DER DOPPELTE GAST | Àxel Sanjosé und Tristan Marquardt
Àxel Sanjosé und Tristan Marquardt
HIER SIND WIR WIR.
In Zeiten einer unglaublichen Sprachlosigkeit luden wir am 25. März 2022 zu einer weiteren Ausgabe der Literatur-Reihe DER DOPPELTE GAST mit Lesungen des katalanischen Lyrikers Àxel Sanjosé und des deutschen Dichters Tristan Marquardt.
Kann man in Tagen wie diesen – in der vierten Kriegswoche Russlands gegen die Ukraine mit unvorstellbarem Leid – überhaupt noch etwas Sinnvolles reden, kann man Sprache zur Sprache bringen? An Brechts "ich lebe in finsteren Zeiten" kann man erinnern, Barbara Rauchenberger machte bei der Lyrikeinführung aus dessen berühmtem Gedicht „An die Nachgeborenen“ ein "WIR LEBEN in finsteren Zeiten". Aber nun „taugt“ auch diese (gut eingeübte und geprobte) so geläufige Zeile nicht mehr und es ist die Erfahrung, dass Sprache plötzlich sich zu entziehen beginnt, je DÜNKLER und SCHWÄRZER es wird ...
Ist die Sprache auf verlorenem Posten?
Gottfried Benn beschrieb es so: „Man kann es nicht anders ausdrücken: Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe und der Dichter muss seine Mitte wahren, und zwar ‚der Gebrechlichkeit der Welt halber‘, denn sie sucht nach dem Dichter und nach seinem Rand, seiner Ordnung, seiner Deutung und nach seiner Verlorenheit.“
Barbara Rauchenberger führte in das Werk der beiden Lyriker ein.
Àxel Sanjosé las aus seinem dritten Gedichtband „Das fünfte Nichts", Tristan Marquardt aus seinem tiefgründigen, mehrstimmigen Gedichtband „scrollen in tiefsee“...
Der doppelte Gast: Àxel Sanjosé und Tristan Marquardt
Einführung von Barbara Rauchenberger am 25. März 2022
Herzlich willkommen nach einer doch sehr langen Veranstaltungspause. Und einem immer noch währenden Gefühl, „auf der Lauer“ liegen zu müssen und seit Ende Februar erneut sich zurechtfinden zu müssen „in dieser AKTUELLEN Menschheitsdämmerung und Morgenröte“, in der wir nicht wissen wann es wieder bleiern und still werden wird ...
Sie merken, ich nehme einen Umweg in der Hoffnung SO ETWAS LUFT zu bekommen für heute Abend mit zwei Dichtern, die (so erscheint es mir) doch sehr ganz unterschiedlich „Welt und Wirklichkeit“ betreten und beschreiben.
Aber vorerst zurück auf den kurzen Umweg:
wir leben in finsteren Zeiten: Das ist eine Brechtzeile aus seinem berühmten Gedicht „An die Nachgeborenen“. Ich habe sie leicht modifiziert und aus dem ich lebe ein WIR LEBEN gemacht und vielleicht ist das der weibliche Blick einer tatsächlich Nachgeborenen, also einer die zwischen 1934 und 1938 (in diesen Jahren entstand dieses Gedicht) noch weder eine Mutter oder einen Vater hatte, die oder der schon auf der Welt gewesen wären …
Aber plötzlich „taugt“ auch diese (gut eingeübte und geprobte) so geläufige Zeile nicht mehr und es ist die Erfahrung, dass Sprache plötzlich sich zu entziehen beginnt, je DÜNKLER und SCHWÄRZER es wird ... Schon als Kind machte ich die Erfahrung, dass das Wort Schnee – spricht man es in der Nacht aus – anders klingt als am helllichten Tag ...
Die Sprache ist also irgendwie immer auf „verlorenem Posten“ und der Dichter sieht zu (so jedenfalls formulierte es ein anderer Zeitgenosse Brechts, Gottfried Benn) wenn er schreibt:
„Man kann es nicht anders ausdrücken: Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe und der Dichter muss seine Mitte wahren, und zwar ‚der Gebrechlichkeit der Welt halber‘, denn sie sucht nach dem Dichter und nach seinem Rand, seiner Ordnung, seiner Deutung und nach seiner Verlorenheit.“
Ich suche also, wie sie unschwer heraushören können, nach einem GRUND WEITERHIN AUFS WANKENDE DENKENDE (dichtende) SCHILFROHR ZU BLICKEN ….
