre Schatten geformt, radiert, geätzt, versilbert, sandgestrahlt, was auch immer. Scheruebl ist sehr vielfältig in seinem künstlerischen Tun. Doch in all der Vielfalt seiner Motive und seiner Wahl der künstlerischen Ausdrucksweisen nimmt die Sonnenblume eine zentrale Stelle ein. Denn sie steht für die Hinwendung zum Licht.
Wilhelm Scheruebl geht als Bildhauer in die Natur und findet dort auch seinen Gestaltungsraum, performativ, suchend, rezipierend. Immer wieder war es in den letzten Jahrzehnten die Sonnenblume, deren materielle Substanz er in die Ausstellung holte, deren Schatten aber vielfach zur Kunst geworden ist. Diese Ausstellung, die, wie fast alle anderen in der letzten Zeit, Teil des „Museumsprojektes“ des KULTUM sind, das heißt, wenn es eine Personale wie diese ist, einer Vertiefung und Verästelung von Werkansätzen, die sich in den letzten 25 Jahren schon einmal ansatzweise gezeigt haben, ist deshalb auch mit Rückblenden versehen: Im intermedialen Projekt „LICHTMESZ“ (2009) des KULTUM war etwa eine derartige Blume zugegen; ihr Schatten – oder besser die Leerstellen ihres Schattens – wurde in den Fenstern als versilberte Fläche appliziert. Nach der Übersiedelung 2010 war es eine der ganz wenigen Kunstwerke der letzten 13 Jahre, die seither einen fixen Platz im KULTUM beanspruchen dürfen.
Sein erstes Werk in der aktuellen Ausstellung im alten Minoritenkloster in Graz, indem das KULTUM seit fast fünf Jahrzehnten seinen Ort hat, hat Scheruebl mit einer violetten Wachstumslampe angeleuchtet: Zwei Holzböcke aus der Lackierabteilung einer Tischlerei, die nicht als Werkzeug der Auflage dienen, sind dabei an die Wand geheftet. Sie haben Haut angesetzt. Die dicke Schicht auf den Holzböcken hat eine äußerst ambivalente Schönheit angelegt.
Davor sind drei Zimmerpflanzen positoniert: Eine Aloe Vera (L), eine Citronella costa-ricensis, ein Pachypodium.
Das spärliche Licht beim Aufgang, das vom Licht einer Wachstumslampe unterstützt werden muss, führt uns in das Artifizielle hinein: Können Pflanzen durch künstliches Licht erzogen werden?
Die eröffnende Installation in den Südgang heißt jedenfalls: „Lichtentzug“. Schon der Titel weist auf das Problem hin, das uns droht, oder das wir mitentschieden haben. Was, wenn kein Licht mehr ist?
Das „VISUAL GROWING“ entspricht einem „VISUAL THINKING“. Es war 1993 Peter Weiermeier, damals Direktor des Frankfurter Kunstverein, der Wilhelm Scheruebl in einem Aufsatz zu seinem frühen Werk ein „visuelles Denken“ attestierte. Die zellenartigen Strukturen, die in Scheruebls Werk immer wieder vorkommen, ist hier als „Struktur“ vorgestellt. Eine „Königskerze“ ist daneben angelehnt, eine Gipsform mit getrockneten Pflanzen trägt die Bezeichung „Lunge“. Ein Sack mit Kabelbindern, das vor einem Jahr die Sonnenblumen an die Fichtenholzstäbe hielt. Und ein kleines Werk nehme ich dabei heraus: Das „Haus“, das erneut diese vielen Schichten hat. Was haben wir nur angestellt, um uns vor der Natur zu schützen! Wilhelm Scheruebl zeigt in dieser Ausstellung, dass SEIN Lebenswerk jedenfalls von einer anderen Alternative zeugt: Er ging und geht hinaus, in die Natur, er setzt sich ihr aus, als Wanderer, als Radfahrer, als Schitourengeher, als Bergretter, als Künstler, als Bildhauer.
