Heribert Friedl: 100 Poems
In dem zur Ausstellung erscheinenden Buch sind die 100 kleinen Bilder von Heribert Friedl, die in der Ausstellung im KULTUMUSEUM in Graz im tonnengewölbten Raum des ehemaligen Refektoriums im alten Minoritenkloster in Graz aufgereiht sind, dann auch als als zeitgenössische „Andachtsbildchen“ archiviert. Doch kein Kitsch, kein Historismus, keine Welt von gestern ist in diesem „Gebetbuch“ aufbewahrt, im Gegenteil. Die Worte, die Sätze sind dem puren Leben entnommen, seiner Endlichkeit und seiner Bewältigung, seiner Hoffnung und seiner Begabung zur Transzendenz. Als reale Bilder (Kunstwerke) haben diese „Schriftikonen“ einen Körper, es sind MDF-Holzplatten, die als solche auch ein entsprechendes Gewicht aufweisen. Es sind kleine Bilder, mit wohldosiert organisierten Farbflächen, die mit jeweils englischen Sätzen oder Worten korrelieren. Der Titel der Ausstellung weist sie als reduzierte Gedichte aus, Hundert an der Zahl.
"Sich herausnehmen, nicht zuschütten lassen..., jede/r kann das." So Heribert Friedl in einem eindrucksvollen Gespräch mit Kurator Johannes Rauchenberger, unmittelbar nachdem die Ausstellung fertig geworden ist.
Als Katalogmedium des „Gebetbuches“, das der Künstler zur Dokumentation dieser Bilder gewählt hat, erinnert es aus kultur- bzw. religionswissenschaftlicher Perspektive an ein „Stundenbuch“. Stundenbücher wurden im Spätmittelalter von kostbarsten Buchmalereien aus der Hand der besten Illustratoren geziert und bilden ganz besondere Dokumente einer religiösen Hochkultur wie auch einer ganz persönlichen Frömmigkeit. Religionsgeschichtlich betrachtet ist dies eine Gattung von Büchern, die gemäß der (christlichen) Gebetspraxis Texte beinhalten, die den Tag strukturieren: Psalmen, Schriftlesungen und Hymnen. In Klöstern werden sie selbstverständlich als Bücher noch gepflegt und kultiviert. Aber in der Einzelpraxis weicht das Medium „Stundenbuch“ mehr und mehr dem Digitalen: selbst Menschen, die sich von Berufs wegen zum regelmäßigen Gebet verpflichtet haben, tun dies mehr und mehr digital.
Was wir bei Friedl vorfinden, ist ganz grundsätzlich ein umgekehrter Prozess: Von einem digitalen Hilfsmedium zurück in die analoge Zeit und den analogen Körper. Und damit auch eine bewusste Inanspruchnahme von Zeit, die Rücknahme der Geschwindigkeit, das Lob der Wiederholung – aber nicht im Sinne der Steigerung von Zugriffszahlen, sondern als Akt der existenziellen Stabilisierung, die einhergeht mit Klage, Erinnerung, Zutrauen, Hoffnung und Trost. In der so erfahrenen Zeit wird bei diesen Bildern von Heribert Friedl so etwas wie „Glaube“ in Form alter, stabiler, bleibender Bilder sichtbar. Das ist in dieser Form ein ganz außerordentliches Phänomen; denn gerade „Glaube“ ist in der zeitgenössischen Kunstproduktion üblicherweise etwas so Fremdes, und, wenn überhaupt, etwas so Intimes, dass es kaum zu einer existenziellen Thematisierung im Modus des Bildnerischen kommt, die kitschfrei, ironiefrei, oder bar einer beißenden Kritik ist. Anders ist es hier.
