Film der letzten Zuflucht ist als eine Reise zu verstehen. Der filmische Weg geht dabei der Frage nach, wie innere Schutzräume erreicht werden können, die letzten Spannungen Raum geben. Die Reise folgt der Erinnerung eines Vaters, der sein Leben eingesetzt hat, um seinem Adoptivsohn eine Erfahrung von Zuflucht zu geben. Diese Vater-Sohn-Geschichte ist wie ein roter Faden durch die dokumentarisch-poetische Filmerzählung, die in ihrem Verlauf verschiedene (parallele) Suchbewegungen beschreibt, aber auch Zwischenstationen erreicht: eine Palliativstation, eine Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Begegnung mit einer Frau, deren letzte Zuflucht die Sprache geworden ist.
Begleitet wird diese Reise von der Theologin und ehemaligen Äbtissin Sr. Luitgardis Hecker, der Schriftstellerin Felicitas Hoppe und dem Philosophen Thomas Macho. Den Spuren ihrer persönlichen Erfahrungen folgend, beschreiben sie zentrale Dimensionen (letzter) Zufluchtsbewegungen.
Film der letzten Zuflucht reflektiert nicht nur die Herausforderungen des „Zufluchtgebens“, sondern zeigt in der Betrachtung vertikaler Migrationsbewegungen, dass die Suche nach Zuflucht eine Bedingung des Menschseins ist.
Auszug aus: Johannes Rauchenberger, Film der letzten Zuflucht, Eröffnungansprache bei der Premiere des Films in der Katholischen Akademie in Berlin, 7.10.2020
Gleich vorweg: Dieser Film ist hart zu ertragen. Er dauert zwar im Gegensatz zu seiner älteren Schwester, dem „Film der Antworten“ nicht vier, sondern nur zwei Stunden, doch wenn man ihn gesehen hat, hatte man auch hier das Gefühl einer ganzen Ewigkeit. Ich gebe zu, dass ich anfangs, als mir von Thomas Henke – es war um Weihnachten 2018 – dieser Filmessay angeboten wurde, lange gebraucht habe, um überhaupt diese zwei Stunden freizuschaufeln, nachdem ich kurz hineingehört hatte, denn als Berieselung taugt er nicht. Die Zeit muss zur Verfügung stehen. Doch dann entschied ich sehr rasch und setzte ihn in der Karwoche des darauffolgenden Jahres als einen großen Schwerpunkt mit dem Titel O* im KULTUM in Graz an. Es ging auch um die Besetzung von Zeit, der Passionszeit, hinein in den Karfreitag und hinein in den Karsamstag, in dessen Zeit dieser Film seinen wirklichen Ort hat. Das war die „Preview“. Ich habe diesen Film damit vermutlich nun fast zehn Mal gesehen. In Stunden umgerechnet sind es nahezu zwanzig, in denen ich mit diesen letzten Fragen unmittelbar konfrontiert war. Heute nennen wir die Vorführung die „Premiere“. Ich sage das, weil es nicht nur die Zeiträume markiert, die es gebraucht hat, den Filmessay in den unzähligen kairotisch zu nennenden Gesprächen einzufangen, sondern auch jene, ihn zu zeigen. Dazu braucht es Orte, Menschen, die bereit sind, sich den Themen, denen sich dieser Film stellt, ebenso zu stellen: Für Kinos taugt dieser Film offenbar nicht.
Im Film der letzten Zuflucht geht es um Tod, um Liebe, die zerstört werden muss, es geht um Sprache, die selbst in der letzten Zuflucht genommen werden kann, es geht – wie in unserer notwendigen Gegenwartsdebatte nicht nur um horizontale – sondern um vertikale Fluchtbewegungen. Es geht also um letzte, oder wie das die christliche Theologie über mehr als 1000 Jahre reflektiert hat, um eschatologische Fragen: Wo finden wir die letzte Zuflucht? Wo werden wir die letzte Zuflucht finden? Wo können, dürfen, sollen wir die letzte Zuflucht finden?