Das Hauptsujet dieser Schau war ein mächtiges Bündel aus fast 200 Königskerzen; sie hingen übermannshoch von der Wand. Sie machen deutlich, dass die stärkste bildhauerische Kraft die Natur selbst hat. Ihr Wurzeln haben sie in der schlichten Umdrehung in ihrer Präsentation nicht unten, sondern oben. So heftet ihnen nicht nur die Vorstellung von Vergänglichkeit, sondern auch von Transformation an, etwas, was Scheruebl zeitlebens fasziniert hat und wofür er unterschiedlichste Formfindungen anstellt und immer wieder entdeckt.
In einer Epoche, wo Natur eigentlich nur mehr als höchst bedroht und katastrophisch wahrgenommen wird, in einer medialen Gegenwart, die (zurecht) vor den Folgen des dramatischen Klimawandels warnt, sind Scheruebls Bilder, Drucke, Videos und Skulpturen wie glänzende Werke aus einer anderen Welt, die uns noch die Augen öffnen wollten für die Schönheit des Kosmos, der Schöpfung und der Welt, in der wir für einen Hauch eines Bruchteils von Zeit Gast gewesen sein werden. Und, ja, die uns eine Erinnerung wachrufen an die scheinbar naiven Sätze der biblischen Erzählung von Schöpfung, nach jedem Tag aus dem Munde des Schöpfers: „Gott sah, dass das Licht gut war“ (Gen 1,4); „Gott sah, dass es [das Land; das Meer] gut war“ (Gen 1,10); „Gott sah, dass es [die Erde mit ihren Samen und Früchten] gut war“ (Gen 1,12d); „Gott sah, dass es [die Lichter am Himmelsgewölbe, die großen und die kleinen] gut war“ (Gen 1,18); „Gott sah, dass es [die lebendigen Wesen im Wasser und in der Luft] gut war“ (Gen 1,21); „Gott sah, dass es [die Lebewesen aller Art, die Kriechtiere und die Wildtiere] gut war“ (Gen 1,21) Und dann, Gen 1,31, nach der Übergabe an die Menschen: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut.“ Gut!
Und genau die Zeitspanne nach dem sechsten Schöpfungstag nennen wir seit ganz kurzer Zeit das Anthropozän. (Damit ist der kurze Prozess der Zerstörung der Schöpfung gemeint.)
Dass die Natur uns nämlich anblickt, in ihren Verästelungen des Lebens, den Adern ihrer Lebenskanäle, den Ausformungen ihrer Versorgungsarme, zeigt Wilhelm Scheruebl Zelle für Zelle, Raum für Raum. Der Blick wird am augenfälligsten dort, wo Formen auch mit dem Auge assoziiert werden, wie im Video „IRIS“ in der ersten Zelle des Südflügels, die man als Besucherin, als Besucher zu betreten hat, weil die „Konstruktion“ aus Fichtenholzstäben eine Barriere war. Für eine kurze Zeit denkt man tatsächlich an die Adern im Augapfel, an die Adern im Lebewesen überhaupt, doch diese weisen sich als Bäume von oben in weißer Winterlandschaft aus, die der Künstler mit seinen Schiern durchquert.
Abermals ein Blick „von oben“, transzendiert in eine andere oder aus einer anderen Welt, akustisch unterstützt von einem ersten Zwitschern der Vögel und der Klaviermusik von John Cage. Scheruebl interessieren ähnliche – oder analoge – Ausformungen, die sich in der Natur in lebendigen Systemen herauskristallisiert haben. Mit „lebendig“ sind freilich auch Steine oder Kristalle gemeint.
Lebendig können aber auch einfach Pflanzen sein. Oder sich als derart „stark“ erweisen, dass sie zu Druckstöcken werden, als Abbildern von Urbildern, ganz konkret nachvollziehbar in der Haptik von Papier. In seinem jüngsten Studienaufenthalt in Mexiko (2022/23) lässt Scheruebl unterschiedlichste „Blätter“, die sich ihm während seiner zahlreichen Spaziergänge in Merida mit ihrer überbordenden Vegetation und dem beeindruckenden Formenreichtum dieser vielfältigen Pflanzenwelt anbieten, zu geformten Druckstöcken werden. Das Streiflicht macht die Papierdrucke besonders haptisch. Nicht der Künstler ist der Holzschneider bzw. Lithograph, es ist die Natur selbst: Was aber Scheruebl mit der Druckerpresse, die ihm die Kunsthochschule in Merida während seines jüngsten Stipendiums auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan zur Verfügung gestellt hat, aus den Originalen macht, ist einerseits klassische Druckgrafik. Aber der Stecher oder Holzschneider fehlt, es ist die Natur in ihren wunderbaren Formen.
Ähnlich verfährt Wilhelm Scheruebl als Bildhauer in der Serie „Betongarten“: Dabei sind Blätter aus der Natur oder die Blüten von Sonnenblumen direkt in Beton abgegossen oder besser: ihre einstmalige Form. Sie erscheinen wie paläontologische Funde. Das Prinzip des Gusses ist auf das vegetative Blatt übertragen – und mit ihm natürlich auch die Form von Kulturkritik, was Wohnen, Terrasse, Garten angehen.
Wenn wir sie zuschütten, zubetonieren, wird uns buchstäblich die Luft ausgehen. „Herz und Lunge“, nicht zufällig auch in diesem Raum positioniert, zeigt das als eindrucksvolles ästhetisches Gebilde.
Aber nicht nur das.
Eine zweite Bodenarbeit hat ebenfalls sechseckige Formen.In ihnen sind in den wabenförmigen Mustern Rosetten in das Zirbenholz geschnitzt, solche, die man aus der Kerbschnitzerei kennt und die man in ländlichen Gebieten in alten Häusern auf Tramdecken findet. Diese haben apotropäischen Charakter. Aber sie dienen auch als Glücksbringer für die Höhen und Tiefen, die sich in den Wohnstätten im Laufe von Biografien eben abspielen.
Verknotet, verkettet, verstrickt, vernetzt, verwoben, verfangen, verbunden: So stellt der Künstler eine weitere Hängeskulptur als Kunstwerk vor. Anders als die Königskerzen sind es aber nicht Substanzen aus der Natur, sondern Hilfsmittel des Menschen: Schnüre eben. Die Funktionen von Schnüren sind vielfältig – der Titel zeigt sie beispielsweise an. Karabiner halten die Schnüre zusammen, Schlüsselanhänger findet man ebenso, unter ihnen ist auch ein durchbohrtes Kruzifix.
Die Hilfsmittel deuten auch auf „Schatten“ von Existenzen hin. Diese sind als das Bild dahinter definiert. Die dabei abgebildete Pflanze wird uns als Aquatinta-Ätzung im Franziskussaal wieder begegnen. Dort ist sie als Schatten weiß, hier ist ihre Form mit Kugelschreiber ausgemalt.
Gehen kann in der Ausstellung schließlich auch heißen, „über Wasser zu gehen“. Das erinnert vielleicht ans Meer für den Sommer, mehr noch aber an die Bibel und ihre Erzählungen von Wundern: „Jesus ging über das Wasser“ (Joh 6,15-21). Das nimmt Scheruebl nicht in Anspruch, das Wunder, es zu tun, aber wohl: Im Cubus breitet sich freilich nicht eine Wasseroberfläche, sondern vielmehr eine unberührte Winterlandschaft aus, die der Künstler mit seinen Schiern durchstreift, auf und ab, über Kämme hinweg, gefilmt aus der Höhe. Es ist eine Landschaft von vollendeter Schönheit – eine, die es nicht mehr gibt, und man denkt, wer so etwas filmt, scheint Exklusivrechte zu haben. Man findet sich in einem Wunderland wieder, einem, an das man de facto nicht mehr glauben kann, es allein haben zu können: So weit sind wir gekommen. Das Video hat etwas Exklusives, ein Sehnsuchtstraum nicht nur für alle Schitourengeher bzw. für die Individualistinnen in dieser Kategorie von Sport. Es ist jedenfalls seltsam: Die Schönheit, die Scheruebl zeigt, ist nicht mehr zu genießen, ohne ihr aufgrund des Massentourismus offenkundig devastiertes Gegenteil mitzudenken. Und der Titel, „Über Wasser gehen“ lässt eher an die steigende Schneefallgrenze denken als an die Bibel – das wird jedenfalls kein Wunder sein.
