Doppelte Gäste: Margret Kreidl und Tom Schulz
WILL MIR DIE WORTE NOCH LEISTEN
Zum Gedichtband „Schlüssel zum Offenen“ von Margret Kreidl
Ich schlage Margret Kreidls neuen Gedichtband „Schlüssel zum Offenen“ auf, beginne zu lesen, indem ich nach einer Zeile suche, die auf offenem Grund liegt und stehe plötzlich mitten in einem Gedicht. So erscheint das Gedicht als Gedicht und so weiter. Das Gedicht hat sich nach allen Regeln der Kunst in Schale geworfen. Die Schale besteht, besteht aus sieben Buchstaben und sieben ergibt ein ganzes Gebilde: G – E – D – I – C – H – T!
Das Gedicht ist also in Schale. Ist ein Entwurf und Heidegger sagt: Wir seien Geworfene und die unergründliche Natur des Daseins sei geworfen. Warum fällt mir SO Heidegger ein und nicht etwa der Speerwurf einer Muse, der im Augenblick des Werfens als Ruf aufblitzt? Warum es so und nicht anders zu versuchen? Nach allen Regeln der Kunst! Aber wer ruft hier wen? Wer stellt hier die Regel auf? Wer schreibt hier DAS Gedicht? Die Autorin, Margret Kreidl? Oder vielmehr die Regel selbst? Die Regel, die sich erklärt und dann stillhält und im Moment der Umsetzung, der Verwirklichung, verschwindet, verblasst. Und diese Grenze, also der Ort des Verfahrens, die harte Arbeit, das Ausmisten, das Suchen und Finden der Schreibenden erscheint plötzlich als Wunder. Das Wunder heißt LEISTE(N). Eine Kreidl also zerbricht sich den Kopf und etwas entsteht. Die Leiste (der Tischler sagt Blende) bietet eine mögliche Ansicht, aber sie blendet nicht. Das Gedicht, das wie hier aus sieben Zeilen besteht, mit den immer gleichen Anfangsbuchstaben, bietet uns die Stirn, als wären diese Gedichte aus Stirnstoff gewebt. Und doch: Das Gedicht bietet uns zwar die Stirn zur Ansicht und steht dennoch den Leisten näher als dem Kopf. Wie ist das möglich? Wenn es beim Lesen und Hören noch knackt im Gebälk, die tektonischen Platten der Gedanken sich reiben, der Kopf glüht, die Zunge springt, die Bilder sprudeln. (Beim Lesen riss es mich oft lautstark in die Höhe. Diese Gedichte lösen mitunter ein Fontänenlachen aus!)
Und diese Gedichte machen sich geradewegs auf. Sie haben 7 Zeilen, also 7 Leben. Sind sie ein Kater? Eine Katze? Manche erinnern an Löwen, wie das Gedicht auf Seite 56 (IN DIESEM GEDICHT FÄLLT AUCH DER NAME TOM SCHULZ), manche an ein Körbchen, wie das Gedicht auf Seite 48, manche wiederum an eine Schale frische Milch, wie das Gedicht auf Seite 11. Nie aber sind diese Gedichte Raubkopien, Hausmärchen oder Fettschöpfer. Gedichte sind Gebilde, keine Bilder, schreibt Magret Kreidl und das Gebilde ist einmalig. Ich rechne laut auch mit den Worten: 1 x 7 ist 7. Aber das weiß ich, weil es immer unterm Strich so ist, also wenn der Leser nur diese Gedichte anblickt und diese Zahlen in den Mund nimmt, leuchten einem diese Zeilen ein. Diese Gedichte entspringen DER REGEL. Und die paradoxe Öffnung, die dabei aufblitzt, heißt Freiheit. Diese Gedichte bieten uns also die Stirn. Sie können nicht anders, als verlässlich der Welt, dem Sichtbaren, dem Vernehmbaren ihre Stirn bieten. Und sie erscheinen SO nachvollziehbar, dass sie aus diesem Grund etwas wirklich Tröstliches haben. Ich kann dabei ohne Furcht Freiheit und Trost zusammensehen: ein, ich gebe zu, etwas unorthodoxes Paar – aber sie haben sich gefunden. Und Margret Kreidls Gedichte gehen nicht IM DICHTEN unter, sie gehen vorzugsweise IM FREIEN auf. Und das ist der SPALT, durch den die Freiheit fädelt und besticht. Ich meine SIE überzeugen sinnlich, pfiffig, zwinkernd, winkend. Und dennoch, also SIE bleiben einer logischen Kontur ausgesetzt und bleiben doch gleichzeitig auch ein Rätsel, in dem sie wie siebenarmige Leuchter dastehen, mitten in der Gesellschaft. Das Gedicht leuchtet. Es strahlt. Wohin das führt: INS WEITE, INS OFFENE, INS LEICHTE, INS FLÜSSIGE. Das ist wohl auch der Grund, dass es kein Geheimnis ist, dass Poesie mittels Begrifflichkeiten nicht gänzlich auflösbar ist. Der Schlüssel des Verstehens ist eine Form von kognitivem Fühlen, eine Symbiose aus Verstand und Empfindung, die auf ein Gedicht trifft bzw. auf die ein Gedicht trifft. Das Kreidl-Gedicht ist der Schlüssel zum Kreidl-Gedicht. Ich stelle mir eine Tür vor und sieben Schlüssel zum Offenen.