Àxel Sanjosé
Mit Axel Sanjose, dem heuten Gast, haben sie doch wie ich meine alles unter einem „Sprachhut“: den Rand, die Ordnung, die Verlorenheit und keinen Deut zu viel …
Àxel Sanjosé ist ein großartiger Dichter. Einer, der die Fähigkeit hat, bewundernswert leise Gedichte zu schreiben, die lange nachhallen, und die eine Schönheit besitzen, die man kaum angemessen beschreiben kann. Das ist verständlich, denn die Schönheit der Poesie zeigt sich, weil man sie empfindet und gleichzeitig dabei auch empfindet, dass das, was da zu lesen ist, nicht willkürlich ist. Einige Kostproben:
Stahlblau ragt die leere Schale Himmel ins Gehirn
Hinterm Hof liegt begraben die Zukunft, ein Hund
Die Glocken schlagen zur Non, kein Abstand. (Wie sanft es bebt.)
Mit „Das fünfte Nichts“ (Rimbaud Verlag, 2021) legte Àxel Sanjosé, der 1960 in Barcelona geboren wurde und seit Jahrzehnten in München lebt als Lyriker, Übersetzer, Dozent für Komparatistik und Mitarbeiter eines Designbüros, nach „Gelegentlich Krähen“ (Rimbaud Verlag, 2004) und „Anaptyxis“ (Rimbaud Verlag, 2013) seinen dritten Gedichtband vor.
Er ist also weder ein Viel- noch ein Schnellschreiber. Ebenso zurückhaltend und verschwiegen sind seine Texte, denen jede Form von Effekthascherei fremd ist. Dennoch sind all diese Gedichte nichts als „erschwingliche Balladen“ auf die Welt.
Und es ist diese kostbare Zurückhaltung in Wortwahl und Form, die neben der eigenen Melancholie den spezifischen Ton der Gedichte Sanjosés ausmacht. Und doch finden sich in diesem schmalen Band, wie auch in all den anderen Bänden, eine große Zahl ganz unterschiedlicher Sprecharten: Keine Zeile davon hat nur ornamentale Funktion oder bedient ein geläufiges Metaphernrepertoire. Diese Gedichte haben unendlich viele Bearbeitungsstufen durchlaufen, bis sie ihre opak schimmernde Sprachgestalt erreicht haben. Die Erfahrung, dass sich Sprache sofort entzieht, wenn man ihrer instrumentell habhaft werden will, bildet das Fundament dieser Gedichte – skeptische Sprachmusik steigt auf. (Bei Borges lese ich, dass die Poesie in der Kadenz liegt!)
Wir stummen leis das erste Lied, / wer sind wir hier. Und sie erinnern sich vielleicht an diese Zeile, die auf der letzten MINORITEN WEIHNACHTSKARTE zu lesen war.
Jetzt heißt der Abend: HIER SIND WIR WIR!
Eine Zeile, die ich dem Gedicht FEBRUAR entrissen habe, aus dem ersten Zyklus dieses Bandes, der ein Jahr beschreibt, beinahe und leicht durcheinandergewirbelt, weil es mit dem September beginnt, danach folgen Oktober (und DER RAHMEN BLÄTTERT GOLD INS BILD), November (GING GESTERN AN MIR VORBEI UND ERKANNTE MICH NICHT MEHR), Dezember, Jänner (KÖNNTE EIN SCHWARZWEISSFOTO SEIN) und noch ein zweiter Jänner, dann DIESER Februar (WO WIR IM HALBHELLEN ETWAS HISSEN), März und Juni, Juli (WO DAS NICHTS ABWESEND IST) ... Kein April und kein August! Den Zyklus überschreibt er mit „Jahraus“. Vielleicht erspart er sich deshalb die Monate die mit A beginnen. Vielleicht aus Liebe, aus Mangel, aus Vorsicht? Weil Kant im April, dem „grausamsten Monat“ (Eliot), geboren wurde?
Letztlich orientiert sich dieser Band „Das fünfte Nichts“ an Immanuel Kants „Tafel des Nichts“ aus der „Kritik der reinen Vernunft“, um in Abgrenzung von den dort entfalteten vier Kategorien des Nichts für seine Poesie ein fünftes Element des Nichts „als Vektor poetischer Energie“ zu gewinnen, schreibt der Literaturkritiker Michael Braun. Die Poesie also als fahrendes Nichts, als tragendes Nichts, als Wiederkehr des immer Gleichen, dem wir entgegenfiebern und das wir aufnehmen wie das Neueste. Vektor ist schließlich das „zweite Partizip“ von vehere „fahren, führen, tragen, bringen“. Wohin? Nichts führt, nichts bringt, aber so wird es nicht klingen, wenn sie diese Gedichte jetzt hören ...
