Atem anhalten. Zu neuen Unfreiheiten der Rede. Ein Essay
Wer sagt, er könne frei atmen, meint damit nicht immer, dass er keinen Schnupfen hat. Atem steht für Freiheit, für unbeschränktes Denken, Reden, Handeln. In diesem Sinne kommen Opfer von Zensur in Atemnot. Sie erleiden physische, psychische und strukturelle Gewalt. Zensur beschädigt oder vernichtet ihre Worte, verfolgt, quält und tötet im schlimmsten Fall sie selbst. Sie schüchtert ein, bedroht, bedrängt und erniedrigt. Menschen halten den Atem an, verstummen.
In ihrer klassischen Form ist Zensur ein drastisches Mittel der Kontrolle und Beschränkung der freien Rede und damit des freien Willens. Besonders seit der Medienrevolution des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die zur massenhaften Verbreitung von Druckerzeugnissen führte, wird jene so genannte formelle Zensur zu einem wichtigen regulativen Machtinstrument der Herrschenden. Seitdem ist viel Zeit vergangen, die Meinungsfreiheit wurde zu einem um- und erkämpften Rechtsgut. Moderne demokratische Rechtsstaaten schließen formelle Zensur qua Verfassung aus.
Wer heute ‚Zensur‘ sagt, meint damit jedoch längst nicht immer staatliche Restriktionen. Es gibt eine große Bandbreite an Zensurbegriffen, im Alltag ebenso wie in den Wissenschaften, vom engen verfassungsrechtlichen Verständnis staatlicher Vorzensur bis zu einem weiten Verständnis von Zensur, das alle möglichen sozialen Kontroll- und Beschränkungsmechanismen umfasst.
Ob man nun dieses oder jenes Phänomen von Redeunfreiheit als „Zensur“ bezeichnen mag oder nicht – wichtig ist es in jedem Fall, nicht nur klassische Zensur wahrzunehmen, wie sie noch heute in Diktaturen und Autokratien existiert, sondern gerade auch neue, subtilere Beschränkungen freier Rede in den Blick zu bekommen, die etwa durch die Verlagerung der öffentlichen Meinungsbildung in die digitalen social media entstehen.
Denn auch die neuen Unfreiheiten der Rede können Atemnot machen: Wenn Dinge nicht mehr sagbar sind, zwar nicht durch Gesetz verboten, aber durch restriktive gesellschaftliche Forderungen, dann kann dies als Druck, gar als Gewalt erlebt werden.
Cancel Culture
Übt die aktuelle so genannte Cancel Culture einen solchen Druck aus? Das Stichwort ist entstanden im Kontext von Political Correctness, von Bewegungen wie MeToo und Black Lives Matter. Von seinem Ursprung her ist es ein politischer Tendenzbegriff; er stammt vonseiten der konservativen Kritik an bestimmten aktuellen Antidiskriminierungspraktiken. „Canceln“ meint in diesem Sinne, einer Person Diskriminierung (Rassismus, Homophobie, Sexismus, Antisemitismus) vorzuwerfen und sie deshalb zu boykottieren, auszuladen, gar zu denunzieren, zu beschuldigen, zu entlassen. Im Falle von Filmen oder Serien heißt es, dass diese abgesetzt werden; Musik wird nicht mehr gespielt, Bilder werden abgehängt.
Dieser Kulturkampf – ein vielleicht zu großes Wort – wird von Vielen als dogmatisch empfunden, die die Meinungs- und Kunstfreiheit duch Cancelling zu stark eingeschränkt sehen. Nicht nur konservative, auch viele liberale und links eingestellte Menschen zeigen sich befremdet. Am meisten irritiert alle wohl die Tatsache, dass die aktuellen Sehnsüchte nach Grenzen eben nicht von rechts kommen wie etwa frühere „Don‘t say that“-Parolen aus konservativ-moralischen Lagern, sondern eher von links: Das aktuelle Instrumentarium zur Durchsetzung von Antidiskriminierung sind mehr oder weniger rigide, informelle Sprach- und Handlungsvorschriften.
Ein Vergleich früherer und heutiger Redeunfreiheiten hinkt jedoch. Es ist etwas Anderes, ob eine hegemoniale Mehrheitsgesellschaft etablierte Normen wie Whiteness oder Heterosexualität auf Kosten diskriminierter Minoritäten als Maß aller Dinge durchsetzt oder ob in einer pluralistischen Gesellschaft Zeichen gegen Diskriminierung von Minoritäten gesetzt werden. Daher ist es wichtig, die Zumutungen aktuellen Cancellings genau zu prüfen – und auch, dabei beweglich und offen zu bleiben bei diesem populären Aufregerthema. Zu schnell ist man festgelegt, haben doch alle stets ein besonders absurdes Cancelling-Beispiel parat.
Übrigens bin ich persönlich in dieser Sache entschieden unentschieden. Einerseits ist es notwendig, die altlinke, liberale Position eines universal-aufgeklärten Bewusstseins von Meinungsfreiheit zu hinterfragen, ihre Hegemonialität zu erkennen und die Stimmen diskriminierter Minderheiten zu hören. Es kommt leider immer noch darauf an, wer gerade spricht. Andererseits ist Dogmatismus immer problematisch, und zwar eben auch dann, wenn die neuen, identitätspolitischen Sagbarkeitsdebatten zuweilen wie ein Bumerang zu neuen Formen von Diskriminierung zurückkehren. So etwa mit Forderungen, die Menschen dann doch wieder primär über äußere Zugehörigkeiten zu race, class oder gender definieren und Handlungs- und Sprechräume entsprechend klassifizieren und beschränken. Es ist ein Paradoxon der Identitätspolitik, im Bestreben nach Antirassismus oft selbst biologistisch zu argumentieren.
