Kuratorin Barbara Rauchenberger hat der Sparte Literatur seit September 2020 eine neue Ausrichtung gegeben und hat dabei das Haus vor allem zu einem Ort für Lyrik gemacht. Dass die Zeiten sich ändern, ist eine Binsenweisheit, gleichwohl aber auch, dass das, was unter dem Ziffernblatt steckt, unsichtbar bleibt. Und doch: Was man am Ziffernblatt abliest ist dennoch nichts anderes als immer nur die Zeit, auch wenn die Triebfedern und Zahnräder die selben sind. Die Zeit jedoch näher zu bestimmen, sie abzulesen, das vermag nur die DICHTUNG selbst, die zu den ältesten Menschheitserfindungen zählt.
Fünf Reihen sind es, die sich ganz dieser „Diktion“ verpflichtet fühlen, der Art und Weise, also der Neigung wie Dinge gesagt werden.
Die Reihe „Der doppelte Gast“ führt jeweils zwei Dichter oder Dichterinnen zu einer gemeinsamen Lesung zusammen, meist zu einer Vorstellung ihrer jüngsten Gedichtbände. Zwischen den beiden präsentierten dichterischen Stimmen entsteht dabei ein Dialog und eine Beziehung, zumal der erste Gast den zweiten Gast vorschlägt bzw. einlädt. Dieser Dialog kann Ähnlichkeiten oder auch starken Kontrast zeigen. In jedem Fall fungieren die Werke wechselseitig als Erkenntnisfolie.
„Nachwort der Dichter“ bezieht seine Inspiration daraus, dass gegenwärtig Schreibende wichtige Impulse aus einer lebendigen Auseinandersetzung mit den Dichterinnen und Dichtern der internationalen Tradition empfangen. Die neue Reihe „Nachwort der Dichter“ fragt: Welche Stimme klingt vertraut durch Zeiten, Räume? Wer schürt die Neugier, will wiederentdeckt werden? Wer spornt das Schreiben an? Wem gebührt Dank? Und wer reizt zum Widerspruch? Dichter sprechen über Dichter, die für ihr eigenes Schaffen bedeutsam sind, denen sie eine poetische Reverenz erweisen oder mit denen sie sich im stillen Dialog befinden.
Das Veranstaltungsformat „LITERATUR HOTEL“ bietet anderen heimischen, aber auch „nicht heimischen“ Kulturinitiativen die Möglichkeit für einen Abend in den Veranstaltungsräumen des KULTUMs unterzukommen. Das KULTUM macht Platz, die Gäste decken den Tisch.
Die Reihe „Literatur. gegen><über“ lädt gemeinsam mit der Kulturvermittlung Steiermark Autorinnen aus Südost- und Osteuropa und Autorinnen aus dem deutschsprachigen Raum ein, deren Arbeiten thematische oder ästhetische Überschneidungen aufweisen. Diese werden in der Befragung von Strategien des Widerstands, in der lakonisch-ironischen Beschreibung von Alltäglichem, im Ausloten bizarrer Beziehungskonstellationen und in der Auseinandersetzung mit Geschichte und Identität liegen.
Der Umbau bei den Minoriten ließ zeitgleich mit dem Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 die Fundamente dieses Hauses buchstäblich und auch metaphorisch bersten. Nun, nach Abschluss der Umbauten, will ich die Frage offen stellen: Wie und warum (vor allem) Lyrik in Zukunft im KULTUM? Wer den Minoritensaal betritt, kann den Schriftzug „SILENTIUM“ über dem großen Bild an der Stirnfront nicht überlesen. Dem großen Schild gegenüber, also über dem Eingang, ist eine Lesekanzel angebracht, wo es zur ursprünglichen Nutzung wohl Tischlesungen gab, während man speiste. Das wäre also schon eine mögliche, beinahe naheliegende Legitimation – und auch eine Aufforderung zugleich. Das Wort Gedicht leitet sich bekanntlich ja von der Diktion ab, also von der Art, wie Dinge gesagt werden. Sprechen und Schweigen buhlen hier im Saal gleichermaßen um die schöne Stille.
Aber mir liegt da noch etwas Anderes auf der Zunge. Fast 100 Jahre vor dem großen Minoritensaal wurde das Kloster und mit ihm sein Kreuzgang von den Eggenbergern für die Minderbrüder gestiftet und gebaut. Erzherzog Ferdinand II., dem die Stifterfamilie sehr ergeben war, wurde eben in jenen Jahren des beginnenden Klosterbaus (1617) von Papst Paul V. mit Frauengebeinen (Reliquien der Heiligen Agatha und der Heiligen Maxentia) aus Rom bedacht, aus Dankbarkeit, weil er die damalige Residenzstadt Graz zum Ausgangspunkt der Gegenreformation gemacht hatte. So war auch das neue Minoritenkloster ein gewichtiger Teil seines bau- und religionspolitischen Programms.
Damit fange ich freilich kaum etwas an und eigentlich stößt es mich nur vor den Kopf. Aber womit ich etwas anfangen kann ist die Panik, die den Erzherzog gepackt haben muss/soll: „Wohin nur mit dem kostbaren Schatz, den der Papst mir schenkte?“ Offenbar entsann er sich der kostbaren Brauttruhen der Paola Gonzaga (1464–1496) aus Mantua aus der Hand von Andrea Mantegna, die, nach dem Erlöschen des Görzer Geschlechts, im Besitz des Klosters in Millstatt waren, das sein Vater, Erzherzog Karl II., dazu bestimmt hatte, die neu gegründete Grazer Universität zu finanzieren. Er ließ also zwei der Truhen kommen und verstaute die Reliquien darin. Seither stehen sie im Grazer Dom. Und zeigen gleichsam ihr wahres Gesicht aus prachtvoll geschnitztem Elfenbein, das, wie wir wissen, in feinsten Zügen die Trionfi des Petrarca zeigt und so gewollt oder zufällig den Inhalt der Truhe literarisch kontaminiert. Diese Prinzessin aus Mantua führte nämlich in ihrem Brautschatz neben Juwelen, kostbarer Kleidung, Tapisserien, Tisch- und Bettlinnen auch 14 Bücher mit. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es damals noch keine Taschenbücher gab und die Zahl 14 für damalige Zeiten nicht gering war, darunter Werke von Dante und Petrarca.
So ziehen bis heute diese Trionfi des Petrarca an uns vorüber: Als Geistreichster natürlich der Triumph der Liebe, lorbeerbekränzte Dichter begleiten den Wagen des wilden Kindes Amor, zu dem besonders einer von ihnen sehr aufmerksam hinaufschaut: Petrarca selbst. Zu sehen sind aber auch die Triumphe der Keuschheit (Denken Sie bitte jetzt nicht nur in eine (Blick)Richtung. Sondern behalten sie das Lateinische im Aug. Keuschheit kommt von conscius und meint „mitwissend, eingeweiht in, bewusst“) sowie der Zug des Todes, des Ruhms, der Zeit und der Ewigkeit. Es ist die Kunst, die hier ihre großen Karten, wie Liebe, Tod und Zeit ausspielt, nicht nur spielerisch triumphierend, sondern im Grunde zutiefst existenziell. Und auf paradoxe Weise halten diese Truhen still und triumphieren doch auf eine Art und Weise, wie es sonst nur das Gedicht vermag in einem Balanceakt zwischen Chaos (ein Haufen weißer Knochen) und Form (aufbewahrt in einer bebilderten Brauttruhe aus Elfenbein).
Das alles sind, wie ich finde, fern meiner persönlichen Vorlieben, schöne Ansätze, die für die Zukunft eine Neuausrichtung der Sparte Literatur legitimieren: Wie und warum HIER vor allem Lyrik, die vorerst einmal in fünf Reihen angedacht ist.
— Barbara Rauchenberger