Doppelte Gäste: Àxel Sanjosé und Tristan Marquardt
Behandle das wie nichts!
Zum Gedichtband „Das fünfte Nichts“ von Àxel Sanjosé
Àxel Sanjosé ist ein großartiger Dichter. Einer, der die Fähigkeit hat, bewundernswert leise Gedichte zu schreiben, die lange nachhallen, und die eine Schönheit besitzen, die man kaum angemessen beschreiben kann. Das ist verständlich, denn die Schönheit der Poesie – „man empfindet sie“, schreibt etwa auch Jorge Luis Borges und gleichzeitig spürt man, „dass dieser Satz nicht willkürlich ist“.
Mit „Das fünfte Nichts“ (Rimbaud Verlag, 2021) legt Àxel Sanjosé, der 1960 in Barcelona geboren wurde und seit 1978 in München lebt, nach „Gelegentlich Krähen“ (Rimbaud Verlag, 2004) und „Anaptyxis“ (Rimbaud Verlag, 2013) nun seinen dritten Gedichtband vor. Sanjosé ist also weder ein Viel- noch ein Schnellschreiber. Ebenso zurückhaltend und verschwiegen sind seine Texte, denen jede Form von Effekthascherei fremd ist. Dennoch sind all diese Gedichte nichts als „erschwingliche Balladen“ auf die Welt.
Und es ist diese kostbare Zurückhaltung in Wortwahl und Form, die neben der eigenen Melancholie den spezifischen Ton der Gedichte Sanjosés ausmacht. Und doch finden sich in diesem schmalen Band, wie auch in all den anderen Bänden, eine große Zahl ganz unterschiedlicher Sprecharten: Keine Zeile davon hat nur ornamentale Funktion oder bedient ein geläufiges Metaphernrepertoire. Diese Gedichte haben unendlich viele Bearbeitungsstufen durchlaufen, bis sie ihre opak schimmernde Sprachgestalt erreicht haben. Die Erfahrung, dass sich Sprache sofort entzieht, wenn man ihrer instrumentell habhaft werden will, bildet das Fundament dieser Gedichte – skeptische Sprachmusik steigt auf. (Bei Borges lese ich, dass die Poesie in der Kadenz liegt!)
Wir stummen leis das erste Lied, / wer sind wir hier. Diese Zeile aus dem Gedicht „Zum Abschied hell“, aus dem Band „Anaptyxis“, die wir 2021 für die Weihnachtskarte des KULTUMs ausgewählt hatten, zeigt „sehr genau“ Sanjosés Poetik des Schweigens. Ein Lied zu verschweigen, könnte man meinen, will das Stumme besingen, oder gar die höhere Herkunft lüften: Wer sind wir hier? In dieser vielfach unmenschlichen Hinkunft? Die Zukunft, das Singen der ersten und letzten Lieder der Stummheit? Was bleibt, ist „unsingbar“, also auf einer existenziellen Hörebene irgendwie unbesiegbar. Diese Gedichte trösten, wie das „Ich bin trostlos Verliebt“, tun also nichts (mehr und weniger) lieber als trösten.
In seinem beeindruckenden Gedichtband „Das fünfte Nichts“ orientiert er sich an Immanuel Kants „Tafel des Nichts“ aus der „Kritik der reinen Vernunft“, um in Abgrenzung von den dort entfalteten vier Kategorien des Nichts für seine Poesie ein fünftes Element des Nichts „als Vektor poetischer Energie“ zu gewinnen, schreibt der Literaturkritiker Michael Braun. Die Poesie also als fahrendes Nichts, als tragendes Nichts, als Wiederkehr des immer Gleichen, dem wir entgegenfiebern und das wir aufnehmen wie das Neueste. Vielleicht beschreibt der erste Zyklus in diesem schmalen Band deshalb ein Jahr: beginnend mit dem September (Zählt hier ein Schulkind? Oder der Bauer, der die Äpfel erntet?), Oktober, November, Dezember, Jänner und noch ein zweiter Jänner (Doppelt hält besser!), dann Februar, März und Juni, Juli … Kein April und kein August! Den Zyklus nennt der Dichter „Jahraus“. Vielleicht erspart er sich deshalb die Monate die mit A beginnen. Vielleicht aus Liebe, aus Mangel, aus Vorsicht? Weil Kant im April, dem „grausamsten Monat“ (Eliot), geboren wurde?
Im März heißt es: In der bleichen Sonne / blinzeln wir Häftlinge, drehen / die Hälse. Werden wir hier Narzissen gerufen, wie gelbe Häftlinge? Die Hälse drehen wir also, aber wir verdrehen sie nicht? Und ist schmerzlos das Blinzeln? Und wenn ja, warum ist es dann auf so eigentümliche Art und Weise aber auch schmerzhaft?