Reden wir!
Wie ist diese identitätspolitische Beschränkung von Handlungs- und Sprechräumen genau gemeint, worin besteht die neue Unfreiheit? Sollen Vertreter:innen der so bezeichneten Mehrheitsgesellschaft nun bei vielen Themen gar nicht mehr mitreden? Wenn man das zu Ende denkt, mündet man in einer Frage, die einer meiner Studenten in Bezug auf die Kolonialismusforschung gut auf den Punkt gebracht hat: „Wie ist jetzt eigentlich der Plan: Ab wann dürfen Weiße denn dann wieder mitreden?“ Dieser Zeitpunkt ist tatsächlich unklar. Vielleicht wäre es der Moment, bei dem die völlige Gleichheit aller eingetreten sein wird? Das große identitätspolitische Zeil ist ja durchaus Gleichstellung, gerade in einer diversen Gesellschaft. Doch wann wird eine solche je erreicht sein, wann sind endlich alle auf gleicher Höhe angekommen? Und sollen deshalb zwischenzeitlich diejenigen, die immer noch – das ist unleugbar – einen Vorsprung haben, die Weißen, die Männer, die Heterosexuellen, die Nicht-Behinderten, gar nicht mehr mitreden, den Atem anhalten? Natürlich nicht – und das wird ja auch nicht ernsthaft gefordert. Wohl aber wird zu Recht gefordert, dass, wer mitredet, auch gewahr ist, von welcher Position aus er oder sie das tut. Weiße Kolonialismusforscher*innen etwa sollten ihre Whiteness immer mitreflektieren.
Zumutbarkeit
Bei all diesen Sagbarkeitsdebatten bleibt festzuhalten: Es geht hier nicht um Zensur. Auch weiße Kolonialismusforscher*innen, um bei unserem Beispiel zu bleiben, genießen via Grundrecht die Freiheit der Forschung und Lehre, ihre Forschung, sofern nicht gesetzwidrig, unterliegt keinen Publikationseinschränkungen. Möglicherweise jedoch erfahren sie aufgrund ihrer äußeren Merkmale informelle Einschränkungen der Rede, werden nicht zu Vorträgen eingeladen, bei Rezensionen verschwiegen.
Wenn sich solche Mechanismen verbreiten und durchsetzen – in der Wissenschaft, aber auch in Kultur und Politik –, entsteht ein Klima der Zurückhaltung und des Schweigens, das einer robusten und streitbaren Demokratie nicht zuträglich ist. Die demokratische Gesellschaft ist kein safe space, und ihre Sprache ist es auch nicht. Und sie soll es auch nicht werden, sie muss vielfältig und robust bleiben und uns das Leben zumuten. Manches erscheint uns tatsächlich unzumutbar in einer Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit gilt und jeder frei denken, reden, handeln – atmen darf.
Mehr Diskutieren statt vom Diskurs ausschließen; mehr Streiten statt Reglementieren, das wäre doch ein gutes Ziel. Das gilt übrigens ebenso für das Gendern. Denn auch die Kämpfe für die gute alte Ungleichheit der Sprache gehören zu den Zumutbarkeiten unserer Zeit. Natürlich kenne auch ich Menschen, die auf dem generischen Maskulinum beharren und mir lange Vorträge darüber halten. Na und? Sie bleiben trotzdem meine Freundinnen.
Wer denkt, verändert sich
Konträre Ansichten sind zumutbar – zumal ihre Falschheit nicht immer erwiesen ist. Wer weiß schon genau, ob er selbst immer richtig liegt. Ein Schriftsteller und Theologe der Goethezeit, Gotthelf Wilhelm Christoph Starke (1762–1830), schrieb einmal in einer Predigt: „Ich habe vielmals geirrt, ich habe meine Meynungen oftmals geändert, und ich hoffe ja, noch ferner zu denken, ich werde sie noch oft ändern.“ Wer denkt, verändert sich. Diese Erfahrung, dass sich die eigene Meinung ändere, habe ihn auch „nachsichtig gegen Irrthümer, duldsam gegen Vorstellungen, die nicht die meinigen sind, gemacht, daß ich dem, der anders glaubt, Gott mit einigen andern Worten verehrt, als ich, herzlich die Hand drücke und sage: Uns leitet ein Gott, wir gehen zu einer Unsterblichkeit, laß uns das Leben uns nicht sauer machen, mein Bruder, um eines Ausdrucks, um eines Gebrauchs willen, laß uns friedlich mit einander gehen, wir werden es finden, wer recht hatte, vielleicht irrten wir beyde, wir werden es finden“.
Sich das Leben gegenseitig sauer machen um eines Ausdrucks, um eines Gebrauchs willen: genau das ist heute so verbreitet. Natürlich darf man die Rede anderer kritisieren, nicht aber ihnen den Mund verbieten. Wir dürfen uns nicht gegenseitig den Atem rauben.
Sprache ist stets im Wandel, und es ist großartig, wenn dieser Wandel den Weg zu einer besseren Gesellschaft spiegelt: ohne Diskriminierung, mit Vielfalt, Gleichheit und Freiheit. Dabei dürfen aber keine neuen Unfreiheiten entstehen. Alle müssen weiter mitreden (dürfen), im kritischen Bewusstsein ihrer Redeposition und Redemacht. Einer Vorsichtskultur – lieber mal den Atem anhalten – erteile ich eine Absage.
Nikola Roßbach