Luljeta Lleshanaku und Andrea Grill: DIE STADT DER ÄPFEL
Video-Mitschnitt der Lesung und der Diskussion vom 22. April 2022
Luljeta Lleshanaku, angereist aus Albanien, bzw. der Schweiz, Andrea Grill (aus Wien) und Julia Cimafiejeva (aus Minsk und derzeit als Stipendiatin der Kulturvermittlung Steiermark in Graz lebend): Sie gestalteten diesen Abend in der Reihe LITERATUR HOTEL im KULTUM. Der Gedichtband, der im Mittelpunkt des Abends stand –„Die Stadt der Äpfel“ – kann durchaus dazu verführen, Äpfel mit Sternen zu vergleichen, wie Kuratorin Barbara Rauchenberger im Begrüßungstext anmerkte. Denn in der Empfehlung (der Band wurde aufgenommen in die Liste der Lyrikempfehlungen für 2022) heißt es: „Luljeta Lleshanaku ist eine der wichtigsten Dichterinnen Albaniens, mehrfach ausgezeichnet und übersetzt. Die Stadt der Äpfel dokumentiert ihre vielseitige Produktion der letzten 20 Jahre. In Andrea Grills Übersetzung begegnet uns eine Zeitgenossin von treffsicherer Spröde, schwankend zwischen Souveränität und Verletzlichkeit, präzise, wort- und bildgewandt.“
Die vom Tode auferstandene Dichterin
„Schicksal“ nennen wir das Unbekannte, das uns vereint. Ein Satz, der strahlt vor Klarheit und Logik. Ein Satz, wie wir ihn brauchen im Jahr 2021, da die europäische Zivilgesellschaft an Uneinigkeit im Umgang mit dem Unbekannten zu zerbrechen droht; und ein Vers im zweiten Gedicht aus dem Band „Die Stadt der Äpfel“. Luljeta Lleshanaku schrieb ihn vor zehn Jahren auf Albanisch, einer Sprache, unter der sich sogar belesene Menschen oft nur wenig vorstellen können. Manche loben die Musikalität des Albanischen. Der Klang ist mir egal, sagt Lleshanaku. Das Schreiben sei ein rein rationaler Akt. (…) Das Wagnis dieser Dichterin liegt nicht im Abklopfen der Sprache auf explosive Semantik. Sie zielt; und trifft. Ein Apfel liegt auf dem Kopf des Kindes, / wie auf den Köpfen aller Kinder der Stadt, heißt es, bevor sich herausstellt, diese Äpfel sind ein Vaterschaftstest. Wer schießt, kann nicht der Vater sein. Aber wie viele potenzielle Väter überlebt ein Kind? Lleshanaku nimmt uns sanft an der Hand, zieht uns an den Rand des Abgrunds unseres Selbst. Sprache erodiert uns, / macht uns zu Einsiedlern. Sie erzählt. Unser Leben, unser Sprechen. Eine neue Sprache ist wie ein Fisch: / zuerst entfernst du das Rückgrat, / dann kaust du langsam und vorsichtig. Lleshanakus Bildsprache erinnert an die Malerei Marc Chagalls, wo Mensch und Umgebung ineinander übergehen und sich an den Übergängen auflösen. Emigranten und Reisende bevölkern ihre Textwelt, Schiffe sind nicht zufällig eine wiederkehrende Instanz. Das Mittelmeer galt den Albanern bis März 1991 als Versprechen von Freiheit; bis sich sogar das als Betrug erwies. Die beschwerliche Seereise auf einem der überladenen Schiffe, auf denen Zehntausende Albanerinnen und Albaner versuchten, „Europa“ zu erreichen, konnte auch damit enden, dass man über Bord fiel und ertrank oder, kaum hatten die Füße in Bari den Boden berührt, per Flugzeug wieder an den Ausgangspunkt zurückgeschickt wurde. Obwohl
Luljeta Lleshanaku diesen Weg nicht gewählt hat, ist das Meer eins der Referenzsysteme in ihrer Poetik. Das Meer, in das alle Flüsse der Welt münden, auch der deine / innerhalb von Sekunden wandelt sich der Geschmack, / von süß nach salzig und tiefer unten / bitter. In „Es nähert sich ...“ vergleicht sie das Älterwerden mit einem Ozean, zugleich liefert sie mit diesem Vers eine treffende Metapher für die ephemere Substanz der Freiheit. Frei wofür? Frei um alt zu werden? Die Freiheit war kein Raum. / Freiheit war ein vertikaler Aufstieg, / das Abwerfen von Sandsäcken aus dem Ballon, / eine furchterregende Schwebe. (…) Die Dichterin formuliert in scharfsinniger Hellsichtigkeit die Schwachstellen des Zusammenlebens unter Menschen, legt ihre Worte als kühlende Bandagen auf unser Unvermögen, angemessen mit der Natur umzugehen, und nimmt mit präzise gesetzten Nebensätzen vorweg, was mehr als ein Jahrzehnt später den Kern unserer Existenz trifft: Wer zum Überleben gestempelt ist, / wird seinen Nachwuchs fressen wie der Polarbär, / der nichts von der Klimaerwärmung merkt. Der Band schließt mit „Urbi et orbi“, einem Zyklus, der im April 2020 im ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie entstand, als Luljeta Lleshanaku mit der betagten Mutter in Tirana festsaß, während Tochter, Enkelkind und Mann sich im plötzlich unerreichbar gewordenen New York befanden. Ihr gelingt es, darüber etwas zu schreiben, das überrascht und predigt zugleich, frisch gepflückt vom Baum der Erkenntnis im eigenen Garten: Der Tod nimmt denselben Weg / wie die Liebe: / ein Händedruck, eine Berührung, ein Flüstern ins Ohr ... Auch weil sie in einer der unbekannteren Sprachen unseres Kontinents spricht, wenn sie vorführt, wie das Miteinander unterschiedlicher Positionen möglich wäre, und so Zugänge öffnet, die uns sonst verwehrt blieben, ist Luljeta Lleshanaku eine der wichtigsten Dichter*innen des heutigen Europas.
Auszug aus dem Nachwort von Andrea Grill zum Gedichtband „Die Stadt der Äpfel“