Im bisherigen Werk von Heribert Friedl hat das Analoge in Form realer Bilder nur sehr selten eine Rolle gespielt. Vielmehr galt und gilt für ihn: ART IS NONVISUAL[1]. Von je her hat Friedl Texte und Bilder in Zeiten einer totalen digitalen Reiz- und Bildüberflutung kritisch befragt. Er tat das durchaus ironisch: So war Friedl parallel zu seinen Ausstellungen bereits in den Neunzigerjahren längst digital präsent, mit seiner Webseite, die die URL www.nonvisualobjects.com trug (und bis heute trägt). Seit 1996 ist bei ihm dieser gestaltende Terminus leitend. Im Gegensatz zu heute war damals NICHTS zu sehen, wenn man die Webseite aufgerufen hatte. Den Künstler interessierte dabei, wie ich mich damals an unser erstes Gespräch erinnere, das Nicht-Sichtbare. Deshalb: Die unsichtbare Seite – deren Inhalte sich erst offenbarten, wenn man die Maus betätigte. Deshalb: Die weiße Museumswand, deren Bilder man erst sehen kann, wenn man Wahrnehmungen jenseits des rein Visuellen wachruft. Und dazu gehört ganz wesentlich der Duft. Mit ihm hat Friedl 2011 im KULTUM auch am Kunstwettbewerb 1+1+1=1 TRINITÄT teilgenommen. Windungen aus Kupferröhren waren als Skulptur im Raum, wenn man den Blasebalg mit den Füßen bediente, entströmte ein Duft – diese Arbeit ist seit damals Teil des KULTUMUSEUMs.[2]
Vor mehr als 20 Jahren habe ich ihn bereits – anlässlich von „Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas“ das erste Mal im KULTUM ausgestellt, als Vertreter von Künstlerinnen und Künstlern, die mit einem besonderen „Ansatz“ von Kunst in der Welt Fuß gefasst, dabei aber Graz verlassen haben. Die Ausstellung hieß: „EX Graz“. Friedl präsentierte dabei in einer Ausstellungszelle nur weiße Wände, es war buchstäblich nichts zu sehen. Wenn man aber näherkam, konnte man die Fläche riechen; unterschiedliche Düfte strukturierten die weiße Fläche.
Heribert Friedl hat sein Gestaltungsrepertoire über die Jahre erweitert – er arbeitete mit Kleidern, die Dokumente von Zeit und Vergänglichkeit, von Nähe und Schönheit, von Duft und Schmutz sind: Zuletzt im Museum für Gegenwartskunst in Stift Admont, wo er mit einer Unmenge von Kleidungsstücken, Schuhen, Krawatten, Schals ein „Portrait einer meistgeliebten Person auf der Welt und darüber hinaus“ (2022) zeichnete. Er arbeitete aber auch mit Sound, 2020 in der Ursulinenkirche in Linz oder 2021 in der Mariahilferkirche in Graz bei EINATMEN–AUSATMEN, der Ausstellung während der Corona-Pandemie, die gleichzeitig die Ausstellung zur Wiedereröffnung des neu gestalteten Minoritenzentrum war: Mit einer zarten, zurückhaltenden Weise hat er dabei eine Klanginstallation komponiert, deren Bauteile der Blasebalg einer Orgel, ein Wassertropfen, Regen und ein Hackbrett sind. „Tears of c“ versuchte sich dem Thema des Lebensatems klanglich und metaphorisch anzunähern. Das Atmen der Wind-Instrumente war musikalisch verwoben mit dem Klang von rhythmisch vergehender Zeit. Die Tränen, die Trauer, der Schmerz in Form der Wassertropfen und des Regens waren, so der Künstler und Komponist, der Corona-Zeit geschuldet, die so massiv Menschen mit der eigenen und der anderen Endlichkeit konfrontierte. Intensiv und existenziell verband sich die Musik mit dem Ort und dessen über die Jahrhunderte aufgefangenen Gebete, Ängste und Hoffnungen. Gleichzeitig war es, als füge Heribert Friedl mit den Obertönen des Klangs eines Hackbretts der Schwere etwas Versöhnliches hinzu. Was auch immer es war – ein Requiem, eine Anrufung, ein Gebet: Atem wurde immer auch – dum spiro, spero – mit Hoffnung verknüpft.