Wie Giacomo Leopardi, ein 1837 verstorbener italienischer Dichter, den Àxel Sanjosé mit der Zeile Arcano è tutto / fuor che il nostro dolor (dt.: „Alles ist verborgen / nur unser Schmerz ist es nicht“) an den Beginn seines Bandes stellt, ist er ein Skeptiker, der doch eigentümlich gläubig macht.
Barbara Rauchenberger
Pfau unter Wasser
Zum Gedichtband „scrollen in tiefsee“ von Tristan Marquard
Die Metapher vom Leben als Seefahrt gehört zu den ältesten überlieferten Bildern, die den Blick auf das Ganze von Wirklichkeit, Welt, Leben und Geschichte richten. Sie umspannt Hafen und Küste, Auslaufen und Heimkehr, Sturm und Stille, Seenot und Schiffbruch. Die See zu befahren, schreibt der deutsche Philosoph Hans Blumenberg in seinem Werk „Schiffbruch mit Zuschauer“, ist Metapher für den Lebensgang, obwohl es nie das Normale und „Langläufige“ gewesen war. Vielmehr ein Überschreiten, ein Abtauchen zum Unheimlichen, also möglicherweise so etwas wie ein „scrollen in tiefsee“ (kookbooks, 2018), wie der zweite Gedichtband von Tristan Marquardt es nennt. Dies könnte sich doch auch als ein sprachlicher und gedanklicher Abstecher in den uralten Metaphernraum des Meeres erweisen. Der Dichter taucht ab, vertieft und beurkundet durch „scrollen in tiefsee“
seine Arbeit an Fragen der Wahrnehmung, die ihn als Schreibenden umtreiben. In einer Ausfächerung von Blicken und Begriffen und nicht zuletzt in der Fortsetzung der „Kataloge“ aus seinem ersten Gedichtband „das amortisiert sich nicht“ (kookbooks, 2013) eröffnet er diese Fragen auch für ihr eigenes Erleben: Wie sind Wechselwirkungen zwischen dem Licht und den Dingen zu denken? Wo muss man die Straße aufreißen, um aus dem Netzkabel zu löschen, was man gelogen hat?
Ich starte also beim Lesen der Gedichte aus dem Band „scrollen in tiefsee“ ein „Selbstexperiment“: Stelle mir vor, dass ich bei einem Schiffsunglück versuche, nicht zu schwimmen, wenngleich ich es natürlich beherrsche und stelle sogleich fest, dass ich dieses Gedankenexperiment „nicht überlebe“ und es sofort wieder abbrechen muss. Eine Schwimmerin, die sich im Wasser zum Nichtschwimmen zwingt, wäre das Selbstmord, Selbstuntergang oder eine gewonnene Atempause und eine Chance, diese intellektuelle Kopfwäsche zu genießen? Scrollen kommt von scroll, meint also eigentlich die „Schriftrolle“. Lege ich allein mein Ohr an dieses Wort, höre ich das Wort Groll und werde zornig. Worüber? Nur (Augen-)Blicke, die Begriffe: Alles spritzt mit Wasser! Als gehe man unter in einer Tiefsee, der man das Fenster geöffnet hat. Bei Marquardt werden die Mails nur mehr vom Blick abgeholt und der Kampf „Daumen versus (nein, nicht Schraube; Das wäre zu schön!) Zeige(r)finger“ kann beginnen. Die Tiefsee als virtueller Raum und die Technik als kalte Sprache, all die Schnappnetze, die ins Leere fallen und der Aufschwung „halber“ Fragen: ist ein voller akku schwerer als ein leerer? Oder: like ist ein griff, dein urmeter herz, das verunklärt und klärt. auch ein gestirn. dir kommentar. du tauchst auf aus versenkung, lieblose posts in den händen. wirfst sie ins meer. getrieben von strömung bilden sich inseln. Einst kamen aus den Weltmeeren, die an die Ränder der bewohnten Welt grenzten, mythische Ungeheuer, die keine Ähnlichkeit mehr besaßen mit den vertrauen Wesen an Land oder auch im Wasser. Heute brechen die WLAN-Wellen an den eigenen vier Wänden und das Netz ist besser, während das Sehen Sturm läuft und die Wolken in den Kellern ruhen und das, was wir denken: schwärmt aus! Einfluss, Gegenwart und diese Dichterjagd nach der Maus des Propheten machen Hoffnung, wieder einmal zurückzukehren in ein Meer wo die Runzeln sich sammeln ohne den Chor der Stirnen (Joseph Brodsky).
Barbara Rauchenberger