Tristan Marquardt
Geboren 1987 in Göttingen, lebt ebenfalls in München. Er ist Mitglied der Berliner Lyrikkollektivs G13 (Ach diese Gs!), kuratiert zahlreiche literarische Veranstaltungsformate und arbeitet als MEDIÄVIST an der Universität. Hinweisen möchte ich auch noch (neben seinen zwei eigenen Gedichtbänden) auf einen sehr, sehr bemerkenswerten Band, den er gemeinsam mit Jan Wagner bei Hanser 2007 herausbrachte: UNMÖGLICHE LIEBE. DIE KUNST DES MINNESANGS IN NEUEN ÜBERTRAGUNGEN.
NUN ABER KOMM ICH INS SCHÖNE BLAUE! (Denn dieser Gedichtband ist definitiv eine AUGENWEIDE)
Die Metapher vom Leben als Seefahrt gehört zu den ältesten überlieferten Bildern, die den Blick auf das Ganze von Wirklichkeit, Welt, Leben und Geschichte richten. Sie umspannt Hafen und Küste, Auslaufen und Heimkehr, Sturm und Stille, Seenot und Schiffbruch. Die See zu befahren, schreibt der deutsche Philosoph Hans Blumenberg in seinem Werk „Schiffbruch mit Zuschauer“, ist Metapher für den Lebensgang, obwohl es nie das Normale und „Langläufige“ gewesen war. Vielmehr ein Überschreiten, ein Abtauchen zum Unheimlichen, also möglicherweise so etwas wie ein „scrollen in tiefsee“ (kookbooks, 2018), wie der zweite Gedichtband von Tristan Marquardt es nennt. Dies könnte sich doch auch als ein sprachlicher und gedanklicher Abstecher in den uralten Metaphernraum des Meeres erweisen. Der Dichter taucht ab, vertieft und beurkundet durch „scrollen in tiefsee“ seine Arbeit an Fragen der Wahrnehmung, die ihn als Schreibenden umtreiben. In einer Ausfächerung von Blicken und Begriffen und nicht zuletzt in der Fortsetzung der „Kataloge“ aus seinem ersten Gedichtband „das amortisiert sich nicht“ (kookbooks, 2013) eröffnet er diese Fragen auch für ihr eigenes Erleben: Wie sind Wechselwirkungen zwischen dem Licht und den Dingen zu denken? Wo muss man die Straße aufreißen, um aus dem Netzkabel zu löschen, was man gelogen hat?
Ich starte also beim Lesen der Gedichte aus dem Band „scrollen in tiefsee“ ein „Selbstexperiment“: Stelle mir vor, dass ich bei einem Schiffsunglück versuche, nicht zu schwimmen, wenngleich ich es natürlich beherrsche und stelle sogleich fest, dass ich dieses Gedankenexperiment „nicht überlebe“ und es sofort wieder abbrechen muss. Eine Schwimmerin, die sich im Wasser zum Nichtschwimmen zwingt, wäre das Selbstmord, Selbstuntergang oder eine gewonnene Atempause und eine Chance, diese intellektuelle Kopfwäsche zu genießen? Scrollen kommt von scroll, meint also eigentlich die „Schriftrolle“. Lege ich allein mein Ohr an dieses Wort, höre ich das Wort Groll und werde zornig. Worüber? Nur (Augen-)Blicke, die Begriffe: Alles spritzt mit Wasser! Als gehe man unter in einer Tiefsee, der man das Fenster geöffnet hat. Bei Marquardt werden die Mails nur mehr vom Blick abgeholt und der Kampf „Daumen versus (nein, nicht Schraube; Das wäre erwartbar!) Zeige(r)finger“ kann beginnen. Die Tiefsee als virtueller Raum und die Technik als kalte Sprache, all die Schnappnetze, die ins Leere fallen und der Aufschwung „halber“ Fragen: ist ein voller akku schwerer als ein leerer? Oder: like ist ein griff, dein urmeter herz, das verunklärt und klärt. auch ein gestirn. dir kommentar. du tauchst auf aus versenkung, lieblose posts in den händen. wirfst sie ins meer. getrieben von strömung bilden sich inseln.
Einst kamen aus den Weltmeeren, die an die Ränder der bewohnten Welt grenzten, mythische Ungeheuer, die keine Ähnlichkeit mehr besaßen mit den vertrauen Wesen an Land oder auch im Wasser. Heute brechen die WLAN-Wellen an den eigenen vier Wänden und das Netz ist besser, während das Sehen Sturm läuft und die Wolken in den Kellern ruhen und das, was wir denken: schwärmt aus! Einfluss, Gegenwart und diese Dichterjagd nach der Maus des Propheten machen Hoffnung, wieder einmal zurückzukehren in ein Meer wo die Runzeln sich sammeln ohne den Chor der Stirnen (Joseph Brodsky). Und ein Schilfrohr werden wir auch dort noch entdecken…..