Wilhelm Scheruebl pflegt additive und zugleich auch subtraktive Verfahren zur Formfindung klassischer Bildhauerei. Dass er dieses weite Spektrum – auch das klassische – beherrscht, hat er unter anderem auch in zahlreichen Projekten „nützlicher“ Kunst, sozusagen „Kunst-am-Bau-Projekte“ unter Beweis gestellt, u.a. in Fenstergestaltungen für sakrale Räume in Österreich (in St. Johann im Pongau hat er gleich 12 (!) Kirchenfenster gestaltet oder anders gesagt: die gesamte Raumschale des neugotischen Hauptschiffes) und in vielen Gestaltungen sakraler Zonen in Form von Altären, Ambonen, Lichtwänden etc., zuletzt 2020 im Grazer Dom. Dort stellt er nicht nur sein formales Können unter Beweis, sondern lässt auch mit seinen malerischen Qualitäten als Bildhauer aufhorchen: Wie Schneeflocken erscheinen die Einsprengsel im harten, dunklen Seiser Basalt, als ob er den Himmel des Firmaments zum Bildträger für die kultischen Möbel machte.
Aus dem Altarblock, der sich als stilisierter Tisch im barockisierten Ambiente der ehemaligen, von Kaiser Friedrich III. im 15. Jahrhundert erbauten Hofkirche behauptet, ließ Scheruebl den Unterteil herausschneiden, drehte ihn um 90 Grad und formte ihn so zum Ambo: Eucharistie und Wort Gottes wurden im II. Vaticanum kultisch gleichermaßen hervorgehoben. Zudem bilden die beiden Basaltblöcke – durch die Drehung zum Ambo – so ein imaginäres Kreuz: Ein „concetto“ im Sinne einer barocken Bildidee.
Die neue Kathedra des Bischofs von Graz-Seckau schließlich ist elementar reduziert. Wiewohl das wichtigste Möbel einer Kathedralkirche wurde hier auf das historisch so belastete Thronhafte verzichtet. In Eiche gezimmert ist die Lehne dennoch äusserst fragil.
Licht ist das immer wieder auftretende Gestaltungsmotiv in Scheruebls Werke. Es gibt davon zu viel. Es gibt davon zu wenig. Dort, wo Licht ist, kann Leben wachsen: Das wird Scheruebl in den immer wiederkehrenden Zellmotiven in seinen Arbeiten – selbst in Altären und Ambonen – nicht müde zu gestalten. In der aktuellen Ausstellung im KULTUM sind es die Gläser der Museumstüren, die er zellenartig bemalt: Der Titel dieser Glasbemalung: „zu wenig – zu viel.“
2007 gestaltete der Künstler eine derartige Zellstruktur an den Fenstern des Minoritensaal-Stiegenaufgangs. Die damals in diesem Raum auch entstandenen Lichtzeichnungen – „Vanishing work – Verschwinden durch Licht“ –, die er in Form von „Schatten“ an riesigen Blättern weiß gelassen hatte, während der Rest mit Kugelschreiber bemalt worden war, sind nach fast 15 Jahren noch immer nicht ganz verschwunden, obwohl er damals längst damit gerechnet hatte: Dafür aber ist der Luster, den Erzherzog Johann gestiftet hat, und über Jahrzehnte im Minoritensaal-Stiegenaufgang gehangen war, nicht mehr da! Was so viel heißt wie: Manchmal sind Schatten beständiger als Urbilder.
