Museum: Raum 05

Wilfried Gerstel: DER ZERSCHOSSENE HIMMEL, ODER: DAS VATERUNSER UND DIE ERSTE SURE DES KORANS, 2007

Wilfried Gerstel hat in den letzten Jahren umfassende Zyklen vorgelegt, die mittelalterliche Reliefs und Tafelbilder mit Heldenfiguren aus modernen Comics verbinden und daraus subtile Interferenzen alter und neuer Erlöserfiguren herstellen. In der hier gezeigten Doppelarbeit bringt er seine ursprüngliche Ausbildung als Keramiker in Anschlag, um diverse Tonfliesen, die reihenweise in einem Stahlgerüst aufgefädelt sind, mit einer besonderen Bearbeitung zu präsentieren: Aus der Nähe betrachtet lassen diese Fliesen Lichtfunken durch – wie Sterne in der Nacht. Aus der Ferne sind das christliche Gebet des „Vater Unser“ und die erste Sure des Korans zu lesen, und beide Gebetstexte stehen friedlich nebeneinander. Doch diese „Lochkarten“ tragen merkwürdige Spuren ihrer Entstehung: In den nassen Tonfliesen eingeschossen, werden diese Löcher von weitem zu leicht lesbaren Buchstaben. Vor den beiden Tafelwänden liegt eine Rinne, in der die Patronen gesammelt sind. Dem Missbrauch von Religion, der inhärenten Gewaltlogik im Gewand des Sakralen, setzt Gerstel eine Arbeit entgegen, die das performative Reden in der Sprache des Gebetes mit einem Handeln verbindet, das jenem aufs Tiefste entgegensteht. Das „Vater Unser“, das Heiligen seines Namens und die Akzeptanz seines Willens, das Bitten um Brot und um Vergebung, das eigene Vergeben der Sünden anderer vertragen sich ebenso wenig mit dem hier vollzogenen „Schreiben“ wie die erste Sure des Korans: „Im Namen Allahs des Gnädigen, des Barmherzigen: alles Lob gebührt Allah dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts: Dir dienen wir und bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast und die nicht deinem Zorn verfallen sind und nicht irre gehen. Amen.“ Der Wiederkehr der Religion im Gewande der Gewalt wird hier ein Kunstwerk entgegengestellt, das seine therapeutische Kraft im widersprüchlichen Nachvollzug des Sprechaktes selbst entwickelt.

Der zerschossene Himmel, oder: Das Vaterunser und die erste Sure des Korans, 2007, Installation, 2-teilig, schwarze durchschossene Tonfliesen, 2 Metallrahmen, 2 Projektilwannen, 201x128x40 cm und 201x106 x40 cm, Courtesy Privatsammlung, Aus der Ausst | Wilfried Gerstel

Wilfried Gerstel

geboren 1966 in St. Anna am Aigen, Österreich, lebt und arbeitet in Wien und Berlin. Gerstel absolvierte das Studium der Rechtswissenschaften in Graz und Wien. Er gewann zwei Mal den Salzburger „Keramik-Preis“ und 2012 den Grand Prix UNICUM auf der II. International Ceramic Triennale in Maribor. Seine Skulpturen sind bei Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Seine Arbeiten wurden u.a. am Austrian Cultural Forum London und im MAK Wien ausgestellt. Im KULTUM wurde Gerstel in den Ausstellungen „Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ (2003), „RELIQTE“ (2010) und „IRREALIGIOUS! Parallelwelt Religion in der Kunst“ (2011/12) gezeigt.

born in St. Anna am Aigen, Austria, in 1966; lives and works in Vienna and Berlin. Gerstel studied Law at the Universities of Graz and Vienna. He won the “Keramik-Preis“, Salzburg, twice and the Grand Prix UNICUM at the 2nd International Ceramic Triennale, Maribor. His sculptures are on display in exhibitions in Austria and internationally. His works have been exhibited i.a. at the Austrian Cultural Forum , London, and at the MAK Vienna. Gerstel’s works were presented in the KULTUM in the exhibitions “Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ (2003), “RELIQTE“ (2010) and “IRREALIGIOUS! Parallelwelt Religion in der Kunst“ (2011).

zurück

Wilfried Gerstel: THROUGH-AND-THROUGH OR: THE OUR FATHER AND THE FIRST SURA OF THE QU'RAN, 2007

In recent years, Wilfried Gerstel presented comprehensive series of works that combine medieval reliefs and panels with heroic figures taken from modern-day comics and thus create subtle interferences of old and new figures of salvation. In the double work featured here he makes use of his initial professional training as a ceramist to present various clay tiles that are stringed in a row in a steel framework with a special treatment. Viewed up close, these tiles let through sparks of light—like stars in the night. From a distance, the Christian prayer of the “Our Father” and the first sura of the Qur’an can be read, and the two prayer texts are placed peacefully side by side. But these “punchcards” bear peculiar traces of their creation: That is, they were shot in the form of letters into the wet clay tiles so that there holes were turned into letters that could be easily read from afar. There is a gutter in front of the two panel walls that collects the spent cartridges. Gerstel confronts the abuse of religion, the inherent logic of violence in the form of the sacral with a work that combines performative speaking in the language of prayer with an act that is profoundly opposed to the latter. The “Our Father”, the hallowing of his name, the acceptance of his will, our begging for bread and forgiveness, our own forgiving of the sins of others are as incompatible with the act of “writing” performed here as the first sura of the Qur’an: “In the name of Allah, the Most Gracious, the Most Merciful: All Praise is due to Allah, Lord of the Universe, the Most Gracious, the Most Merciful. Owner of the Day of Judgment: You alone do we worship, and You alone we turn to for help. Guide us to the straight path; the path of those on whom You have bestowed your grace, not (the way) of those who have earned Your anger, nor of those who went astray. Amen.” Here, the return of religion in the form of violence is confronted with an artwork that unfolds its therapeutic force in the contradictory re-enactment of the speech act itself.

Text aus | Text from: Johannes Rauchenberger: Gott hat kein Museum. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts. | No Museum Has God. Religion in Art in the Early 21^stCentury. (IKON. Bild+Theologie, hg. von | ed. by Alex Stock und Reinhard Hoeps), Verlag Ferdinand Schoeningh, Paderbor n 2015, S. | p. 542-543.