Unsere mittlerweile postcoronale, aber weiterhin mit (ökologischen) Krisen, Kriegen (!) sowie großen und kleinen Katastrophen konfrontierte Gesellschaft wird sich trotz oder gerade wegen der aktuellen Überhitzung geistig und schöpferisch neu sortieren müssen. Die Frage nach neuen gesellschaftlichen und politischen Würfen, nach Utopien, Visionen, kurzum: nach großen Aufbruchserzählungen, nach fresh stories, steht elefantenhaft im Raum. Aber auch der Blick zurück lohnt: Liest man sich etwa in alte Texte über Plagen-, Konflikt und Krisenzeiten tiefer ein, so „reimt“ sich erstaunlich viel, so finden sich erstaunlich viele erhellende Analogien, lassen sich anthropologische Kontinuitäten ausmachen, die für unsere aktuelle soziologische und politische Verfasstheit von hoher Relevanz sind: So nährten etwa Katastrophen nicht nur die diffusen Ängste der Menschen, sondern befeuerten das (religions-)kritische Denken, stärkten das Nachdenken über eine andere Zukunft, legten oft auch die Grundlagen für neue Formen des Arbeitens und Lebens. Chaos gebiert oft Neues! In diesem Sinne öffnen die teils dramatischen Umbrüche, die ökologisch-gesundheitliche Großkrise, die Digitalisierung sowie die epistemologischen Medien- und Politik-„Troubles“ unserer heutigen Zeit ähnliche Möglichkeitsräume. Welche narrativen Bausteine, welche politischen und philosophischen Konzepte, welche spannenden Dialektiken tun sich auf, wenn man alte (Krisen-)Texte und neue Gedanken zusammenbringt und darüber diskutiert?
In der Reihe „Neu Gelesen. Neu Erzählt. Neu Gemischt.“ waren 2022 Expertinnen und Experten eingeladen, einen (Zeitzeugen-)Text über Katastrophen-, Kriegs- und Krisenzeiten vergangener Zeiten neu auszudeuten. In teilweiser Kooperation mit der KHG Graz wurde etwa am 31. März 2022 mit Brigitte Quint und Walter Schaupp ein satirischer Text über einen antiken Wunderheiler (und Proto-Corona-Scharlatan) debattiert, der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme aktualisierte am 22. Juni 2022 Ovid’s Sintflut-Erzählung und der Journalist Martin Haidinger interpretierte am 28. Oktober 2022 Grimmelshausens Simpliccissimus vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs.