Nachwort der Dichter

Für Friederike Mayröcker! Ruth Johanna Benrath | Judith Nika Pfeifer | Herbert J. Wimmer

Im vergangenen Jahr, am 4. Juni 2021, ist Friederike Mayröcker im Alter von 96 Jahren in Wien verstorben. Den vielleicht schönsten Nachruf hat sie selbst verfasst: „Mein Leben war zu kurz für meinen Lebenstraum“, so schrieb sie es in ihrem Buch „Scardanelli“. „Ich lebe ich schreibe“, das war für eine der wohl bedeutendsten österreichischen Schriftstellerinnen ein einziger Atemzug, ein einziger Schriftzug.
Beim Dichten „auf der Honigspur“ kannte ihre poetische Welt keine Grenzen. Sie hat aus ihrer Welt herausgeschrieben, sich unentwegt verblüht, sich Wort wörtlich verzettelt, sanftmütig und magisch zugleich. So hat Friederike Mayröcker auch das Schreiben von Ruth Johanna Benrath, Judith Nika Pfeifer und Herbert J. Wimmer geprägt. Sie schreiben, schreiben weiter und tragen so ihr Erbe in ihren Texten in die Gegenwart, indem die Formprinzipien ihres Schreibens – Witz, Poesie und Sprachspiel – weitergesponnen werden.
Der Abend als große Verbeugung vor Friederike Mayröcker lädt zu einem Text-Pingpong, welches das sprachspielerische, dialogische Element ihres Schreibens weiterdenkt, verfremdet und „spiegelt“.

Barbara Rauchenberger

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Friederike Mayröcker, bei der Ehrung zu ihrem Lebenswerk der Stiftung Bibel und Kultur im Grazer Minoritensaal, 2014

Clemens Nestroy

Ruth Johanna Benrath

FLIEGENDER HASE

Für Friederike Mayröcker

Sie sagt/ruft „Hase“ und dann
ist sie Hase, sie bittet um
Flügel und
dann flattert, schwebt sie,
reitet sie davon, hokuspokus
(Kennerinnenblick)
und wir hinterher

Und immer die Angst, dass
der Kopf wegkullert
dass, plumps, auf den Kopf
der Himmel
und ein Gott durch die Fontanelle hineinfährt
und durch mich hindurch und Löcher
hinterlässt
Heda, kannst ruhig reinkommen, aber geh dann
auch bitte wieder raus und verteile dich
aufs Weltgeschehen

Schlaf wird
wieder wichtiger und
ich möchte auch bitte nicht
so viel Schmerz empfinden
weil alles abbröckelt oder
abblättert oder Flecken/ Streifen bildet auf der
Haut wie phönizische Schrift
auf Pergament
Mit der Schnauze die Erde aufrauen
verlorenes Dehnungs-h,
es erschnuppern,
fasset Mut

oder
sich aus Trotz
über den Rand des Universums lehnen wie über
die Schreibmaschine,
mit ihr verwachsen, Hingabe an die Schwerkraft
Körperhaltung = Schreibhaltung
so sterben

Wo bist du jetzt?

Schreib weiter, sagt sie
bis zum Schluss
Hasenbabys
Vermehrung

und zum Schluss ein
Komma,

zurück

Montag, 23. Mai 2022, 19.00 Uhr
KULTUM [Im Cubus], Mariahilferplatz 3/I, Graz
EINFÜHRUNG: Barbara Rauchenberger
Eintritt: € 8,–/5.–

Ruth Johanna Benrath
geboren 1966 in Heidelberg, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte und lebt heute als Prosa-, Lyrik-, Theater- und Hörspielautorin in Berlin. Sie veröffentlichte einen Lyrikband und zwei Romanen, zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist die musikalische Wortklangcollage in Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern. 2021 wurde ihr Hörspiel Blume Wolke Vogel Fisch (MDR 2021) zum Hörspiel des Monats gewählt und in diesem Jahr entstanden die Hörspiele PSALM/aus der tieffen (zum 500jährigen Jubiläum der Bibelübersetzung gesendet) ebenso wie Wie sich alles verdichtet in Blumen zum 175. Geburtstag von Max Liebermann.

Judith Nika Pfeifer
geboren 1975, aufgewachsen in Wien und Oberösterreich, ist Kommunikations- und Sprachwissenschaftlerin, schreibt Lyrik und Prosa, szenische und radiophone Texte. Zahlreiche Buchpublikationen, Preise und Auszeichnungen, zuletzt: Tucsonics, hochroth Wien/Berlin 2019 und 2021 das Kunstprojekt „What‘s the time?“, eine Ausstellung im fluc/Wien. Judith Nika Pfeifer lebt in Wien und Berlin.

Herbert J. Wimmer
geboren 1951 in Melk, lebt seit 1973 als Schriftsteller in Wien, publiziert Romane, experimentelle Texte, Gedichte, Essays, literaturwissenschaftliche Arbeiten und Hörspiele. Lebensfreundschaft mit Elfriede Gerstl. Seit 1979 zahlreiche Ausstellungen von Collagen, Zeichnungen und Fotografiezyklen. Seit 2014 Produktion von Text- und Tanzperformances, gemeinsam mit der Autorin, Malerin und Tänzerin Marion Steinfellner. Zahlreiche Preise und Veröffentlichungen, zuletzt: Schon Zeit im Kontinuum. 100 Gedichte (2021).

Für Friederike Mayröcker! Ruth Johanna Benrath | Judith Nika Pfeifer | Herbert J. Wimmer

Ruth Johanna Benrath

FLIEGENDER HASE

Für Friederike Mayröcker

Sie sagt/ruft „Hase“ und dann ist sie Hase, sie bittet um Flügel und dann flattert, schwebt sie, reitet sie davon, hokuspokus (Kennerinnenblick) und wir hinterher

Und immer die Angst, dass der Kopf wegkullert dass, plumps, auf den Kopf der Himmel und ein Gott durch die Fontanelle hineinfährt und durch mich hindurch und Löcher hinterlässt Heda, kannst ruhig reinkommen, aber geh dann auch bitte wieder raus und verteile dich aufs Weltgeschehen

Schlaf wird wieder wichtiger und ich möchte auch bitte nicht so viel Schmerz empfinden weil alles abbröckelt oder abblättert oder Flecken/ Streifen bildet auf der Haut wie phönizische Schrift auf Pergament Mit der Schnauze die Erde aufrauen verlorenes Dehnungs-h, es erschnuppern, fasset Mut

oder sich aus Trotz über den Rand des Universums lehnen wie über die Schreibmaschine, mit ihr verwachsen, Hingabe an die Schwerkraft Körperhaltung = Schreibhaltung so sterben