Urzelle und Kreuz | Primordial Cell and Cross

Stadtpfarrkirche, Graz

„Meine Arbeit ist das Sichtbarmachen einer aus Gegensätzen geformten Einheit. Im Kreuzen von Linien, Flächen und Körpern liegt die Dynamik des Lebens, die zum Kreuz führt“, schrieb der steirische Künstler Fritz Hartlauer (1919–1985) über seine künstlerisch-spirituelle Suchbewegung, die er selbst als Forschungsarbeit bezeichnete. Zunächst ohne kirchlichen Auftrag hatte er als Autodidakt zu einer streng-reduzierten, konzeptuellen künstlerischen Formensprache gefunden, in der wie selbstverständlich und eigengesetzlich schließlich das Zeichen des Kreuzes auftauchte. Begonnen hatte er 1948 mit der Analyse des menschlichen Kopfes und war durch zunehmende Abstrahierung zu sich kreuzenden Liniensystemen und schließlich zur oktogonalen „Urzelle“ gelangt, die er als Metapher für den Zusammenhang und Zusammenhalt des Schöpfungsganzen verstand. Die wuchernden Liniengeflechte konnten sich zu Mandalas verdichten oder Kreuzformen erzeugen. Immer wieder tauchen wie Vexierbilder auch figurative Anspielungen einer menschlichen Gestalt, eines Gesichts oder Flügels aus den Strukturen auf, die den Zusammenhang von Menschlichem und Tierischem, Organischem und Anorganischem anklingen lassen. Fritz Hartlauer wollte mit seiner Kunst zur Meditation des Schöpfungsganzen hinführen. Im Zellenmotiv, von dem er die ganze Schöpfung durchdrungen sah, zeigten sich ihm Mensch und Natur in einer spirituellen göttlichen Ordnung verankert und bleibend verbunden. Hartlauers Stahlgitter trennen in der Grazer Stadtpfarrkirche das sogenannte Johannesschiff vom Hauptraum der gotischen Hallenkirche. Dieser älteste Teil der Kirche, der heute auf die barocke Sakramentskapelle zuläuft, war ursprünglich als eigenständige Kirche des ehemaligen Dominikanerklosters erbaut und erst später in die bestehende Raumstruktur eingefügt worden. Er dient als Werktags- und Sakramentskapelle. Es fügt sich, dass Hartlauers Gitter als luzide Seitenwand einen Raum des Gebetes begrenzen, der den ganzen Tag über bis spät in die Nacht von Gläubigen zum kontemplativen Innehalten und Verharren vor dem Tabernakel aufgesucht wird.

Alois Kölbl