Der Film setzt ein, als wäre man in einer toten Stadt. Es kommen Metallgehäuse ins Bild, übereinander geschachtelt, mit Öffnungen, Fenster, Türen. Menschenleer, ohne Inhalt, nur Hüllen. Der Ton ist dem kosmischen Rauschen entnommen. Es ist jener Ton, den die NASA von der Sonne aufgenommen hat. Und im Abspann erfährt man es auch: „METROPOLAR – exit city“ von Lorenz Estermann. Die „Zufluchtsstatt“ kommt immer wieder, ganz ephemer, ins Bild. Sie ist (noch) unbewohnt. Oder ist sie ein Ort, wo die Menschen, die hier in diesem Film zu Wort kommen, Zuflucht suchen (werden)? Die Frage ist nicht von ungefähr, denn bald wird man gewahr, dass die Portraits, die hier von Thomas Henke ins Bild gesetzt werden, nicht einfach direkt wiedergegeben sind, sondern anfangs – und immer wieder – auf Wänden projiziert sind und zwar in Raumsituationen von offensichtlichen Gebäuderuinen. Projektion an Wänden: In Vor-Projektionszeiten der Menschheit hätte man zumindest seit Platon dazu wohl „Schatten“ gesagt.
Die Rahmenhandlung ist eine Reise, die von einem Vater erzählt, der zu Beginn des Films in ein kleines Wohnmobil steigt, in dem er fortan bleiben – und erzählen wird, die ganzen zwei Stunden über. Er, ein unscheinbarer älterer Herr mit gepflegtem weißen Bart, wird sozusagen zum „Star“ des ganzen Films. Es muss, so hat es mir der Künstler erzählt, ein absoluter Kairos gewesen sein, dass er seine Geschichte erzählt. Mit diesem Reisemobil hat er und seine Frau mit ihrem Adoptivsohn viele Reisen gemacht. Das ist die Story. Nicht mehr. Doch innerhalb dieser lapidaren Feststellung liegt ein, sein, ihr ganzes gemeinsames Leben. Ein Leben vollster Hingabe an ein Kind, das sie zu „sich genommen“ hätten. Diese Vater-Sohn-Geschichte durchzieht die dokumentarisch-poetische Filmerzählung wie ein roter Faden. In ihrem Verlauf wird sie verschiedenste (parallele) Suchbewegungen beschreiben, aber auch Zwischenstationen erreichen: eine Palliativstation, eine Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Begegnung mit einer Frau, deren letzte Zuflucht die Sprache geworden ist, obwohl ihr – bedingt durch ihre Erbkrankheit – diese Sprache mehr und mehr genommen wird, so sehr, dass nur mehr ihre Sprach-Therapeutin sie für uns übersetzen kann. Und schließlich kommt auch eine ehemalige Äbtissin ins Bild und zu Wort (Mutter Luitgardis Hecker aus der Benediktinerinnen-Abtei Mariendonk), die eine letzte Zuflucht aus der Perspektive christlicher Spiritualität und auch spekulativer Theologie beschreibt, sowie die Berliner Schriftstellerin Felicitas Hoppe und der Wiener Philosoph Thomas Macho, der über Todesriten vor Jahrzehnten sogar seine Habilitation verfasst hat. Der Spur ihrer persönlichen Erfahrungen folgend, streuen sie in der Gesamtdramaturgie des poetischen Filmessays zentrale Dimensionen (letzter) Zufluchtsbewegungen ein.
Der Beginn ist also eine Erinnerung: Eine Liebe zu Kindern – vor allem zu solchen, die keine Eltern haben, sei es, dass es diese nicht gibt, sei es, dass diese sie zur Adoption frei gegeben haben. „Der Vater“ hatte sich, wie er aus seiner Erinnerung holt, schon immer gewünscht, „ein Kind zu sich zu nehmen“, selbst wenn sie kein eigenes bekommen könnten, wie er sagte. Da ist soviel Vertrauensüberschuss für das Leben dabei, die es, ja, trotz aller Verzweiflungen, die dieses Leben auch mit sich bringen können, gibt. Und dieser Vater ist einer davon. Eigene Kinder konnten sie – also seine Frau und er – keine bekommen. Und so entschieden sie sich nach einem langen Entscheidungsprozess zur Adoption.
Irgendwann war es so weit. Sie waren gut vorbereitet, sagt er, auch dazu, dass sie als zukünftige Eltern auch zur Projektionsfläche werden würden für all das, was ihr zukünftiges Kind bereits an Traumata in seinem Leben erlebt haben würde, das sind also Erfahrungen, die „wir nicht zu verantworten haben, die wir nicht herbeigeführt haben, die wir aber aushalten und verarbeiten müssen“ (2:50).
Und dann beginnt die Reise des Erzählens aus der Perspektive des Rückblicks. Um die Spannung gleich einmal raus zu nehmen: Das „Kind“, das während der Zeit des Drehs bereits ein 18-jähriger Jugendlicher ist, will sich das Leben wieder nehmen. Sein ganzes Leben erscheint als eine Art von Selbstvernichtung. Das ist die Voraussetzung dieser Erzählung: Eine Perspektive des – nach menschlichem Ermessen formulierten – Scheiterns. Ein ganzes Leben elterlicher Hingabe liegt zurück. Mit dreizehn rutscht das „Kind“ ins Drogenmilieu ab, wenige Zeit später landet es auf der Straße, das Kind also, in das man über all die Jahre seine ganze Liebe hineingesteckt hatte. Doch auch das sei vorweg gesagt: Selbst dieses „Scheitern“ wird in der poetischen Erzählung des Regisseurs, der eine derartige Geschichte erst einmal finden (!) muss, transzendiert. So sehr, und ich lehne mich dabei sehr weit hinaus, dass dieser Film auch einen zeitgenössischen Beitrag zur langen Geschichte des christlichen Gottesbildes leistet. Der „weiße Mann mit Bart“, den man in der Diskussion um Bilderverbot und Gottesbilder so leichtfertig und zynisch – auch in der Theologie! – aus dem Gedächtnis fegen wollte, hat hier einen Kontrapunkt erfahren, den man nicht mehr so schnell löschen sollte. Der Film erzählt von Liebe, Nachsicht, vom Tragen der Last, von Schuld, von Zurückweisung und nicht zuletzt von Gnade. Die Bedingung dafür freilich ist: Sich zwei Stunden des Lebens im üblicherweise übervollen Terminkalender Zeit zu nehmen, sich diesen Film tatsächlich auch anzuschauen.
Finden: Der Mann, besser gesagt: der „Vater“ (Wilhelm Völcker-Janssen), der so unendlich gütig spricht, wie er aussieht, ist schon – das wird sich, wie schon oben angedeutet, im Film wiederholen – als Projektion in einem Raum abgebildet. Dieses filmdramaturgische Verfahren verknüpft diese im Film gezeigten Menschen mit jenem ephemeren Raum der „Exit City“, die wir als Betrachterinnen und Betrachter zu Beginn der Einstellung gesehen haben.
„Wir hatten immer die Situation, dass die Geborgenheit gebrochen werden musste. Ich habe sehr lange gebraucht, zu verstehen, dass jemand eine Geborgenheit auch nicht aushalten kann. Dass man sie zwar genießen kann, aber dass man sie am Ende wieder zerstören muss… weil man es nicht aushalten kann…, weil man es vielleicht auch nicht verdient hat. Das war unser tägliches Brot: Dass wir am Ende eines schönen Erlebnisses auch erfahren mussten: Es ist unerträglich.“Liebe, die nicht ausgehalten werden kann, Geborgenheit, die gebrochen werden muss, Schönheit, die zerstört werden muss: An dieser Erfahrung der Ablehnung, der Zerstörung, sitzt ein Mann gegenüber, der trotz all dem, was er und seine Frau erfahren hat, nicht zerbrochen ist, sondern verstehen will, was passiert ist.
So kommt denn auch der Satz, der unendlich weh tut: „Er wollte sterben, letztendlich, in Gedanken. Das ist erst einmal ein Gedanke, den man akzeptieren muss“ (15:37). Und weiter: „Man muss akzeptieren, dass es diesen Wunsch gibt, vielleicht nicht zu existieren.“ (16:00)
Thomas Henke führt uns mit diesem Satz in die Räume einer Jugendpsychiatrie, wo eine junge Frau von ihren Angst- und Abgrunderfahrungen erzählt. Es ist das erste szenische Intermezzo für die Rahmenhandlung, dem noch weitere folgen werden, die unterschiedliche Zugänge und Interpretationsmuster letzter Zuflucht spiegeln – Sprache, Theologie, Philosophie, Poesie. Doch zunächst ist das ganz harte, scheinbar ausweglose, verzweifelte, aber vor allem junge Leben an der Reihe: Ein heranwachsendes Mädchen – STELLA – kommt ins Bild, mit Pickeln übersät, doch ist sie im Stande, sehr klar von ihrer seelischen Not zu sprechen: „Ich sage auch ganz oft, mein Körper lebt zwar noch, aber meine Seele, die ist tot.“ (17:39) Selbstverletzung sieht sie als Ausdruck von Selbstbestrafung: „Ich habe mich eine lange Zeit selbst verletzt, ich habe es dann an mir ausgelassen“ (18:14). Der Grund für diese Selbstverletzung: Schuldgefühle sich selbst gegenüber. Die Mutter hatte sie im Kindesalter an einen Pädophilen „verkauft“. „Ich dachte, ich bin daran schuld, also habe ich es an mir ausgelassen.“