Zwei Mal kehrt ein derartiges Verfahren, wie Scheruebl es vor 15 Jahren vor Ort angestellt hatte – das Abgebildete im Schattenverfahren weiß zu lassen – in der Ausstellung 2023 wieder: Einmal ist an der Fensterwand des großen Ausstellungsraums ein derartiges umgekehrtes Schattenverfahren mit einer welkenden Blume, dem so genannten „PEACOCK-Triptychon, 2004“ nachzuvollziehen. Der schwarze Hintergrund ist eine Strichätzung und Aquatinta, gedruckt auf Büttenpapier. Das Triptychon ist ein Unikat.
Dazwischen hängen hier im Raum kosmische Strukturen.
Am Boden: Eine „wilde Karde“ in Bronze gegossen, ein Ensemble mit dem Titel „behaust“, 2017–2022 – Nussholz, Fichtenholz, von Ameisen ausgehöhlt; Lackschichten auf Fichtenholz. Es ist deutlich: Es geht eigentlich nicht um UNS in dieser Ausstellung, es geht um die Natur, die hier selbst als Künstlerin ausgewiesen wird, mit ihr die Lebewesen, die sie in Anspruch nehmen, so wie die Ameisen, die dieses kleine Haus ausgehöhlt haben. Aber, natürlich, es geht AUCH um uns, um das ästhetische Anschaulich-Machen, was wir eigentlich permanent anstellen, um uns vor eben dieser Natur, aus der wir doch entstammen und deren Teil wir sind, zu schützen: Man beachte nur die vielen Lackschichten auf diesem kleinen Haus!
Auf der gegenüberliegenden Seite und an der einen Frontseite des länglichen Raums hängen drei lebensgroße, mit Bleistift flächig ausgemalte T-Formationen, die jeweils eine weiße Fläche leer lassen, die wiederum einen ausbreitenden (männlichen) Körper zeigen: Sie heben auf je ihre Weise die Schwerkraft auf.
„JE SUIS. Wie werden wir gewesen sein?“ Dem Titel dieser drei Bilder folgt ein Nachsatz: „Klaras Ficus elastica Roxburgh“, 2009–2023. Das ist der Gummibaum der Mutter des Künstlers, die vor mehr als 30 Jahren verstorben ist. Ihr früher Tod hat ihn geprägt und, wenn er etwas biografisch an seiner Kunst festmachen würde, seine lebenslange „Hinwendung zum Lebendigen“ forciert. Die Schatten dieser drei Figuren stammen von ihm und seinen beiden, mittlerweile längst erwachsenen Söhnen. Natürlich, „JE SUIS“ – wir erinnern uns an die weltweite Solidaritätskundgebung beim Anschlag auf das Karikaturenbüro in Paris mit „JE SUIS CHARLIE“ – „JE SUIS“ hat auch das Wort „JESUS“ im Wortklang. Zurückhaltend, nicht einlinig, schon gar nicht mit der Hammerkeule. Warum ich das erwähne? Weil es ein für mich bewegendes Statement eines Künstlers für ein Thema ist, das die ersten Spuren seiner ganz frühen Bildhauerkunst trägt: Das Schnitzen eines Kruzifixes. Wofür brauchen Menschen zuallererst, so wage ich nun zu fragen, seit Menschengedenken Bildhauer? Antwort: Um sich die Götter ins Haus zu holen.
