Kirchen, ihre Architektur und mit ihnen ihre Bilder und Ausstattungen sind fast immer Mehrzeitenräume aus Epochen, Einstellungen, Generationen. Was beim jeweiligen Nutzer, der jeweiligen Nutzerin jeweils neu ankommt, sind kollektive Erlebnisse, individuelle Frömmigkeitserfahrungen, ästhetische Rührungen.
Räume tragen das topische, Bilder das imaginative Gedächtnis einer Religion. Sie sind eng verwandt mit Stimmungen, die sich in die individuelle Erinnerung einprägen. Diese sind, was die Rezeptionsseite anlangt, notwendig biografisch bedingt. Ob man sie mit Assoziationen wie übel- oder wohlriechend, muffig, kalt, licht, warm, schwer, leicht in Verbindung bringt, ob man sie in Zeiten existenzieller Bedrängnis, intensiv erlebten Lebensglücks eher intim wahrnimmt oder soziale Zusammenkünfte rituell aufwertet, ob man mit ihnen einen Raum der Stille oder einen der höchst erdenklichen Musikalität sieht, ob man als Nutzer unbelastet wirkende Jugendliche, betagte Gesichter oder schlicht Touristengruppen zählt – Kirchen haben ein dermaßen breites Nutzungs-, Rezeptions- und Repräsentationsspektrum, dass es schwer ist, einen Idealtypus von dem nachzuzeichnen, was höchstens Kinderzeichnungen und Verkehrsschilder mit den verbundenen Piktogrammen ‚Haus und Turm‘ gemeinsam haben.
Die Vorlesung führt in ihrem ersten Teil in die bauliche Gestalt eines christlichen Sakralraums ein. Sie fragt nach Atmosphären und nach den Momenten, Riten und Texten, die ein bloß architektonisches Bauwerk in den Rang eines sakralen Raumes erheben. Sie fragt dann nach den Einrichtungen, also den Zonen des Heiligen, ihren Gefügen der Macht und der Ohnmacht, den Orten des Gedächtnisses in Form von Bildern.
In ihrem zweiten Teil wird sie historische Schübe christlicher Sakralbaugeschichte zeigen und an zentralen typenbildenden Bauten die grundsätzlichen theologischen Botschaften dieser Architekturen erläutern: von der Absage an bisherige Kultbauten zum Repräsentationsraum einer christlichen Basilika, der Idee einer Gottesburg in der Romanik hin zur Erfahrung eines eschatologischen, himmlischen Jerusalems in der Gotik, dem Rückgriff auf den antiken Kulttempel in der Renaissance bis hin zum Theatrum Sacrum als einem Öffnen des himmlischen Thronsaals im Barock. Schließlich wird nach zeitgenössischen Architekturen und ihren Beiträgen für ein neues Kirchenverständnis gefragt, das sich in der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils manifestiert.
4. Okt. 2022: Einführung und Planung
11. Okt. 2022: DE PROPAGANDA FIDE. Überraschende Glaubenswerbungen der Katholischen Kirche (Ausstellungsbesuch, KULTUM, Mariahilferplatz 3)
18. Okt. 2022: Raum des Heiligen – Altäre in Kirchräumen
25. Okt. 2022: Gefüge der Macht – das Gestühl in den Kirchen
8. Nov. 2022: Räume des Gedächtnisses – Bilder in Kirchen
15. Nov. 2022: Neue Kunst im historischen Raum: Exkursion in die Grazer Andräkirche
22. Nov. 2022: Wie hat sich der Sakralraum historisch entwickelt? Von der Absage an bisherige kultische Räume zur frühchristlichen Basilika
29. Nov. 2022: Zur Idee der Gottesburg und der Gottesstadt in der Romanik
6. Dez. 2022: Zur Idee des himmlischen Jerusalems im gotischen Sakralbau
13. Dez. 2022: Die ehemalige Hofkirche Friedrichs III. und jetzige Grazer Dom, die Katharinenkirche und das Mausoleum Kaiser Ferdinands II. (muss aus Krankheitsgründen leider entfallen!)
10. Jan. 2023: Rückblende in die Antike: Renaissancebauten und Petersdom
17. Jan. 2023: Theatrum Sacrum: Was der Barock zum Kirchenbild beigetragen hat
24. Jan. 2023: Beispiele zeitgenössischer Architektur als Anschub für ein neues Kirchenverständnis
Ort: UNI-Zentrum Theologie, Heinrichstraße 78, 8010 Graz, HS 47.02 (Max Joseph Metzger)