Natürlich, sie denke auch an Zukunft, dass sie einmal etwas erreichen wolle, vielleicht einmal eine neue Familie gründen wolle…, doch die Möglichkeit, aus dem Leben auszuscheiden stehe immer wieder an. Und dann, der Gegeneinwand: „Wenn ich jetzt sterben gehen würde, dann tue ich ja auch meiner Familie weh.“
Die Frage des „Warum des Leids“ im Existenziellen wie im Politischen ist so alt wie die Menschheit selbst, das Buch Hiob, die Pestepidemien des späten Mittelalters, das Erdbeben von Lissabon, die gegenwärtige Weltsituation der Corona-Pandemie sind nur vier grobe Zwischenstationen der Reflexion darüber. Wenn die dunkle Nacht auf ein Menschenleben trifft, so ist nur dieses so wichtig wie der Rest der Welt: „Warum hat mich das getroffen?“ (18:53), sagt dieses Mädchen, das so offensichtlich nicht glücklich werden darf. Ja, es stimmt sie traurig, dass andere so ein gutes Leben haben.
In diesem ersten Eintauchen in die Depression hat Thomas Henke freilich nicht auf die Natur vergessen, auf das unwiderstehliche Werden im Frühling, und so werden die Apfelblüten des Frühlings nicht nur real gefilmt, sondern auch in die abbruchreifen Gänge projiziert. Die psychische Enge, die dieses Mädchen erlebt und in ihrem Interview zur Sprache bringt, wird durch diese Bilder unterstützt. Und dann, ein kleines Funken Frühling: Was könnte in der Situation psychischer Enge helfen, aus ihr zu entfliehen? Was ist eine „letzte Zuflucht“ für dieses Mädchen? „Wenn es mir dann gelingt, das Zimmer aufzuräumen, versuche ich mich hinzulegen und mir vorzustellen, dass es einen ganz sicheren Ort gibt.“ Sie stellt sich den Ort vor, schließt ihn ab, geht etwas kochen, dreht das Licht an, LEDs…, spielt mit seiner Katze (20:52).
Der Jugendpsychiater (Fritz Handerer), den Thomas Henke in der Folge vor die Kamera holt, redet nicht um den heißen Brei herum: Er ist mit Geschichten konfrontiert, die jedes menschliches Vorstellungsvermögen sprengen, gerade, wenn es Situationen gibt – und es gibt sie – dass Schicksalsschläge, Schwersterkrankungen, Todesfälle kumulieren: „Vielleicht ist die Zuflucht dann: Sich ergeben“ (26:25), sagt er ohne falsches Trostgerede. Er räumt auch mit einem Imperativ der Therapiegesellschaft auf, alles zu besprechen, den Verdrängungen der Seele ihr ungebetenes Licht zu geben: „Es gibt auch ein Recht auf Nichtwissen. Es gibt auch ein Recht, in meiner Zufluchtswelt zu bleibe.“ (24:23). Verdrängung, sagt er, sei etwas „ganz, ganz Wichtiges… Die Fähigkeit zu verdrängen ist die existenzielle Grundlage unseres Lebens“ (25:09).
Nachdenklichkeit stellt sich ein, wenn er darüber nachdenkt, warum die Kinder, mit denen er konfrontiert ist, so unendlich traurig sind. „Der Egoismus der Erwachsenen, dem die Kinder in so verschiedenen Formen ausgeliefert sind, ist eigentlich der, der mich verzweifelt macht.“ (27:26)
An dieser Stelle setzt Klaviermusik ein. Das Stück, zerreißend gespielt vom Pianisten Claudius Tanski – er ist Professor für Klavier am Mozarteum in Salzburg – ist vom Regisseur im Schnitt wohl mit Bedacht gewählt (27:35 – 28:40). Ein Klagelied, vertont von Johann Sebastian Bach (BWV 639), während die Kamera durch den Park schweift. Bach-Kenner wissen zu der Melodie auch zu texten: „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, ich bitt, erhör mein Klagen; / verleih mir Gnad zu dieser Frist, / laß mich doch nicht verzagen. / Den rechten Weg, o Herr, ich mein, / den wollest du mir geben, / dir zu leben, / mein'm Nächsten nütz zu sein, / dein Wort zu halten eben.“
Was man freilich nicht hört, ist der Text selbst. Dafür schwebt die Erinnerung des „Vaters“ an den kleinen Sohn herbei, dass dieser sich als kleines Kind Welten gebaut habe, „Welten aus Spielzeug und Tieren, keine Menschen. Tiere, die keine Emotionen kennen: Insekten, Amphibien, Reptilien. Tiere, bei denen es keine Liebe gibt, wo das Neugeborene sofort selbstständig, ist, wo es keine Mutter-Liebe, kein Erziehen, kein Aufwachsen gibt…“ (29:00). Es waren anarchische Welten, in denen es keine Ordnung ab, die ihn aber fasziniert hätten.