Diese Spur nimmt Heribert Friedl in den „100 POEMS“ auf; nun aber malt er einfach sichtbare, greifbare, haptische Bilder, ganz jenseits seiner bisherigen künstlerischen Praxis. Sie sind in drei intensiv gestalteten „Werkblöcken“ von PAINTINGS entstanden, die als WIENER BLOCK (2022) und HINDINGER BLOCK I+II (2023) im „working title“ bezeichnet sind. Alle drei haben eine Widmung: „Dedicated to Karl“.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einem Künstler oder einer Künstlerin so spontan eine Ausstellung angeboten habe – zumal die Planungen für Ausstellungen ganz natürliche Zeitspannen in Anspruch nehmen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass mich Bilder in meiner eigenen Anschauung derart „überrascht“ haben – das letzte Mal vielleicht, als ich in der Tate Modern in London als junger Kunstgeschichte-Student in den Raum der „Mark Rothko-Bilder“ gestoßen wurde, (jener Bilder also, die Rothko ursprünglich für ein Restaurant gemalt, diese aber dann zurückgezogen hatte). Die Farbflächen der Rothko-Bilder, deren Überwältigung für den Betrachter, das Eingetaucht Werden in eine diffuse, bildlose Welt, haben freilich nur ganz wenig mit den Bildern hier zu tun, zumal jene groß, überdimensional und wehend sind, diese hier klein, die meisten kleiner als DIN A4 und in der Ausstellung aufgereiht im großen Ausstellungsraum im historischen Ambiente eines ehemaligen Kloster-Refektoriums. Sie sind noch einmal verkleinert in diesem Büchlein, sie erhalten dabei den Charakter von Andachtsbildern.
Das Ausprobieren am kleinen Format einer festen MDF-Holzplatte führt den Künstler zu Farborganisationen von Flächen, die er, Brett für Brett, mit Worten versieht, immer in der gleichen – aber unterschiedlich großen – Schriftart, die in ihrem Schnitt auf eine andere Zeit verweist.
Das „Stundenbuch“, das wir hier als „Userinnen“ und „User“ in der Hand halten, enthält von den ersten Varianten – im WIENER BLOCK – Anrufungen, Selbstvergewisserungen, Versprechen, Zustandsbeschreibungen, Dankesbekundungen. Tatsächlich ganz so, wie es – seit es die Begabung des Menschen zur Transzendenz gibt – der Zustand des Gebetes kennt. Das angesprochene „Du“ ist anfangs das durch den Tod verlorene „Du“; die Bitte, erneut mit ihm zu kommen, wo doch niemand mehr körperlich da ist, die Ansage, doch „hier zu sein“, das Versprechen, „deine Erinnerung zu sein, dein Museum“, der Schmerz, „es nicht mehr tun zu können“, das Weinen um den anderen, das schmerzliche Gefühl des Vermissens, das Ausstoßen des Wortes „Liebe“, das Versprechen, Ausschalten und Anschalten, die Ruhe, das Verlangen, die Selbstlosigkeit, die Stille, Dein Lächeln, ein „Danke“. All das ist aber nicht einfach eine biografische Abarbeitung, vielmehr eine allgemeine Erfahrung, wo jede und jeder an unterschiedlichen Worten „abbiegt“. Und zur Erkenntnis kommt: „Die Welt, das bist Du“. Plötzlich, die Erfahrung, die Gewissheit: „Es gibt mehr“. „Es muss mehr geben.“ Doch zugleich der Schmerz: „Wo nur bist Du?“ Und die Ahnung, dass „Du meine Erinnerung bist, nicht mehr ich Deine.“ Eine derartige Anwesenheit besänftigt.
Allmählich sinkt die anfangs sehr stark abgearbeitete Trauer auf eine tiefere Ebene ab, die mehr und mehr den Charakter des Tragens und Getragen-Werdens hat. Es fallen Einzelworte wie „Tod“, „Glaube“, „Gott“, „Herz“, „Heimat“, „Leben“, „Vertrauen“. Erinnerungen tauchen immer wieder auf, an den „endlosen Sommer“ und an die „Helle“, ein Gefühl des Loslassenkönnens („Du kannst gehen, dorthin“) macht sich breit, ein Gefühl von Dankbarkeit stellt sich ein, eine Art Selbstvergewisserung, nicht mehr zu klagen, allmählich zu „wissen, wie das Leben (wieder) geht“, eine kleine Form von Sicherheit für das eigene Ich. Es sind quasi „vorgesagte“ Sätze für dieses Ich, das prekär und noch verwundet ist: „Ich akzeptiere ‚es‘ mit einem Fluidum von Dank.“ „Ich bin ein Teil von Dir.“ „Ich bin Du.“ „Ich höre Deine Stimme“. Das noch immer trauernde Ich sagt sich das „langsam und sorgfältig“ vor; es kann auch „ohne Worte sprechen“. Das ist bereits wieder eine An-Rede, eine An-Sprache, ähnlich wie: „Schau mich an.“ Das ist noch eine Anrede an das verlorene Du, aber vielleicht auch zugleich eine gewonnene, im Sinne eines transzendierten Du. Es ist auch ein Zuspruch von dort: „Hör dich selbst.“
Im letzten Werkblock dieser als „Schrift-Ikonen“ zu bezeichnenden Bilder wird die existenziell durchgearbeitete Trauer der bisher gemalten Serie, die schon im I. HINDINGER BLOCK den zunehmenden Charakter einer transzendierten Du-Erfahrung hatte – mit Anrede, Anrufung, Dank, Fragen, ja fast Lobpreis – in eine stille Allgemeinheit verwandelt. Es sind keine Sätze mehr, keine Fragen, keine Behauptungen, keine Zusprüche für sich selbst, es sind nur mehr einzelne Worte, die etwas und gleichzeitig alles bezeichnen, wozu Leben im Stande wäre, ist oder sein wird, mit seiner Sehnsucht, Herkunft, Beziehungsfähigkeit, seinen Emotionen und der Hoffnung auf ein wortloses Verstehen: „Irgendwo“, „Anfang“, „Kontemplation“, „Korrektur“, „Traum“, „Ende“, „Ewigkeit“, „Alles“, „Existenz“, „Vater“, „Angst“, „Gefühl“, „Hören“, „Himmel“, „hier“, „Hoffnung“, „Freude“, „Zärtlichkeit“, „Barmherzigkeit“, „Mutter“, „Nichts“, „Jetzt“, „Schau“, „Einfachheit“, „einmal“, „Geist“, „Berührung“, „Verstehen“, „wortlos“.
Die – noch einmal sei dieses Wort verwendet – „Schrift-Ikonen“ von Heribert Friedl sind gleich-zeitig auch das, was der Titel vorgibt zu sein: Gedichte. Das Schreiben ist in letzter Zeit eine neue künstlerische Ausdrucksform des Künstlers geworden. So sind sowohl Bilder als auch farblich gestaltete Buchseiten in diesem „Büchlein“ gebunden versammelt. Als Bilder haben sie einen sinnlichen Materialitätscharakter, der das zu vermitteln vermag, was so vielfach nicht mehr zu vermitteln ist: Eine Erfahrung tief empfundenen Glaubens. Friedl fasziniert die Reduktion und ist in der Lage zu zeigen, dass dort, wo nichts da ist, die unendliche Größe durchscheint, ganz im Sinne dessen, was Simone Weil über die Interpretation von Bildern schrieb: „Es gibt nur eine Methode, Bilder zu verstehen – sie nicht versuchen, sie zu interpretieren, sondern sie so lange anzuschauen, bis das Licht hervorbricht.“[3]
Hinter dem Nullpunkt öffnet sich erst das Ganze. Die Bilder sind eine Ermutigung, nicht mehr so viel zu überhören wie bisher, sich vielmehr mit der Frage vertraut zu machen, wo wir hinkönnen, wenn einem alles genommen ist und wenn scheinbar nichts mehr da ist.
Der Künstler traut dies allen zu: „Sich nicht zuschütten lassen, auszusteigen, wenn es notwendig ist, hineinzuhören, nur tun, was wirklich notwendig ist: Jede und jeder kann das, auch wenn wir alle in Systeme eingebunden sind …“[4]