Kunst – Zuflucht und Befreiung. Felicitas Hoppe, Thomas Macho und Claudius Tanski
Für Felicitas Hoppe ist die Welt, in der wir leben, die Vorlage dafür, dass wir uns andere Welten imaginieren, denn die Welt an sich, in der wir leben, könnte uns gar nicht glücklich machen. „Irgendwer kam auf die Idee, uns diese Welt als Vorlage hinzustellen, denn das Leben insgesamt ist wenig schön, es ist nicht leicht zu ertragen, es ist für die wenigsten Mensch lustig, es ist sehr schmerzhaft, es ist voller Gewalt… ja, die ganze Thematik der Zuflucht: Vielleicht ist die Zuflucht ja unsere vornehmste Aufgabe“ (51:07), sagt die Büchner-Preisträgerin von 2012 in einer Zwischenpassage des „Films der letzten Zuflucht“ von Thomas Henke.
Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, aus: Film der letzten zuflucht von Thomas Henke, 2019
Künstlerinnen und Künstler, so Hoppe, hätten es leichter, denn mit wenigen Mitteln könnten sie sich eine Welt einrichten, einen Text schreiben, in ihm ein Haus kaufen, es sogar besitzen können – was in der Realität niemals denkbar wäre. „Das ist ein ganz, ganz großartiges Mittel: Kunst ist ein Möglichkeitsraum, ein Raum der Wunscherfüllung. Manchmal denke ich, dass Kunst das einzige Mittel ist, das uns das Leben wirklich überstehen lässt“ (49:42). Denn was hätte sie davon, ein schönes Haus zu besitzen oder ein tolles Auto zu fahren? „Also mein Haus im Buch, das mir gehört, macht mich vielleicht wirklich glücklicher als mich jedes Haus jemals glücklich würde machen können.“ Die Welt als Fiktion als Zuflucht – das ist der Vorteil oder die Chance der Schriftstellerin. Sie hebt sich ab von jeder Wirklichkeit, wie wir sie vorfinden. Für Hoppe ist Literatur und Kunst ein Akt der Bändigung: „Und ich glaube, Zuflucht hat viel damit zu tun, dass ich Dinge auch bändigen kann im Sinne des Selbstschutzes.“ Denn „Denken als Zuflucht“ mache sie rasend, es müsse „veräußert werden“. Die Dichterin führt mit sich vor allem Selbstgespräche, sie kritisiert sich selbst, tröstet sich, „nimmt so eine Abrückung vor“ (48:30). Wir erfahren – mit verhaltenem Lachen – den Satz, dass für die Schriftstellerin die letzte Zuflucht nicht dieses Leben sei: „Ich sehe die Zuflucht nicht hier“ (1:55:00). Was heute Zuflucht ist, könne morgen schon Kerker sein. Alle Zufluchten hier seien wie „Vorhöfe einer letzten Zuflucht, es sind nur Schatten, die vorausgeworfen werden“ (1:55:40). Und: „Wenn ich dieses Leben mal hinter mir habe, dann bin ich wirklich in Sicherheit“ (1:56:00). Wir erfahren, dass das „Ziel der Veranstaltung“ – das ist das Leben – es sei, das „Leben ordentlich fertig gelebt zu haben: Und ich hoffe, dass ich dafür belohnt werde“ (1:56:11). Punkt. Blick. Verhaltenes Lächeln. Ausatmen.
Tatsächlich hat Thomas Henke die Schriftstellerin Hoppe beim Projekt „Portaits 1.13“ kennengelernt, in dem es um „eschatologische Portaits“ – so nannte diese der Philosoph Thomas Macho im Nachhinein – ging: Ihr Portrait eröffnet die sechsteilige Serie im Gang zum Franzikussaal.
Der Philosoph Thomas Macho, aus: Film der letzten zuflucht von Thomas Henke, 2019
Im Gegensatz zu Hoppe, die eine der ganz wenigen Schriftsteller*innen der Gegenwart ist, die unbeschwert und unversehrt über den Glauben sprechen kann, ist der Philosoph Thomas Macho, dem der Tod ein früher, auch existenzieller Begleiter war und der sich über Todesriten habilitiert hatte, der religiöse Glaube in Vielem fremd. Das „Angeschaut-Werden“ zum Beispiel ist für ihn keine Zuflucht, sondern bedeutet ihm eher Angst. Auch Worte wie „Fülle“ sind ihm suspekt. Vielmehr mag Thomas Macho die „Leere“, die ihn schütze (40:34): Der Aufenthalt in Zwischenräumen auf Reisen, in ortlosen Räumen, in Nicht-Räumen und das Erreichen-Können der inneren Leere stünden in einem inneren Zusammenhang. Beobachtet Thomas Macho, während die Kamera durch seine Berliner Wohnung, und, über Berge von Bücher streift. Diese Orte, wo es ihm mitunter „leicht“ vorkomme, in den Ort einer solchen Leere vorzustoßen, seien selbst „schon durch die Bewegung und durch die Ausweghaftigkeit“ (41:42) definiert, sie hätten keine konkreten und positiven Qualitäten. „Die Leere ist jener Zustand kurz vor dem Einschlafen, wenn der Tag und die Räume wegleiten, wenn man keinen Inhalt hat, den man festhalten kann...“ (41:55). Die Bücherwände Machos und die „Exit City“ von Lorenz Estermann verschwimmen im Film...
Wir erfahren schließlich von Thomas Macho, dass man nur freigegeben werden kann, wenn man selbst frei gibt. Das Gehenlassen, das Geschehen lassen, so der Philosoph, könne man nicht als „Technik lernen, sondern es passiert einem“ (1:54:07). Und der Satz von Thomas Macho, der gerade noch in seinem historischen Aufzug in der Kaiserallee in Berlin nach oben in seine Wohnung gehoben wurde, klingt mit einem langen Lächeln aus.
Vielleicht werden wir die beiden mit einem gleichen Lächeln im Minoritensaal erleben!
An dieser Stelle müsste dann – wie im „Film der letzten Zuflucht“ – Klaviermusik einsetzen. Das Stück, hinreißend interpretiert vom Pianisten Claudius Tanski – er ist Echo-Klassik-Preisträger und Professor für Klavier am Mozarteum in Salzburg – wird dann Johann Sebastians Bach Kantate „Ich ruf dich an...“ (BWV 639) sein. (Auch Tanski ist ein intensivier Weggefährte von Thomas Henke, der seinetwegen nach Graz kommen wird.)
Der Pianist Claudius Tanski, aus: Film der letzten zuflucht von Thomas Henke, 2019
Bach-Kenner*innen wüssten zu der Melodie auch zu texten: „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, ich bitt, erhör mein Klagen; / verleih mir Gnad zu dieser Frist, / laß mich doch nicht verzagen. / Den rechten Weg, o Herr, ich mein, / den wollest du mir geben, / dir zu leben, / mein‘m Nächsten nütz zu sein, / dein Wort zu halten eben.“
Johannes Rauchenberger