Wilfried Gerstel hat in den letzten Jahren umfassende Zyklen vorgelegt, die mittelalterliche Reliefs und Tafelbilder mit Heldenfiguren aus modernen Comics verbinden und daraus subtile Interferenzen alter und neuer Erlöserfiguren herstellen. In der hier gezeigten Doppelarbeit bringt er seine ursprüngliche Ausbildung als Keramiker in Anschlag, um diverse Tonfliesen, die reihenweise in einem Stahlgerüst aufgefädelt sind, mit einer besonderen Bearbeitung zu präsentieren: Aus der Nähe betrachtet lassen diese Fliesen Lichtfunken durch – wie Sterne in der Nacht. Aus der Ferne sind das christliche Gebet des „Vater Unser“ und die erste Sure des Korans zu lesen, und beide Gebetstexte stehen friedlich nebeneinander. Doch diese „Lochkarten“ tragen merkwürdige Spuren ihrer Entstehung: In den nassen Tonfliesen eingeschossen, werden diese Löcher von weitem zu leicht lesbaren Buchstaben. Vor den beiden Tafelwänden liegt eine Rinne, in der die Patronen gesammelt sind. Dem Missbrauch von Religion, der inhärenten Gewaltlogik im Gewand des Sakralen, setzt Gerstel eine Arbeit entgegen, die das performative Reden in der Sprache des Gebetes mit einem Handeln verbindet, das jenem aufs Tiefste entgegensteht. Das „Vater Unser“, das Heiligen seines Namens und die Akzeptanz seines Willens, das Bitten um Brot und um Vergebung, das eigene Vergeben der Sünden anderer vertragen sich ebenso wenig mit dem hier vollzogenen „Schreiben“ wie die erste Sure des Korans: „Im Namen Allahs des Gnädigen, des Barmherzigen: alles Lob gebührt Allah dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts: Dir dienen wir und bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast und die nicht deinem Zorn verfallen sind und nicht irre gehen. Amen.“ Der Wiederkehr der Religion im Gewande der Gewalt wird hier ein Kunstwerk entgegengestellt, das seine therapeutische Kraft im widersprüchlichen Nachvollzug des Sprechaktes selbst entwickelt.