Die Beschäftigung mit diesen Tieren war in den ersten Jahren der Lebensinhalt dieses Knaben. Das Davorsitzen, wie die Libelle aus ihrer Wasserhaut schlüpft… „Es war ein ganz tiefes Einsinken“, erinnert sich der Vater.
Dieses Erlebnis entstehenden Lebens hätten sie immer wieder nachgespielt: Die Libelle, der Schmetterling… „wie er aus der Bettdecke meiner Frau hervorkroch und ein Schmetterling war… Ich weiß nicht, wie oft wir dieses ‚Geboren-Werden‘ gespielt haben…“ (33:08) Über das Leben zu staunen, auch wenn sein geliebter Sohn am Ende eben dieses Leben nicht mehr wollte: Das ist die Erinnerung in diesem Filmabschnitt.
Die nächste Unterbrechung im Fortgang des Films kommt von einer Nonne. Sie spricht wie aus einer anderen Welt. Eine ehemalige Äbtissin aus der Benediktinerinnen-Abtei Mariendonk, die schon im „Film der Antworten“ und später bei den „eschatologischen Portraits“ 1.13 eine der tragenden Rollen gespielt hat, beschreibt aus der Erfahrung ihres kontemplativen Lebens, das sie dem Gebet und der theologischen Wissenschaft gewidmet hat, den „inneren Raum“, den jeder, wirklich jede und jeder – sagt sie – habe. Jeder Mensch sei ein ganz eigenes Wesen, ganz anders als jede und jeder andere. Man könne dem anderen letztlich keinen Schutz gewähren, weil einem der andere an irgendeiner letzten Stelle fremd bleibe. Und Fremdsein erzeuge Angst: „Unser erster, innerster Schutzraum sind wir selber“ (35:07).
Mutter Luitgardis ist sich sicher – und an dem Punkt rutscht die so gewählt Formulierende sogar in den Dialekt ab: „so sag‘ ich mal, weil ich ja glaub‘, ja??“ (35:42) – dass jeder Mensch von „Gott, diese Einmaligkeit bekommen hat, in der er diesen Raum hat, den er wirklich braucht“ (35:58). Gott, so meint sie, schütze diese Einmaligkeit und deshalb sei er auch der einzige, der diesen Schutz gewähren könne.
Das mag spekulativ und spirituell bewegend sein, im Schnitt des Films ist das freilich eine starke Aussage: Was ist aber mit jenen, die diesen Raum wie das Mädchen vorhin als einen einzigen Raum der Angst erleben? Den Grund für die Ängste sieht die spirituelle Frau im „mangelnden Wissen um ihre Einmaligkeit“ (37:30), bis hin zur „Sucht, jemand anderer sein zu wollen“. Schutzraum für den anderen könne man nur sein, wenn man den ureigensten Schutz- und Freiraum für den anderen lasse. Man könne helfen zu öffnen, hineingehen aber könne und dürfe man nicht. Selbst „in der Folter und in der Gehirnwäsche bleibe der Mensch noch etwas ganz einmaliges“ (38:48). Nein, sagt sie, der Zuspruch des einzigen Garanten für diesen eigenen Schutzraum sei: „Du bist einmalig, du bist geliebt. Und dieses Vertrauen wächst, dass der mir das sagt, weiß, dass es so ist.“ (38:55). Letztlich, sagt sie, sei das der Weg der Liebe, aber einer Liebe, die den anderen in diesem Freiraum respektiere und in diesen Innenraum freilasse.
Auszug aus: Johannes Rauchenberger, Film der letzten Zuflucht, Eröffnungansprache bei der Premiere des Films in der Katholischen Akademie in Berlin, 7.10.2020