Wessen Schlüssel bist du?
Zum Gedichtband „Reisewarnung für Länder Meere Eisberge“ von Tom Schulz
Der deutsche Lyriker Tom Schulz ist ein Passagier zwischen den Paradiesen. Greift auch er auf einen Schlüssel zurück, oder gar auf einen ganzen Schlüsselbund? Oder verfügt er möglicherweise über einen Zentralschlüssel? Oder steht ihm das Paradies offen? Ich meine, sind die Grenzen zum Paradies hin nicht fließend? Und ist der Schlüssel zu den Paradiesen nicht vielmehr das Sehen? Voraussehen heißt schreiben, sagt Paul Valery. Ist also der Schlüssel zu den Paradiesen, zwischen denen Tom Schulz in seinem letzten Lyrikband „Reisewarnung für Länder Meere Eisberge“ unterwegs ist, nicht vielmehr Gratwanderung zwischen stummen Ozeanen und Ländern, verheerend wie Eintrittswunden? Der Reisende sieht sich „mit Wirklichkeiten konfrontiert, die Momente der lyrischen Verdichtung immer rarer und kostbarer erscheinen lassen, dafür umso mehr politischen und ökologischen Zündstoff liefern“ lese ich in einer Empfehlung. Auf Seite 10 in seinem Buch lese ich dann: wir verlieren das Paradies. Weder Adam noch Eva sind hier anzutreffen. Ein Hotelpage empfängt ihn: Wir alle gehen auf Händen durch die Zeit/unsere Hände werden immer zärtlicher und älter. Und anders als der französische Schriftsteller Francis Ponge, der meinte: „Der Dichter ist ein ehemaliger Denker, der zum Arbeiter geworden ist“, legt Tom Schulz seinem Pagen folgendes in den Mund: Die Dichter sind zusammengenähte Ballen, (…), in allen Sprachen, in Lumpen und Leinen gehüllt, (…).
Ich gehe davon aus, dass auch Adam und Eva dieses Hotel kannten. Die Erkenntnis ist weder gut noch böse, sie ist bitter: Wir sind Blüte, sind Frucht, wir sind Aas heißt es am Ende dieses ersten Kapitels „Ich bin ein Passagier…“. Andere Kapitel heißen „Schwarze Ampel“ oder „Heideggers Himbeeren“. Insgesamt sind es elf Kapitel, die die lyrische Motivation erkennbar machen: Tom Schulz, der als aufmerksamer Beobachter nicht nur das eigene Land, sondern auch fremde Länder, Kulturen und Gesellschaften erkundet und die Dinge, die sich ihm dabei zeigen, in seinen Gedichten Mosaikstein für Mosaikstein zusammenzufügt, will ein Gesamtbild von Gegenwart entstehen lassen, eines, das uns alle erreicht. Keiner kann hier mehr so einfach sinnlos durchreisen. Diese Gedichte dringen tief in die Verästelungen der globalisierten Welt vor. Die Sprache ist klar, sie kommt ohne agitatorische Appelle aus und verstrickt sich nicht in sang- und klangreiche Verse. Dieser Sprachschlüssel sperrt auf: Geist, Intuition, Instinkt und Erfahrung. Tom Schulz hat ihn für uns hinterlegt im Spiegel der eigenen Existenz.
Barbara Rauchenberger