Obwohl ich Wilhelm Scheruebl schon lange kenne, wusste ich von diesen ersten Spuren seiner Kunst nicht Bescheid. Erst der Besuch seines neuen Ateliers und die dort angebrachten frühen Kruzifixe des jungen Künstlers im Stiegenaufgang offenbarten sich mir mit dieser Wurzel. Nach vier Jahrzehnten des zeitgenössischen Künstler-Daseins, das derartige Motive üblicherweise außen vorzulassen hat, ist das für diese Ausstellung entstandene „Triptychon“ ein Statement: Am Kreuz heftet sich die Vorstellung einer großen Verletzlichkeit, aber auch einer Aufhebung von Schwerkraft. Denn es bedeutet hier, dass man an den Menschen glauben könnte, dass dieser die Arme öffnen und sein Schatten eigentlich auch als Licht gedacht werden kann, als Leerstelle inmitten einer Vegetation, die in sein Gesicht hineinragen kann und das Dornengestrüpp des Lebens vielleicht aufruft, aber dennoch nicht zitiert. Es ist ja in Wirklichkeit „Klaras Gummibaum“. Er lebt noch immer. Ein Kreuz und Pflanzen – das sind kultisch anmutende Andeutungen. Mit der Überwindung des Todes in der Figur Jesu, mit der Geste des Arme-Ausbreitens im Zustand des Glücks, mit einer idealtypischen Darstellung des Menschen an sich. Was sie eint: das Zutrauen zu dem, was im Menschen sein könnte. Und weitergegeben werden könnte.
Derartige „Licht-Schattenbilder“ sind Projektionen im besten Sinne, Bilder von Göttern und Menschen, die Urbilder aufrufen oder auch, meinetwegen, Platons Höhlengleichnis. Ihr Schatten ist das Licht. In ihrer Nähe gibt es zudem noch einmal ein subtiles Spiel mit der Geschichte von religiösen Bildern:
Zentral im großen Ausstellungsraum des Franziskussaals hängt ein Triptychon mit dem Titel „Steinbilder – Vera-Icon“, das schon 1987 entstanden ist, also mehr als 36 Jahre alt ist. „Vera Icon“ heißen diese Bilder erst seit ein paar Jahren. Doch keine Spur eines „Abdrucks“ eines wahren Gesichts ist hier zu finden. Wohl aber eine, in typischer Scheruebl-Handschrift gestaltete Bilder, die serielle Strukturen aufweisen. Die oben erwähnten additiven und zugleich auch subtraktiven Verfahren zur Formfindung werden hier besonders eindrucksvoll sichtbar: Das strukturierende Prinzip dieser Bilder waren ursprünglich Abfälle von ganz frühen Steinbildhauerarbeiten, die der Künstler nicht entsorgte, sondern gesammelt hatte. Sie waren Formelemente, die Scheruebl, mit viel Leinöl und gelber Farbe versehen, auf die Bildträger angebracht hatte. Nach einer ersten Trocknungsphase entnahm er diese Steinelemente wieder – zurück blieb ein Krater. Und manchmal eine Verdichtung von Leinöl und Farbe, die, außen hin getrocknet, auch weiterhin ein Innenleben aufweisen sollte. Manchmal war dieses so stark, dass die Haut aufgebrochen war und die Farbe herausfloss: Die Bilder leben weiter.
Was ist ein Bild? Was ist ein lebendiges Bild? Was ist ein wahres Bild? Assoziative Fragen am Ende! Die Ausstellung „Gehen und Vergehen“ im KULTUM legte keinen vordergründigen Wert auf die Aktualität der Arbeiten und auf das Neue, vielmehr zeigte der Künstler Arbeiten, die sich über die Jahre hinweg behaupten und entwickeln konnten. Sie tragen nicht zuletzt sehr viel dazu bei, für sich eine Antwort auf die Frage zu finden, „warum wir da gewesen sein werden“. Apokalypse und Advent fallen nur dann nicht auseinander, wenn wir als Menschen lernen uns zurückzunehmen.
Johannes Rauchenberger
Ausgestellte Werke, aufgeteilt in Räumen
Stiegenaufgang |
1
|
Gang Süd I |
3
|
Zelle 1 |
4
|
Zelle 2 |
5
|
Zelle 3 |
6
|
Zelle 4 |
7
|
Gang Süd I (Fortsetzung) |
9
|
Gang Süd II (zum Franziskussaal) |
12
|
Franziskussaal |
19
|
Hinter dem Franziskussal |
25
|
Gang West Tür |
Tür: 26
|
Gang West I |
27
|
Raum 4 |
29
|
Gang West (Fortsetzung) |
30
|
Raum 7 |
34
|
Raum 8 |
40
|
Cubus |
42
|