Doppelte Gäste: Tom Schulz und Sonja vom Brocke
Die letzten Jahre / vor dem Knall verbringen wir im Karneval.
Dann kippen / die reizbaren Narrative, die Sole, die Soße.
(Tom Schulz, Die Erde hebt uns auf)
Die adriatischen Gedichte von Tom Schulz sehen unseren Planeten in seiner Schönheit, der Vielfalt von Dingen, Pflanzen und Lebewesen, die einer zunehmenden zerstörerischen Gefahr ausgesetzt sind. Die dichterisch aufgerufenen Fragen nach einem Auskommen auf der Erde und mit ihr schaffen neue Konnotationen und einen Raum der Imagination, der uns den Ort und die Zeit erkennbar und fühlbar macht. Sprachliche und formale Strenge stellen dabei einen Kontrast zur Ästhetik des Naturschönen und zur sinnlichen Fülle her. Auch im zweiten großen Zyklus des Bandes sind Orte zentral: In ihnen treffen wir auf Geschichten und Biografien literarischer Gestalten von der Günderrode und Novalis bis zu Johannes Bobrowski und Uwe Johnson. Sie werden aus der Atmosphäre ihrer Umgebung wachgerufen, seien es städtische oder landschaftliche Topografien und Stimmungen. Gelingen und Scheitern, Glück und tragische Lebensumstände werden in eine kristalline Sprachmusik verwandelt.
Hebst du die linke Hand, sage ich ab, senkst du die Lider, zu.
Wenn ich dir nicht trauen kann, löst sich, was ragt und rankt, auf?
(Sonja vom Brocke, Mush)
Sonja vom Brocke verbindet in ihren Gedichten poetologische Reflexion mit existentiellen Analysen – von tiefem Individualismus bis hin zu den oberflächlichsten Kontexten des gesellschaftlichen Alltags. Sie führt diesen Alltag vor, entleert ihn oder versucht ihn umzufüllen.
Stets ragen in den Texten erdbezogene Fragen aus Ich-Details empor, bilden Sprachverläufe Amorphes, fädeln sich auf in Sequenzen, springen von Artifiziellem zu Erinnerungen und überpersönlichen Verlusten, sind wechselhaft und gleiten dabei auch in sagenhafte und unbewusste Regionen, in denen die Suche nicht mehr trägt. Sonja vom Brocke versucht ihren immer wieder in Frage gestellten Ich-Fluss als Text so zu gestalten, dass dieser harmonisch wie radikal gebrochen in den vorgegebenen eindringt und ihn zu verändern versteht, auf andere Perspektiven hin von dichterischer Selbstbestimmung getragen, so formuliert es der Dichter Ferdinand Schmatz. „Großer Ausholversuch fällt zurück in einen Körper.“, heißt es einmal im Langgedicht „Mush“ (auf deutsch Mensch oder Brei, Matsch oder Kartoffelstampf) und dieser Körper verwandelt sich zur Pflanze, gibt sich Vermischungsfantasien hin, hält sich schlecht, landet im Matsch. Dort könnte es weitergehen.